diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule

Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme

Als Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin hat Aslı Kışlal bereits mehrere Projekte im deutschsprachigen Raum mit dem Ziel realisiert, das Theater, von einem gemeinsamen Wir ausgehend, an unseren gesellschaftlichen Ist-Zustand anzunähern. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang in Österreich, die Verortung des Theaters in unserer Gesellschaft und über das Wiener Projekt diverCITYLAB, das die Möglichkeit einer Professionalisierung im Theaterbereich jenseits von Zugangsbarrieren bieten soll.

 

Was bedeutet für dich „Kultur für alle“ und wie setzt du in deinen Projekten kulturelle Teilhabe um?

Dafür müssen wir zuerst die knifflige Frage stellen, was der Unterschied zwischen Kultur und Kunst ist. Ich persönlich positioniere mich eher so, dass Kultur für alle da ist. Das kann gar nicht anders sein. Jede Community, jede kleine oder große Gruppe hat ihre eigene Kultur. Ich setze mich eher für „Kunst für alle” ein und arbeite dahingehend. Kultur hat auch mit Traditionen und Konventionen zu tun. Kunst jedoch entsteht im Moment, spricht aber nicht für alle. Das ist genau der Punkt, an dem ich mich aktiv einzusetzen versuche.

Im Kunstbereich sprechen wir wirklich von einer minimalen Beteiligung der gesamten Bevölkerung. Ich mache in dieser Stadt [Wien] seit 30 Jahren Kunst, wobei diese in den letzten 20 Jahren eher politisch ist. Ich habe Entwicklungsphasen der Kunst hier miterlebt und gesehen, wie binär alles war. Kunst wurde nur für ein bestimmtes Publikum gemacht. Es wurde nie die Frage gestellt, ob die Menschen, die nicht Teil dieses Publikums sind, die „anderen“, Kunst auch genießen können oder dürfen. Man ging immer davon aus, dass Kunst ohnehin Türe und Tore für alle offen hält und wer kommt, kommt. Aufgrund dieser Situation habe ich die Institutionen und Macher*innen immer wieder mit diesen Fragen konfrontiert: „Wie weit seid ihr wirklich offen?“ „Was heißt offen sein?“ „Wie viele Begegnungszonen für alle Bevölkerungsschichten bestehen tatsächlich, in dieser vermeintlichen Offenheit?“

Als ich 2004 das Stück Dirty Dishes mit über 30 jungen Schauspieler*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen auf der Bühne herausgebracht hatte, war es zu jener Zeit das erste Mal, dass das Publikum „solche Leute“*1 *(1) auf der Bühne sah. Die Premiere war damals im Rahmen des „Schäxpir“-Theaterfestivals in Linz und später hatten wir Aufführungen in Wien. Das Theater war überfüllt! Es war Platz für ca. 100 Personen, wir mussten die Türen aber offen lassen, weil noch 50 Personen draußen standen. Und das war jeden Abend der Fall. Manche kamen mehrmals. Kinder oder Jugendliche, die das Stück gesehen hatten, wollten ihre Eltern oder Freund*innen mitnehmen. Noch einmal und noch einmal. Wir waren stolz, dass Leute, die noch nie im Theater gewesen waren, uns jetzt die Türen einrannten. Das Spannende an diesem Riesenerfolg war die Reaktion der Geldgeber*innen, als ich in entsprechenden Gremien davon erzählte. Von ihnen kam der nüchterne, man kann schon Vorwurf sagen: „Ja klar. Du arbeitest mit 30 Migrant*innen. Die haben riesige Familien, die sie alle bringen. Natürlich hast du dann so viele Leute.“ Daraufhin habe ich gefragt: „Und was ist da verkehrt dabei?” Für mich stellte sich nämlich die Frage, wieso bisher niemand auf die Idee gekommen war, so zu arbeiten. Gelten die Familienangehörigen der Akteur*innen nicht als Zuschauer*innen? Die Aussage war in sich so komisch. Plötzlich war das kein Theaterpublikum mehr, sondern es waren nur mehr Leute mit Verwandten auf der Bühne. Aber so beginnt man. Dann sind plötzlich auch „die anderen“ im Zuschauerraum präsent. Was ist da so verkehrt dabei?

Zum Glück haben sich die Zeiten diesbezüglich wirklich sehr geändert, insofern als sogar Staatstheater angefangen haben, Community-Work zu machen. Sie haben begonnen, mit dem Volk um sich herum zu arbeiten, es auf die Bühne zu bringen und neue Zugänge zu schaffen. Damit hat sich die Annahme, Kunst gehöre jemandem, ziemlich geändert. Diese Annahme stand ohnehin auf sehr wackeligen Beinen, weil es genau zu dieser Zeit viele Infragestellungen gab, inwiefern Kunst, die ohnehin nur eine kleine Nische bediene, überhaupt notwendig sei. Subventionen drohten gestrichen zu werden oder wurden gestrichen, und deshalb fingen auch große Institutionen an, sich selbst, ihre Arbeit und ihre Methoden infrage zu stellen. Auch, weil das Publikum im Laufe der Zeit weggeblieben ist. Sie mussten sich öffnen.

 

Foto: Jasmin Selen Heinz / Projekt: Zirkus Sardam im WerkX

 

Welche Entwicklungen spielten dabei eine Rolle?

Wir reden hier etwa von Anfang 2000. Besonders nach dem 11. September und den darauffolgenden Entwicklungen im deutschsprachigen Raum keimte die Integrationsfrage auf. Plötzlich versuchte die Politik, die Missstände, die sie über Jahrzehnte hindurch fabriziert hatte, über Kunst quasi auszubügeln und beauftragte die Künstler*innen und Einrichtungen damit, sich zu öffnen. Das Problem dabei war, dass diese Künstler*innen oder Institutionen bis zu jenem Zeitpunkt keine Berührungspunkte hatten mit den Personen, für die man sich öffnen sollte, und maßlos überfordert waren. Man hörte von ihrer Seite dann immer wieder: „Wir machen so viel, aber sie kommen einfach nicht.“ Ich kann mich erinnern, dass ich damals bei diversen Fortbildungsworkshops gefragt wurde: „Aslı, erzähl uns doch einmal, wie du das so machst.“ Es ist mir wirklich zweimal passiert, dass ich bei Workshops, für die ich bezahlt hatte, zur leitenden Person wurde und den Teilnehmer*innen erklärte, wie partizipative Arbeit funktioniert.

Jedenfalls hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren hinsichtlich des Kunstverständnisses viel verändert. Die Fragen, wem Kunst gehört, wer das Privileg hat, Kunst zu genießen oder wer für wen spricht, wurden sehr oft gestellt. Vielleicht zu spät für ein Gesellschaftsbild, das sich schon vor langer Zeit geändert hatte. Die Kunst – das muss man festhalten – hat sehr spät reagiert. Was Führungspositionen im Kunstbereich betrifft, bestehen diesbezüglich immer noch starke Abneigungen. Alleine, wenn wir uns die Frauenquoten anschauen und fragen, wie die Leitungspositionen in großen Theatern besetzt sind oder wer die Entscheidungsträger*innen sind, sehen wir, wie miserabel die Situation noch immer ist. Wie viele Autorinnen werden gespielt? Wie viel Budget haben Regisseurinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen in der gleichen Institution? In welchen Räumlichkeiten dürfen sie spielen? Es sind immer Nischen und kleine Räumlichkeiten. Experimentieren dürfen sie, aber die großen Stücke machen immer noch Männer. Wenn man dieser Frauenquote dann noch das Postmigrantische bzw. PoCs (People of Color) hinzufügt, tendiert Diversität gegen Null. Das ist sozusagen noch miserabler.

Hier sei nebenbei noch angemerkt, dass Dinge, die in der freien Szene entstehen, von staatlichen Institutionen selektiert und übernommen werden, sofern sie gut funktionieren. Das banalste Beispiel ist das Mikrofon auf der Bühne. Irgendwann war es in der freien Szene sehr üblich, Mikrofone auf der Bühne zu haben, und kurz danach sah man das auch in Staatstheatern. So ist es eben auch mit partizipativer Arbeit in großen Institutionen. Diese Arbeit läuft zwar noch immer auf der Kulturvermittlungsschiene und mit minimalen Mitteln, aber es ändert sich etwas.

Um es zusammenzufassen: „Kunst für alle“ erfordert, sich mit folgenden Fragen zu beschäftigen: Wer hat das Privileg, Kunst zu genießen? Wieso ist das ein Privileg? Wer hat das Recht dazu? Wer spricht für wen? In welcher Sprache? Wer schreibt für wen? Wenn sich jede Institution diese Fragen stellen und ehrliche Antworten dazu suchen würde, würde sich viel ändern.

 

Kannst du uns zu mehr zu deinem Werdegang als Theaterkünstlerin in Österreich erzählen?

Ich habe zuerst die Ausbildung zur Schauspielerin [in Wien] gemacht. Während dieser Zeit wurde ich das erste Mal damit konfrontiert, dass ich anders bin als die anderen, weil ich sozusagen die erste Ausländerin in der Institution war. Zum Glück gab es fortschrittlich denkende Lehrende, für die das kein Problem war. Sie haben mein Talent gesehen. Von anderen Lehrenden musste ich mir anhören, dass ich keine europäischen Bewegungen hätte, die Sprache nicht gut könne, eine schlechte Werbung für die Institution sein könnte und so weiter. Ich bin wirklich mit minimalen Deutschkenntnissen in die Ausbildung gegangen und wusste bis dahin nicht, dass es in der deutschen Sprache kurze und lange Vokale gibt. Ich sprach alles so aus, wie ich es vom Türkischen gewohnt bin und saß dann zwei Jahre im Sprechtechnikunterricht. Aber insgesamt haben meine Lehrenden erkannt, was sie mir geben mussten, damit ich auf der Bühne existieren kann. Ich muss sagen, dass das sehr mutige Leute waren, denn Anfang der 90er Jahre war das nicht selbstverständlich.

Trotz Ressentiments und Gegner*innen meines Daseins in der Schule haben mich also viele Lehrende unterstützt und ich habe die Ausbildung in zwei Jahren abgeschlossen. Dann haben sie mir gesagt: „Aslı, geh! Geh auf die Bühne! Gehe nach Deutschland, dort hast du mehr Chancen. Mache deine Karriere dort, weil dort sind sie offener.“ So war es dann auch. In Österreich hatte ich wahnsinnig viele Bewerbungen geschrieben, auf die ich eine einzige Einladung zu einem Bewerbungsgespräch erhielt. In Deutschland bekam ich für jede Bewerbung eine Einladung und es wurde deutlich, dass man dort, was etwa Besetzungsstrategien betraf, bereits fortschrittlicher dachte. So bin ich in Deutschland gelandet und habe jahrelang dort gespielt.

Mir war aber in der Ausbildung klargeworden, dass ich — unter Anführungszeichen — nicht „normal“ bin und die gewohnten Bilder nicht weitergebe bzw. abbilde. Mein Aussehen, meine Sprache und meine Bewegungen wurden als sehr exzentrisch, exotisch und „anders“ wahrgenommen. Dieses Erlebnis, mich an meinem eigenen Leibe plötzlich als verfremdet zu entdecken, hat mich mehr und mehr politisiert. Immer öfter habe ich die Fragen gestellt: „Warum?“ „Warum darf ich das nicht, wenn ich das Talent habe?“ „Ist es so anders?“ Ich habe mich aber nicht anders gefühlt. Es war immer nur die Reflexion von außen, also wie ich von anderen gesehen wurde. Ich nahm immer mehr die Missstände im Theater wahr, das ich davor vielleicht zu sehr idealisiert hatte. Theater war für mich zuvor fortschrittliche Kunst und ich begann, diese Vorstellung infrage zu stellen. Ich fragte mich, wie offen es wirklich ist, und begann, all meine Projekte vor dem Hintergrund dieser Frage umzusetzen. Deswegen ist mein Theater im Grunde sehr politisch.

Eigentlich ist diverCITYLAB als Verein eine Schauspiel- und Performance-Akademie. Für mich ist es aber ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Es geht darum, Sehgewohnheiten zu ändern, seinen Platz im System zu beanspruchen und sich zu behaupten. Wir wollen Missstände infrage stellen und durch unsere Anwesenheit Veränderung erzeugen.

 

Vor diverCITYLAB hattest du bereits andere große Projekte. Kannst du uns Einblicke darin geben?

Vor diverCITYLAB  hatte ich fast zehn Jahre lang das große Projekt daskunst. In diesem Ensemble, das sich aus 30 Personen von überall auf der Welt zusammensetzte, fragte ich die Leute nicht gezielt, woher sie kamen, weil mir das egal war. Wenn ich ein Talent gesehen habe, habe ich die jeweilige Person angesprochen. Es gab zum Beispiel Personen aus Österreich, Deutschland, der Demokratischen Republik Kongo, Griechenland, der Türkei und so weiter. Unter uns stellte sich nicht die Frage, wer warum hier ist. Wir gingen idealistisch an die Sache heran und unser Fokus lag auf dem Talent.

Trotzdem wurde daskunst aber immer als Migrantentheater bezeichnet. Manche nannten uns sogar „Aslı und ihre Türken“. Irgendwann wurden wir dieser unaufhörlichen Fremdbezeichnungen müde und beschlossen, eine Klausur nur dafür zu organisieren, uns selbst zu bezeichnen. Wir ließen zwei Tage lang unsere Köpfe rauchen, kamen allerdings zu keiner passenden Bezeichnung für uns, denn jegliche Bezeichnung führt zu einer Verengung, oder drückt einen Stempel auf. Das wollten wir dann auch nicht. Wir fragten: „Sind wir jetzt die Migrant*innen?“ Damals gab es die Bezeichnung PoC nicht, aber wir hatten Österreicher*innen und Deutsche dabei. Zum Schluss stand auf einem Zettel wirklich nur: „Wir machen gaaaaanz einfach Theater.“ Wir sind eine akkurate Abbildung der Gesellschaft und vertreten eine neue Form von Theatergruppen. Durch diese Geschichten kam es dann zur Projektreihe Postmigrantische Positionen, PIMP MY INTEGRATION.

 

Was denkst du zum Begriff „Postmigrantisches Theater“?

Das postmigrantische Theaterverständnis gab es zuerst in Deutschland und es hat sich im Laufe der Zeit auch in Österreich verbreitet. Der Begriff postmigrantisch wurde ursprünglich in US-amerikanischer Literatur verwendet. Der Soziologe Erol Yıldız hat ihn in einem anderen Kontext verwendet, und in Bezug auf das Theater hat ihn vor allem Shermin Langhoff etabliert. Ich persönlich sage nicht postmigrantisches Theater, sondern präferiere die Bezeichnung „Theater in einer postmigrantischen Realität“. Dann ändert sich nicht das Theater, sondern das Verständnis davon, vor allem in der Frage, wer die Akteur*innen sind. Das heißt, wenn das Theater eine Spiegelung der Gesellschaft, oder ein Zukunftswunsch der Gesellschaft sein soll, je nachdem wie man es nimmt, müssen wir von einer postmigrantischen Realität als Ist-Zustand ausgehen, worauf das Theater reagieren muss. Das ist mein Zugang dazu. Jedenfalls hatte das Wiener Kulturamt Ideen für die Installierung des Begriffs postmigrantisches Theater und wollte sich dabei am Berliner Theater Ballhaus Naunystraße orientieren. Wir erwiderten aber, dass jede Stadt ihre eigenen Kompetenzen, Wünsche und Abläufe hat und wir deshalb zuerst die Szene befragen müssen. Das Kulturamt zeigte sich sehr kooperativ und damit entstand PIMP MY INTEGRATION. Im Rahmen dieses Projekts haben wir gefragt, wie in Wien, Deutschland und allgemein im deutschsprachigen Raum der Ist-Zustand aussieht. Dieser Prozess wurde drei Monate lang durch EDUCULT in einer Studie*2 *(2) begleitet, wobei der Hauptfokus darauf lag, wer die Akteur*innen in Wien sind.

 

Wie sieht der Fokus auf Akteur*innen bei diverCITYLAB aus?

Wir haben gesehen, dass der Zugang zu Schauspielschulen und Konservatorien insgesamt enorm schwierig ist. Um die zahlreichen Zugangsbarrieren zu überwinden, brauchte es ein Projekt und deshalb gründeten wir diverCITYLAB, um die Professionellen selber auszubilden. Wissend, dass wir mit unserem minimalen Budget niemals mit einem Max Reinhardt Seminar konkurrieren können. Wissend, dass die Gegebenheiten unserer Studierenden ganz andere sind. Sie kämpfen mit zahlreichen Herausforderungen, vom Aufenthaltsstatus bis zur Arbeitserlaubnis. Zusätzlich besteht das Problem, dass sie nicht zur Schicht gehören, die als klassische Theaterschicht wahrgenommen wird. Wir müssen uns also fragen, wie viel Freiraum unsere Studierenden haben, sodass 18 bis 20 Stunden Unterricht in der Woche machbar sind. Wir versuchen deshalb, den Stundenplan bestmöglich in Absprache mit ihnen zu gestalten.

 

Wie ist diverCITYLAB strukturell aufgebaut?

diverCITYLAB hat drei Säulen. Wir haben die Schauspiel- und Performance-Akademie, aber wir können nicht Schauspieler*innen ausbilden, für die es keine Regisseur*innen, Autor*innen oder Zuschauer*innen gibt. Daher haben wir auch ein Artist-in-Residence-Programm sowie Kulturvermittlungsprojekte. So versuchen wir, mit minimalen Mitteln das gesamte Gebilde um das Theater herum abzudecken.

In den letzten zwei Jahren ist das Artist-in-Residence-Programm ziemlich eingeschlafen, weil sich das Schauspielstudium ernsthaft weiterentwickelt und einen großen Teil der finanziellen Mittel in Anspruch genommen hat. Daher haben wir dieses Jahr beschlossen, keine neue Klasse zu öffnen, sondern das Artist-in-Residence-Programm wieder zu beleben. Im Februar spielte im Theater Nestroyhof / Hamakom unser Stipendiat Abdallah Shmelawi, der seit zehn Jahren kein Stück auf die Bühne bringen konnte, weil ihm die Zugänge, das Networking und die Infrastruktur fehlten. So entwickelte er sich zu einem One-Man-Performer und hatte jetzt seit Langem wieder das erste Mal die Chance, ein Stück zu inszenieren.

In Prinzip funktioniert diverCITYLAB deshalb, weil alle Involvierten sehr idealistisch sind. So können wir trotz minimaler Mittel eine Professionalisierung erzielen. Ich wollte aber nie, dass unsere Studierenden mit Studierenden konkurrieren, die 30 bis 40 Stunden in der Woche in einem Setting Unterricht genießen können, das jegliche Rahmenbedingungen zum Austoben bietet. Auf diese Weise würde ich anfangen, wieder eine Zweiklassengesellschaft zu produzieren. Talent ist nämlich ein Ding, aber gelerntes Handwerk ist etwas anderes und wird anderorts viel intensiver unterrichtet, als wir es jemals schaffen könnten. Das heißt, unsere Studierenden haben viel mehr Eigenverantwortung in ihrer Ausbildung. Sie haben aber auch einen politischen Zugang. Wir sensibilisieren sie stark dahingehend, dass sie auf die Klischees, gegen die sie draußen in der Welt kämpfen werden, vorbereitet sind. Wir sprechen viel darüber, wofür sie gebraucht werden und von welchen Projekten sie Anfragen bekommen könnten, weil sie so sind, wie sie sind. Auch thematisieren wir, wie viel Freiheit sie wirklich haben, um überall auftreten zu können. Aber es gibt diese Lücke bzw. Nische und wir wissen, dass sie sich mit ihrem Können und mit ihrer Argumentationsfähigkeit auf jeden Fall etablieren werden. Das sehen wir auch bei einigen unserer Absolvent*innen, die sich langsam in der Szene etablieren.

 

Wie sieht der Bereich der Kulturvermittlung aus?

Wir arbeiten mit verschiedenen Organisationen. In den letzten zwei Jahren hatten wir ein Projekt mit trafo.K und der Universität Wien in einer Schule im 23. Bezirk. Wir haben mit einer Unterstufen- und einer Oberstufenklasse an einem Projekt namens Making Democracy gearbeitet. Zuerst haben Kulturvermittler*innen mit den Schüler*innen zu Begrifflichkeiten gearbeitet, dann haben Künstler*innen mit ihnen Cartoons entworfen und am Ende haben wir mit all dem Wissen, das sie angesammelt haben, gemeinsam ein performatives Projekt entwickelt.

Weil unsere Studierenden ihre Ausbildung kostenlos erhalten, bin ich der Meinung, dass sie ihr Wissen in einem Kulturvermittlungsprojekt weitergeben sollten. Deshalb waren sie auch involviert. Ich hatte allerdings nicht bedacht, dass unsere Studierenden erst vor Kurzem aus dem System der Schule herausgekommen sind und noch immer sehr viele Verletzungen aus dieser Zeit mit sich herumtragen. Sie wieder in dieses System einzuschleusen und von ihnen auf Anhieb eine andere Haltung zu erwarten, war einen Tick komplizierter, als ich dachte. Sie haben sich wie die Schüler*innen gefühlt, die gezwungen werden, etwas zu erarbeiten. Das hat viele Diskussionen ausgelöst. Wir haben beispielweise gefragt: „Warum Schule?“ oder: „Was heißt ein freiwilliges Projekt für Schüler*innen?“ Insgesamt waren diese Diskussionen aber sehr fruchtbar und die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema als Prozess war schließlich wichtiger als das Ergebnis. Genau für solche Diskussionen bietet diverCITYLAB sehr viel Raum.

 

Solche Vermittlungsprojekte bergen ja auch die Gefahr von Defizitzuschreibungen. Die Wahrnehmung, dass man von oben herab einer defizitären Gruppe etwas geben muss, überwiegt oft. Wie gehst du damit um?

Diesen defizitären Gedanken beschreibt der Begriff Integration. Das ist eine in den 1970er Jahren entstandene Geschichte, die auf der Wahrnehmung basiert, dass es eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die eine Norm bildet. Wenn dann neue Personen dazukommen, sind sie in Bezug auf diese Norm quasi defizitär und diese Defizite müssen abgelegt werden. Zu Beginn dieser Zeit gab es keine Maßnahmen dazu, wie diese Dinge, die als defizitär gesehen werden, geändert werden konnten. Es musste beiläufig, nebenbei und unbewusst passieren. Auch heute noch gehen wir davon aus, dass Neugekommene Defizite haben, die sie ablegen müssen, damit sie sich in diese Gesellschaft integrieren und wir sie als Personen wahrnehmen können. Davor teilen wir sie in Gruppen auf, wie etwa „die Türken“ oder „die Araber“ und gehen davon aus, dass diese Gruppen sehr homogen sind. Ich persönlich gehe damit nicht um, weil ich dieses Wort aus meinen Konzepten und aus meinem Leben entfernt habe. Es geht nämlich nicht um eine Integration, sondern um ein gemeinsames “Wir”. Wir müssen uns fragen, wie wir dieses “Wir” definieren. Wir müssen den Ist-Zustand ermitteln und Zukunftswünsche formulieren, um dann Perspektiven dafür schaffen zu können.

Zum Beispiel heißt unser diesjähriges Kulturvermittlungsprojekt Medeas Töchter. Wir kollaborieren dabei mit Magdalena Chowaniec und dem Dschungel Wien. Wir arbeiten mit über 40 Frauen im Alter zwischen 14 und 50 und zeichnen eine gemeinsame, neue, weibliche, feministische Zukunft. Kürzlich hatten wir unser Casting. Wir haben es übrigens deshalb Casting genannt, weil meine Kolleg*innen gesagt haben, die Leute würden nicht kommen, wenn ich es Workshop nenne. Für mich war das so neokapitalistisch. Dann habe ich aber verstanden, dass es diese Wordings braucht, um die neue Generation zu animieren. Als wir nämlich Casting geschrieben haben, waren auf einmal 30 Personen da. Wir haben sie dann alle zum Recall am nächsten Tag eingeladen, woraufhin sie gestaunt haben: „Wie? Heißt das, wir sind alle gewählt worden?“ Ja, das war der Trick. Wir haben dann gesagt, dass wir mit ihnen zwei Tage lang inhaltlich und körperlich arbeiten werden und sie dann alle mitmachen können, wenn sie das wünschten. Niemand ist ausgeschlossen. Um aber niemanden auszuschließen, mussten wir sie zuerst holen und haben deshalb in die Trickkiste gegriffen und den Begriff Casting verwendet.

 

Was denkst du in Bezug auf die Förderpolitik auf Basis deiner Erfahrungen mit diverCITYLAB oder anderen Projekten?

Es ist unterschiedlich, da wir in den letzten sechs Jahren die Vierjahresförderung bekommen haben und deshalb nicht von einzelnen Töpfen abhängig waren. 2004 waren zum Beispiel ca. 500.000 Euro für die Ecke „Interkulturelles“ eingeplant, das Geld wurde aber nie ganz ausgegeben. Jetzt gibt es viele Neuerungen. In Wien hat sich die Situation ganz klar und explizit geändert, nachdem die Grünen in der Wiener Gemeindepolitik das Kulturressort übernommen und forciert haben. Damals entstanden SHIFT, kültüř gemma! oder diverCITYLAB. Jetzt gibt es KulturKatapult. Das ist eine neue Initiative, die vor allem Kunstvermittlungsprojekte für junge Leute unterstützt. Wir waren aber jahrelang in einer Bittsteller-Position. Die Politik hat nicht verstanden, dass die aufgeblasene Integration, die sie unbedingt von allen wollte, in der umgesetzten Form keinen Sinn macht. Auch war lange nicht klar, dass das Leben nicht nur aus Arbeit und einem Zuhause besteht, sondern der Mensch ein soziales Wesen ist. Und um soziale Wesen in der Gesellschaft ankommen zu lassen, braucht es eben auch andere Maßnahmen, als ihnen nur Arbeit, mit der sie Geld verdienen können, zu geben. Der Mensch existierte lange nur, wenn er arbeitete. Dann war er auch ein guter Ausländer. Das ist ein so unglaublich reduzierter, kapitalistischer Gedanke. Was den Menschen ausmacht, sein soziales Gefüge, die Kunst und Kultur wurden immer vergessen oder nur minimal wahrgenommen. Die Türken sollten Folklore machen, ihre Musik spielen oder kochen, und wir sollten sie ab und zu besuchen und bewundern, wie schön sie kochen oder bauchtanzen können. Man hat die Leute auch immer auf ein traditionelles Bild reduziert. Wir sind niemals von einem gemeinsamen Wir ausgegangen und deshalb kam es zu Nischen und Ghettoisierungen im Kunst- und Kulturbereich. Es hat lange gedauert, bis es in den Köpfen angekommen ist, dass die Leute nun hier sind und nicht mehr gehen. Das ist das neue Volk, die neue Klientel und das sind die neuen Wähler*innen. Sie sind die Masse, mit der die Politik zu arbeiten hat, die sie zu befriedigen hat und mit der sie eine gemeinsame Zukunft mit Perspektiven zu schaffen hat.

 

Zuletzt noch eine kurze Frage: Hast du Erfahrungen mit Salzburg?

Zu Salzburg habe ich eine interessante Geschichte. Anfang der 2000er Jahre gab es in Wien eine großartige Breakdancer Szene, mit der wir oft gearbeitet haben. Sie wollte sich entwickeln und wir haben – Theater, Tanz und Urban Dance zusammenbringend – öfter um Projekte angesucht, die aber nie Gehör gefunden haben. Daraufhin hat ein Mäzen die Gruppe nach Salzburg eingeladen und ein bisschen Infrastruktur geschaffen. So sind die guten Urban Dancer alle von Wien nach Salzburg gegangen. Dort haben sie großartige Projekte entwickelt. So ist Hip Hop goes Theatre im Salzburger Landestheater entstanden. Diese Projekte, die hier nie Gehör gefunden haben, wurden in großen Festivals von London bis Los Angeles, Australien, überall gespielt. Salzburg war plötzlich so fruchtbar. Urban Dance hat sich theatralisch und konzeptuell entwickelt, und das sind jetzt großartige Künstler*innen, die in ganz Österreich ihre Statements abgeben und Zeichen setzen. Das erste Mal, als diese Gruppe aus Salzburg zurück nach Wien kam, gab es eine großartige Produktion. Das Volkstheater hatte, glaube ich, bis dahin nie so ein tobendes und lebendiges Publikum gesehen. Da dachte ich: „Das ist jetzt wirklich Volkstheater. Da tobt das Volk darin, hat Spaß und die Leute gehen saugerne ins Theater.“ Es wurde nämlich für sie, in ihrer Sprache und ihrem Verständnis gerecht werdend angeboten. Man muss aber aufpassen, denn gleichzeitig dürfen solche Produktionen keine Anbiederung sein. Das ist immer der schmale Grat, wenn ich für jemanden etwas mache. Es geht nicht darum, Sehgewohnheiten zu reproduzieren, sondern mit diesen in Kommunikation zu treten. Das ist dort passiert. Genau das versuchen wir auch in unseren Stücken.

Gemeint sind Personen, die nicht den klassischen weißen und bürgerlichen Vorstellungen von Theaterschaffenden entsprechen.

Dilara Akarçeşme, Aslı Kışlal ( 2020): diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/divercitylab/