„Behinderung ist kein fixes Konstrukt, sondern wird in unserer Gesellschaftsstruktur gemacht“

Elisabeth Magdlener ist Kulturwissenschaftlerin, Expertin, Vortragende, Workshopleiterin und Autorin im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Körperdiskurse. Außerdem ist sie Tänzerin und Mitglied der weltweiten Community-Tanzbewegung DanceAbility, eine Form der Kontaktimprovisation, des Bewegungsdialogs für alle Menschen, und von A.D.A.M. (Austrian Dance Art Movement). Elisabeth Magdlener kritisiert den Zwang zur Anpassung an die Norm, sowie Konkurrenz in den Künsten und plädiert für mehr Bewusstsein für gegenseitige Fürsorge und Wertschätzung.

Was soll Ihrer Meinung nach auf struktureller Ebene verändert werden, damit Institutionen diverser werden?

Ich denke, es ist wichtig, ein breiteres Bewusstsein für mehr Allianzen und die Bildung von Bündnissen für diverse Kunstschaffende zu etablieren. Begriffe wie Vielfalt, Diversität oder Inklusion haben viel mit Gleichberechtigung zu tun – bezogen immer auch auf gesellschaftliche Umgangsformen und -mechanismen. Ich finde es interessant, wenn man sich anschaut, wo der Begriff Inklusion herkommt. Er ist der von diversen aktivistischen Bewegungen avancierte Begriff, auch für die Praxis in der Kunst und Kultur. Der Begriff „integrativ“ ist heute nicht mehr zeitgemäß. Integration basiert auf dem Grundgedanken, dass es hier die eine und dort die andere homogene Gruppe gäbe. Integration beschäftigt sich mit der Frage, wie diese unterschiedlichen Personengruppen zusammengebracht werden können. Bei Integration geht es um eine Anpassung an die Norm. Tänzer:innen mit Behinderung müssen sich beispielsweise an die im Tanz existierende Norm und das Bewegungsrepertoire von Tanzschaffenden ohne Behinderung möglichst anpassen.

Ich finde den Ausgangspunkt der Inklusion wichtig, weil es darum geht, dass Menschen generell individuell und verschieden sind. Bei Inklusion geht es darum wie mit dieser Verschiedenheit umgegangen werden kann und wie unterschiedliche Fähigkeiten als Potenzial beispielsweise auch in Tanz und Performance genutzt werden können. Ich denke, es braucht viele Veränderungen im Kulturbetrieb, aber auch in der Politik, in der Gesellschaft, in der Kulturszene, an der Universität –Inklusion! sollte als ein Lebenskonzept verstanden werden. Es geht dabei nicht um „Normalität“ als Leitkategorie, an die sich alle anpassen müssen, sondern um die Anerkennung menschlicher Vielfalt und Individualität. Und wenn es dann gelingt, auf allen Ebenen auch Barrierefreiheit und neue Lehrmethoden zu schaffen, kann tatsächlich von einer neuen Qualität zwischen Menschen verschiedenster Befähigung, Geschlecht, sozialer und ethischer Herkunft und vielem mehr und von Inklusion, Vielfalt und Diversität gesprochen werden.

Was könnte D/Arts Ihrer Meinung nach bewirken?

Ein solches Bewusstsein zu verbreiten. Ich denke, Diversität wird oft mit einem Integrationsgedanken verwechselt, bei dem sich alle anpassen müssen, in dem alle demjenigen entsprechen müssen, was als Norm angesehen wird. Diese Umsetzung ist schwierig und problematisch, denn Vielfalt, Diversität und Inklusion bedeutet eben nicht Anpassung.

Welche konkreten Maßnahmen brauchen wir, um den Kulturbetrieb diverser und gerechter zu machen? Welche Akteur:innen brauchen wir und wo genau muss man etwas verändern?

Ich glaube, es braucht wirklich eine gesellschaftliche Veränderung, die zur Folge hat, dass wir alle aufeinander Rücksicht nehmen. Die Politik ist natürlich wichtig, aber es geht einfach um ein Bewusstsein, um die Einstellung im Allgemeinen, um etwas in den Köpfen der Menschen zu ändern. Aber auch die Kulturszene. Die Gesellschaft im Allgemeinen ist dafür verantwortlich …

Welche Rolle spielt Behinderung* auch in Hinblick auf Diversität im Kulturbetrieb?

Behinderung* ist oft sehr benachteiligend, gerade im Kunst- und Kulturbereich. Performer:innen mit Behinderung* haben es beispielsweise oft schwer, von Choreograph:innen überhaupt angenommen zu werden, auch mit einer sehr leichten Behinderung*. Für meine Forschungsarbeit habe ich vier professionelle Tänzer:innen mit Behinderung* in Wien interviewt. Ich zitiere hier eine der Tänzer:innen. Sie sagte: „Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung* haben nicht den gleichen Stellenwert, insbesondere was die Leistungsmessung betrifft. Die Bewertung eines perfekten Körpers und die Bilder eines perfekten Körpers sind noch immer die gängigen Wertmessungen, und das nicht nur im Tanz.“ Das Potenzial und die Fähigkeiten von Tänzer:innen mit Behinderungen* werden nicht wahrgenommen. Tänzer:innen mit schweren Behinderungen* werden nur selten oder oft gar nicht beschäftigt. Das allein ist schon eine Benachteiligung, wenn nicht das Können die Wertmessung ist, sondern die Behinderung* und wie stark sie ist. Natürlich ist es schwieriger, wenn jemand eine schwere Behinderung* hat, natürlich stellt es vor Herausforderungen, aber trotzdem sollte die Vielfalt und darin auch ihr Potenzial gesehen werden.

 Sie kritisieren den Begriff des „Funktionierens“, warum ist er Ihrer Meinung nach gefährlich?

In unserer Gesellschaft gibt es einen Zwang zum Fähig-Sein, dem alle Menschen entsprechen müssen, ob behindert* oder nicht. Aber niemand kann dies wirklich erfüllen, weil alle Menschen im Laufe ihres Lebens und immer wieder behindert sein oder werden können oder von Einschränkungen betroffen sind. Wenn sich eine Person den Fuß bricht oder Menschen schlicht und einfach alt werden, hat jeder Mensch bald mal auch eine Behinderung, aber das wird so nicht gesehen. Ein Mangel wird nur Menschen mit Behinderung zugeschrieben. Und gerade im Tanz ist der fähige Körper das Arbeitswerkzeug. Da geht es immer um Fähigkeit und diese Fähigkeit wird Behinderung gegenübergestellt und als was Besseres bewertet. Folglich haben nicht-behinderte Menschen mehr Macht in unserer Gesellschaft und ihre Erfahrungen gelten als allgemeingültig und als Wertmaßstab. Sie haben auch mehr Privilegien, die damit verbunden sind. Denn die Welt ist an ihre Bedürfnisse (besser) angepasst.

Können Sie vielleicht gute Beispiele in Hinblick auf Diversität und Gerechtigkeit im Kulturbetrieb nennen? Zum Beispiel DanceAbility?

DanceAbility ist eine Community-Tanzbewegung. Sie ist eine Form der Kontaktimprovisation für alle Menschen. Sie ist so konzipiert, dass alle Menschen, egal welche Behinderung*, welche Fähigkeiten, welches Alter, welche Geschlechtsidentität, welche Herkunft usw. teilhaben können. Es geht um ein künstlerisches Erforschen zwischen allen Menschen, um einen Bewegungsdialog.

Was kritisieren Sie an dem Begriff der Inklusion bzw. inklusiven Tanz?

Allein schon der Begriff des inklusiven Tanzes erweckt den Anschein, dass Exklusion nicht mehr existiere, und verhindert ein Sprechen über bestehende Exklusionsprozesse und deren Analyse. Das heißt ja nicht, dass beispielsweise bei DanceAbility alles nur gut ist. Ich finde, es sollte alles sehr differenziert betrachtet und der Prozess der Inklusion immer wieder hinterfragt werden. Inklusion ist kein festgelegter Prozess, der irgendwann einmal zu Ende ist. Ungerechtigkeit wird nicht beseitigt, wenn man davon ausgeht, dass alles längst inklusiv ist. Diesen kritischen Blick darauf, der ist immer wichtig. Behinderung* ist kein fixes Konstrukt, sondern etwas, dass in unserer Gesellschaftsstruktur gemacht wird, in der es immer um Fähigkeit geht. Und diese Fähigkeit wird für alle immer hergestellt, immer wieder aufs Neue. Eine Fähigkeit, der in Wahrheit niemand entsprechen kann, weil auch (professionelle) Tänzer:innen irgendwann älter werden.

Es ist besonders für Tänzer:innen mit Behinderungen* schwer, einen Ausbildungsplatz oder eine Weiterbildung zu bekommen. DanceAbility ist eine Art Grundbasis der Kontaktimprovisation …

Was soll Ihrer Meinung nach auf struktureller Ebene verändert werden, um die Kulturbetriebe diverser und gerechter zu machen?

Barrierefreie Gebäude sind das kleinste Brösel. Es geht um noch viel mehr, nämlich dass Veranstaltungen, Workshops und Fortbildungen auf mehreren Ebenen zugänglich gemacht werden. Die größten Barrieren sind in den Köpfen der Menschen. Ich wollte letztens Kampfkunst ausprobieren, wollte mir das mal anschauen. Warum auch nicht? Ich tanze schon jahrzehntelang – seit 2004. Ich hatte vorher angerufen, um mich zu erkundigen, wie es mit der Zugänglichkeit steht. Zuerst sagten sie mir, es gäbe eine Rampe, das wäre also kein Problem, schlussendlich scheiterte es an einer Stufe. Ich bin eine Person, die vielleicht länger braucht, um Bewegungen umzusetzen, aber dann kann ich es dafür besonders gut. Und werde dann oft von anderen als Beispiel oder Vorbild genommen. Aber dieses Bild, dass Menschen mit Behinderung* nicht fähig sind, Dinge, besonders Tanz oder Kampfkunst, zu machen, das ist in den Köpfen fest verankert.

Was kann D/Arts Ihrer Meinung nach im Idealfall bewirken?

Bewusstsein für verschiedene Menschen schaffen: Menschen mit Behinderung*, Kunstschaffende mit Behinderung* oder queere Kunstschaffende, People of Color etc. Man muss genau hinschauen, was alle wirklich brauchen. Benachteiligungen in unserer Gesellschaft sind vielfältig und nicht nur auf Behinderung* beschränkt. Privilegien müssten auf allen Ebenen und unter den verschiedensten Menschen geteilt werden. Ich finde ein Zitat von einer Kollegin so schön, die gesagt hat: „Inklusion funktioniert derzeit nur am untersten Layer. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderung* überhaupt dabei sein können, in Workshops reinkommen, in Ausbildungen reinkommen. Danach, auf der mittleren und oberen Ebene, geht es um echte Teilhabe und Einbringung. Am mittleren Layer funktioniert das schon ein bisschen, aber es bleibt noch viel zu tun.“

Haben Sie vielleicht Ergänzungen?

Ich denke, gerade im Tanz, braucht es mehr Allianzen und Bündnisse zwischen verschiedenen Personengruppen, zwischen professionell Tätigen  und Aktivist:innen, zwischen Männern* und Frauen*, Queers, People of Color, Schwarzen (und andere Menschen). Es braucht viel mehr Bewusstsein für Gemeinsames, um miteinander tätig zu sein in gegenseitiger Fürsorge und Wertschätzung, gerade beispielsweise im Tanz oder in der Kunst. Im Tanz oder in der Kunst geht es viel um Konkurrenz, um ein „Besser-Sein“. Es geht wenig um ein Miteinander und um ein Füreinander-Da-Sein. Ich finde, es ist wichtig, gerade in unserer kapitalistischen Gesellschaft, mehr aufeinander zu schauen und nicht nix zu tun.

Es braucht Veränderungen, ein politisches Umdenken und eine Umgestaltung unseres Denkens. Wir können uns fragen, ob das unrealistisch ist, aber keine Veränderung wird je passieren, wenn sie nicht zuerst in unseren Köpfen entsteht.

Auch in beruflicher Hinsicht ist Persönliche Assistenz (PA) zur Alltagsunterstützung von Menschen mit Behinderung* zentral wichtig. Es gibt eine derartige Pflegekrise, dass Menschen mit Behinderung* (fast) keine Persönlichen Assistent:innen mehr finden. Dafür gehört dringend einfach mehr Geld investiert, denn auch das spielt in den Kunst- und Kulturbetrieb hinein. Momentan wird Behinderung* aber aus der Pflegereform herausgenommen. Die Regelungen sind teils auch so absurd: Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Persönliche Assistenz im Alltag und auch nicht am Arbeitsplatz. Die Erfüllung der langjährigen politischen Forderung, dass künstlerische Tätigkeiten Arbeit sind und deshalb hierfür auch Assistenz am Arbeitsplatz finanziert werden soll, ist grundlegend. Künstlerische Tätigkeiten von Menschen mit Behinderungen* dürfen nicht länger als reines Hobby angesehen werden. Für freiberufliche Tätigkeiten bis zur Geringfügigkeitsgrenze oder darunter wird derzeit überhaupt keine Assistenz am Arbeitsplatz finanziert, wenn nicht regelmäßig über 20 Stunden in der Woche an (gut) bezahlter Tätigkeit nachgewiesen werden können.

Also die dringlichste Ebene wären dann die politische und gesetzliche?

Ja, gerade bei dem Thema Inklusion. Österreich hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen*schon seit Langem unterschrieben und gerade bei Inklusion geht es um einen rechtlich verbindlichen Ausgleich von Nachteilen, die (beispielsweise) durch eine Behinderung*entstanden sind, nicht um: „Wir sind arm und müssen auch integriert werden.“ Sondern um einen rechtlich verbindlichen Nachteilausgleich und einen Rechtsanspruch. Das wird viel zu wenig gesehen.

Aber nichts passiert in der Welt, wenn es nicht zuerst in unseren Köpfen existiert. Let’s Change Our Minds!

Elisabeth Magdlener, Ielizaveta Oliinyk ( 2022): „Behinderung ist kein fixes Konstrukt, sondern wird in unserer Gesellschaftsstruktur gemacht“. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/behinderung-ist-kein-fixes-konstrukt/