„Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“

Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül

„Ich liebe die Zeit des Verlernens. Alles, was wir bis jetzt gelernt haben, in Frage zu stellen. Alles, was Norm war, neu zu hinterfragen und genau hinzublicken, wie diese Norm entstanden ist, wie blind wir das oftmals akzeptiert haben und wie wir es heute verändern können“, erzählt die seit 1990 in Wien lebende Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin Aslı Kışlal. Seit nun mittlerweile acht Jahren ist sie die künstlerische Leiterin von diverCITYLAB, einem THEATER-, FILM- und PERFORMANCElabor oder, wie sie es auch gerne beschreibt, einem „kunstpolitischen Projekt getarnt als Schauspielakademie“. Im Gespräch mit Dilan Sengül, welche als ehemalige Studierende den ersten Jahrgang absolviert hat, erzählt sie, wieso die Akademie nun ‚gekillt‘ wird, welche positiven Entwicklungen es im Kunst-und Kulturbetrieb gab und welche Herausforderungen noch bevorstehen. Wie Veränderung gelingen kann, und was dafür unabdingbar ist, beschreibt sie ausgehend von eigenen Erfahrungen.

diverCITYLAB Produktion 2018: tent sweet tent © Olivia Mrzyglod

diverCITYLAB Produktion 2018: tent sweet tent © Olivia Mrzyglod

Was verstehst du unter dem Begriff der Diversität und auf welche Konzepte und theoretischen Bezüge greifst du in der Arbeit zurück?

Ich habe das Gefühl, dass sich jeder aus seinem eigenen Kontext heraus anders mit Diversität befasst. Mein Verständnis von Diversität ist geprägt durch einen postmigrantischen Zugang und das postmigrantische Konzept, in welchem nicht von einem ‚Wir und die Anderen‘, sondern von einem ‚Wir‘ als gesamtgesellschaftliches Konzept ausgegangen wird.

Wir tragen Diversität als diverCITYLAB bereits in unserem Namen, sind uns aber bewusst, dass wir nicht die gesamte Diversität unserer Gesellschaft abbilden können. Mir war es wichtig, da zu beginnen, wo ich eine Expertise mitbringe. Bei uns Arbeitende, Teilnehmende und Studierende bringen ein hohes Maß an Diversität in Bezug auf die ethnische Herkunft und Geschlechtervielfalt mit. Wir haben aber keine disabled Person in einer Leitungsposition und bilden somit, um nur ein Beispiel zu nennen, diesen Aspekt von Diversität nicht ab. Das haben wir noch nicht geschafft, sehen es jedoch als Notwendigkeit an, die verschiedenen Diversitäten unserer Gesellschaft zu thematisieren.

Das ist auch eine Kritik an mich. Bei diverCITYLAB sprechen wir von einer partiellen Diversität. Ziel ist es aber sehr wohl, die verschiedenen Diversitäten unserer Gesellschaft abzubilden. Mein Zugang ist dabei geprägt durch theoretische Ansätze, aber auch durch meine Befindlichkeit und meine Betroffenheit. Projekte kommen oftmals über die eigene Wahrnehmung, durch das eigene Erlebnis und durch das System, das man versucht zu öffnen, zustande. Da spielt immer die Frage der eigenen Möglichkeiten mit. Deshalb auch die Kritik – im Sinne von interner Kritik im Team – dahingehend, dass wir es schaffen müssen, andere Menschen anzusprechen und andere Diversitätskonzepte zu berücksichtigen. Aber ja, das Feld, in dem wir interagieren, ist bereits sehr groß und braucht so viel Kraft, dass wir es bis jetzt nicht schaffen konnten, uns noch mehr zu öffnen. Ich begrüße jegliche Konzepte von Diversität, die auch ihre eigene Betroffenheit zur Sprache bringen, und denke, dass es eine gegenseitige Unterstützung braucht. Dabei lerne ich jeden Tag aufs Neue, wo es noch fehlt, wie viele noch nicht mitbedacht sind oder nicht genannt werden. Das bricht die Norm, das „Normale“, das „Angenommene“, eben das, was bis jetzt gängig und akzeptiert war.

diverCITYLAB Produktion 2022: Escape Patriarchy © Anna de Carlo

diverCITYLAB Produktion 2022: Escape Patriarchy © Anna de Carlo

Was bedeutet Teilhabe in Kunst und Kultur für dich?

Kunst existiert für mich nicht für sich allein. Wenn andere Menschen sie nicht genießen können, dann ist sie eine Art Selbstbefriedigung und nicht für ein Publikum gemacht. Es gibt verschiedene Konzepte: Teilhabe heißt ja nicht nur das Betrachten oder Wahrnehmen als Zuschauer:in, was viele Teile der Gesellschaft gar nicht erleben können. Teilhabe bedeutet eben auch Mitgestaltung und Mitbestimmung. Dies kann rezipierend, zuschauend und agierend geschehen, und je nachdem braucht es andere Zugänge. Was wir mit diverCITYLAB versucht haben, ist ein Rollentausch, von der Rolle der Zuschauer:innen zu Agierenden. Teilhabe im Sinne davon, dass ich mitbestimme und -gestalte als Darsteller:in und Performer:in auf der Bühne oder aber auch als Konzeptentwickler:in, um somit ein Sprachrohr für ein Gebilde, eine Community zu werden und die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden.

Wir versuchen, jene Menschen, die üblicherweise in der Rolle der Zuschauer:innen sind, zu professionalisieren, so dass sie zu Agierenden werden. Dadurch erst wird sich das Rezipieren eines Kunstprojekts auch für andere Communitys öffnen. Wenn unterschiedliche Menschen auf den Bühnen sichtbar sind, werden auch unterschiedliche Menschen die Kunst betrachten. Also gilt es, Fragen in den Fokus zu stellen wie „Für wen wird die Kunst gemacht, wer macht die Kunst und mit wem?“ Es braucht diese Auseinandersetzung, wenn die Kunst sich für einen breiten Teil der Gesellschaft öffnen möchte.

Als immer mehr Kulturinstitutionen bewusst geworden ist, dass es eine Öffnung braucht, wurde die Frage nach der Publikumsschicht ins Zentrum gerückt, eben Fragen wie: „Warum kommen diese Leute nicht ins Theater und wie bringen wir sie ins Theater?“. Ich würde sagen, dass diese Fragen überhaupt Thema wurden, ist auf verkaufsstrategische Gründe zurückzuführen. Ich rede hier von der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren und bezogen auf Theater-Institutionen. Viele Institutionen haben relativ früh erkannt, dass den verschiedenen Communitys die Institutionen sehr fremd sind. Bei der Frage, wie Türen geöffnet werden können, war oft die Antwort, dass es Projekte und Workshops explizit für diese Communitys brauche, so dass sie mit den Institutionen in Berührung kommen.

Solch ein Zugang trennt jedoch in Positionen von ‚wir‘, die Anbietenden, und ‚die‘, die Konsumierenden. Auch ein Workshop ist eine Konsumation, wenn es keine Teilhabe in dem Sinne, dass ich mitgestalte oder mitentscheide, gibt. Die Konzepte, in welchen Mitgestaltung und Mitbestimmung mitgedacht werden, sind erst später hinzugekommen, weil immer mehr erkannt wurde, dass es nicht ausreichend sein kann, die Türen zu öffnen und zu sagen: „Kommt, wir machen einen Workshop nur für euch.“ Dieser Zugang offenbart einen Statusunterschied, und wenn man sich als Institution wirklich öffnen möchte, muss man diesen gap schließen.

diverCITYLAB Studierende 1.-2. Jahrgang 2016: © Selen Heinz

diverCITYLAB Studierende 1.-2. Jahrgang 2016 © Selen Heinz

Welche Rolle spielen deiner Meinung nach Klasse und soziale Herkunft in Hinblick auf Diversität im Kultursektor?

Ich kenne die aktuellen Zahlen nicht, aber vor zehn Jahren war die Diversität bei Theaterbesucher:innen sehr minimal. Es verändert sich jedoch etwas, und dabei spielen die vielen Projekte im öffentlichen Raum eine große Rolle. Auch Projekten wie WIENWOCHE kommt hier eine zentrale Rolle zu. Zudem verstehen die Institutionen immer mehr, dass es eine Öffnung braucht und gehen bewusst nach außen, zu den Menschen, in die diversen Räume, um sie zu erreichen. Hier sehe ich eine positive Veränderung, weil Kunst zuvor nur für eine sehr kleine Gesellschaftsschicht zu konsumieren war, nämlich eine akademische Schicht. Das ist nach wie vor so, aber auch die akademische Schicht verändert sich und mehr Menschen aus unterschiedlichen Klassen finden darin Eingang, auch wenn die Ungleichheit in der Bildung nach wie vor gegeben ist.

Ich denke, dass Menschen, die Bildung genossen haben, ein größeres Bedürfnis haben, sich mit Kunst zu beschäftigen. Sie haben einen anderen Zugang zu Kunst und Kultur. Es gibt jedoch sehr wohl Unterschiede, je nachdem über welchen Klassenhintergrund jemand verfügt und ob Zugang zu Kunst mit dem Bildungsaufstieg entsteht oder ob aufgrund der Klassenzugehörigkeit Zugang und eine gewisse Selbstverständlichkeit bereits immer da waren – also das Verfügen über Sprache, Codes und Verhaltenskodex, um sich anzupassen und zugehörig zu fühlen – oder ob dies noch zu lernen ist. Auch wenn es erlernbar wäre, muss das nicht bedeuten, dass das Gefühl der Zugehörigkeit zur akademischen Schicht und der Zugang zu Kunst somit vorhanden ist. Aber ja, prinzipiell denke ich, dass das Bedürfnis, Kunst und Kultur zu genießen, sehr stark mit der Frage zusammenhängt, ob Bildung genossen wurde.

Das kleine Gespenst von Otfried Preußler, Landestheater Niederösterreich 2021, Inszenierung: Aslı Kışlal © Alexi Pelekanos

Das kleine Gespenst von Otfried Preußler, Landestheater Niederösterreich 2021, Inszenierung: Aslı Kışlal © Alexi Pelekanos

Du arbeitest seit mehreren Jahren im Kunst – und Kulturbetrieb. Wenn du an die verschiedenen Arbeitszusammenhänge denkst, in denen du bisher warst, wo würdest du sagen, gab es Hürden und Diskriminierungen? Welche Maßnahmen fallen dir ein, die zu einer Verbesserung führen?

Inzwischen sind es schon mehrere Jahrzehnte – wir sind vom 20. ins 21. Jahrhundert gekommen, während ich in dem Bereich gearbeitet habe. Um positiv zu beginnen, ich denke auf alle Fälle, dass sich mit jedem Tag etwas verändert, mit jedem Projekt, das auf der Welt entsteht. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat sich auch ziemlich schnell viel verändert. Davor hatte ich das Gefühl einer Stagnation. Die Normen wurden nicht in Fragen gestellt, eher war die Kunst stolz darauf, nur eine bestimmte Schicht anzusprechen und für diese zu spielen. So wie es noch immer in den großen bürgerlichen Institutionen zu sehen ist, wo Designer-Klamotten getragen und mit Sekt in den Abend gefeiert wird. Dieses Bild der Kunst war ein sehr gängiges Bild, welches auch gepflegt wurde. So wie der Mythos über Schauspieler:innen und Künstler:innen als exzentrische, aneckende Personen. Und ja, da bin ich kritisch, es gibt diese Institutionen weiterhin, die dieses Bild pflegen. Da frage ich mich tatsächlich, ob die seit dem 19. Jahrhundert überhaupt mal auf der Straße waren. Von den Themen über die Kostüme und das Bühnenbild bis dahin, wie etwas dargestellt und für wen es dargestellt wird, sind manche Häuser ein eigener Kosmos, eine unglaubliche Bubble in sich.

Doch ist es für mich auch ein Fakt, dass, je früher man anfängt, Kunst zu genießen und die Sprache und Codes zu kennen, desto mehr ist es möglich zu reagieren, agieren und mitzugestalten. Deshalb finde ich es unglaublich wichtig, Kunst so früh wie möglich anzusetzen, so dass bereits Kinder davon profitieren. Denn das bedeutet Veränderung für die Zukunft der Kunst, mit ihren Mitgestalter:innen und ihrem Publikum. Nur so wird sich dieses gängige Bild, welches nur eine Schicht und die eigene Bubble ansprechen möchte, verändern. Deshalb ist es besonders wichtig, die Entwicklung der Kunst zu beobachten und genau zu analysieren, wer jetzt bereits mitmacht und wer noch immer nicht. Ich sehe da eine positive Entwicklung – die Kunst wird in Frage gestellt, der Status der Kunst wird in Frage gestellt und daraus resultieren viele Programme und Maßnahmen. Nur so verändert sich Kunst.

medea 2021 Inszenierung: Aslı Kışlal  © Tim Müller

medea 2021 Inszenierung: Aslı Kışlal  © Tim Müller

Aber um zu mir zurückzukommen, ich bin aus einer bürgerlichen Schicht nach Österreich gekommen, war jedoch ökonomisch betrachtet in einer miserablen Situation. Da ich bereits in frühen Jahren Kunst genießen durfte, war es für mich ein notwendiger Teil meines Lebens, dies auch weiterhin zu pflegen. Wenn ich 1000 Schilling im Monat zur Verfügung hatte, habe ich mindestens ein Fünftel davon für Kunst ausgegeben. Ich musste mich entscheiden, ob ich wieder Nudeln esse oder lieber ins Theater gehe, ob ich mir ein Buch, eine Schallplatte oder bessere Schuhe kaufe oder ob ich lieber mit schlechten Schuhen, aber dafür ins Theater gehe. Es war immer ein Abwägen und Kunst hatte in meinem Fall öfter die Oberhand, weil sie für mich eine Notwendigkeit war. Der Grund dafür war, dass ich bereits in jungen Jahren mit der Kunst in Verbindung kam und eben dieser Zugang da war. Als ich dann selbst angefangen habe, im Kunstbetrieb tätig zu werden – und ich sah mich intellektuell schon als sehr gut gerüstet an –, war ich auf einmal damit konfrontiert, dass ich den Codex hier nicht kenne. Das war plötzlich ein ganz neues Universum, das in sich sehr geschlossen war. Es kamen oft sehr bescheuerte Sätze wie ,,sie kann ihre Hände nicht bewegen, sie hat keine europäischen Bewegungen“. Das heißt, die Kunst, die hier rezipiert wurde, war eine andere Kunst als die, die ich anbieten konnte. Sprachlich wurde ich als defizitär eingeordnet, und meine Körpersprache war eben auch nicht jene, die sie gewohnt waren, auf der Bühne zu sehen. Wenn ich an dieses Verständnis von Kunst vor dreißig Jahren zurückdenke, sehe ich schon, dass wir weit gekommen sind. Damals war die Angst viel größer, die Abonnenten zu verlieren, wenn eine Migrantin auf der Bühne stand. So wurde mir gegenüber auch argumentiert. Heutzutage kann in dieser Form nicht mehr argumentiert werden; die Angst ist viel zu groß, als rassistisch benannt zu werden.

Das soll nicht bedeuten, dass wir bereits angekommen sind. Wir sind am Anfang, die Diskussionen haben erst jetzt begonnen. Diese führen natürlich in unterschiedlichen Ecken zu Panik. Denn es gibt jetzt neue Sprachen und einen anderen Codex, und die etablierten Institutionen haben Angst, da sie diesen Codex nicht beherrschen. Panik ist gut. Es bedeutet Entwicklung. Wir haben in diesem Gebilde dreißig Jahre lang mit Panik gelebt und versucht uns anzupassen, um die Institutionen zu verändern, und nun sind sie dran, diesen neuen Codex zu integrieren und den Panikzustand zu erleben. Es flößt Institutionen ja schon Angst ein, die Frage zu beantworten, wie viele Frauen in Leitungspositionen sind, da es ihren Ist-Zustand vor Augen führt und sie sagen müssen, dass Gleichberechtigung nicht stattfindet.

diverCITYLAB produktion 2017:  Community College © Maximilian Pramatarov

diverCITYLAB produktion 2017: Community College © Maximilian Pramatarov

Was müsste sich auf struktureller Ebene verändern, damit der Kunst-und Kulturbetrieb auch diverser und gerechter ist?

Viele Fragen werden weiterhin emotional behandelt. Es braucht mehr Fakten, also Studien und Daten, so dass Menschen, die von Ausschluss betroffen sind, nicht auf eine emotionale Geschichte reduziert werden. Nur mit Fakten kann klar argumentiert werden und politische Hebel können in Gang gesetzt werden. Dafür braucht es aber einen politischen Willen. Es ist ein politisches Spiel, und ich habe in den dreißig Jahren in meiner Arbeit gelernt, wie wichtig es ist, mit Fakten zu arbeiten, auch in dem Sinne, Fakten zu verlangen.

In meiner künstlerischen Arbeit ist mir der emotionale Zugang wichtiger, aber in meiner politischen Arbeit finde ich es besonders wichtig, bei den Fakten zu bleiben. In Deutschland sind vielen durch die gender reports die Augen geöffnet worden. Es sind die unterschiedlichen Gruppen von BPOC-Aktivist:innen, die die Missstände öffentlich gemacht haben. Das hatte einen Einfluss auf die verschiedenen Institutionen. Wenn du in Deutschland in einem Staatstheater als Mitarbeiter:in neu anfängst, musst du einen Vertrag unterschreiben, in dem du zur Kenntnis nimmst, dass jegliche Diskriminierung und sexuelle Überschreitung bestraft werden. Auch, um in Deutschland zu bleiben, ist das Projektbüro Diversity Arts Culture ein großartiges Beispiel. Es zu gründen, ist durch die jahrelange Hintergrundarbeit von BPOC-Aktivist:innen gelungen. Nun sind sie als Expert:innen sichtbar und in den Institutionen nicht nur beratend und begleitend tätig, sondern wirken in diese hinein und gestalten sie mit. Es braucht den Druck von unten, also Bottom-Up-Projekte und Initiativen, damit sich Institutionen bewegen und die Politik Maßnahmen umsetzen.

Das Problem mit der Kunst ist der Anspruch, dass die künstlerische Freiheit und Kunst frei sein müssen und Politik sich nicht in die Kunst einmischen darf. Das sind vollkommen richtige Ansätze. Aber wenn wir vom Kunstschaffen reden, reden wir oft nicht von Kunst, sondern von Institutionen, die Kunst betreiben. Diese Institutionen müssen sich an bestimmte Bestimmungen von den Menschenrechtskonventionen bis hin zu Diskriminierungsklauseln halten. Wir müssen uns schämen, dass es im 21. Jahrhundert immer noch einen gender pay gap gibt. Der postmigrantische Zugang und der feministische Kampf haben unglaubliche Parallelen. Aus den Erfahrungen des Feminismus zu lernen und sie in den postmigrantischen Kampf zu integrieren, ist aber nicht so leicht, denn die Gesellschaft ist bei solchen Veränderungen langsam. Diese Mini-Schritte müssen wir gehen, denn sie sind wichtig. Aber sie müssen schneller gesetzt werden, weil wir auch in einer schnelllebigen Zeit leben. Das macht natürlich noch mehr Panik. Wir reden mittlerweile über Cancel Culture und diese schnellen Entwicklungen, schüren in bestimmten Kreisen auch Angst.

Was ist deine Meinung zu den Debatten um Cancel Culture?

Ich liebe die Zeit des Verlernens. Alles, was wir bis jetzt gelernt haben, in Frage zu stellen. Alles was Norm war, neu zu hinterfragen und genau hinzublicken, wie diese Norm entstanden ist und wie blind wir das oftmals akzeptiert haben – und wie wir es heute verändern können. Ich bin nicht besonders radikal, aber ich bin gerne eine Beobachterin. Verbote stelle ich auf jeden Fall in Frage. Ich frage mich, welchen Nutzen dieses Verbot hat. Wie kann die Norm gebrochen, in Frage gestellt werden und wer hat Angst davor? Wer sind denn die Leute, die „Cancel Culture!“ schreien. Sind das diejenigen, die bis jetzt eigentlich immer alles sagen dürfen, ohne mit irgendwelchen Konsequenzen zu rechnen? Und wie kann man mit ihrer Angst vor Konsequenzen umgehen?

Wenn plötzlich von einer Seite eine Stimme kommt, die bis jetzt unterdrückt war, und du die Person bist, die diese Tonlage noch nie gehört hat, und dich das irritiert, ist das für mich als Künstler:in ein sehr spannender Moment – diese Irritationen, diese Panik. Diese Töne müssen wir lernen zu hören.

eine frau unterrichtet in einem hörsaal

© Trafo.K

Was aus deiner Arbeit bringst du bei D/Arts – Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog ein? Was ist deiner Meinung nach bei dem Projekt bisher besonders gut gelaufen und wo siehst du Herausforderungen, die D/Arts bevorstehen?

Ich war Teil der Policy Group, welche sich einige Male getroffen hat, um Gedanken dazu zu sammeln, welche Expertisen vorhanden und notwendig sind, um das Leitungsteam gut zu begleiten und das Profil zu schärfen. Die Idee, ein Diversitätsbüro zu installieren, war von Anfang an da und die Notwendigkeit wird uns in den Diskussionen rund um D/Arts auch immer stärker bewusst. Der Prozess, ein D/Netzwerk zu bilden, ist besonders gut gelaufen und birgt noch viel spannendes Potenzial in sich. Es ist notwendig, sich zu vernetzen und zusammenzuschließen. Die neue Qualität der aktivistischen Kunst ist, sich nicht als Konkurrenz, sondern komplementär zu verstehen. Eine der positiven Entwicklungen in den letzten Jahren ist, dass man sich gegenseitig stärkt und eine Stimme bildet, weil es so mühsam ist, in der eigenen Arbeit und in der eigenen Bubble mit seinen eigenen Kämpfen die Massen zu erreichen. Das an D/Arts Projektbüro auslagern zu können, finde ich sehr schön. Ich habe das Gefühl, dass, wenn D/Arts als Projektbüro wirklich umgesetzt wird, ich mehr Raum zum Aufatmen haben werde, weil es dann eine Stelle dafür gibt und ich mich mehr auf meine Kunst konzentrieren können werde.

Was soll denn D/Arts im Idealfall für den Kunst- und Kulturbereich bewirken?

Eine Veränderung im institutionellen Bereich. Da sind wir bereits zu spät dran. Die Gesellschaft hat sich verändert, aber die Institutionen noch nicht. Es wird Zeit, dass sie sich integrieren in die neue Gesellschaft und D/Arts muss die Kraft haben, eine Umsetzungsmacht zu erlangen, damit diese Bewegungen vorangetrieben werden. All die Maßnahmen, die wir auch von anderen Ländern kennen, um die Diversität unserer Gesellschaft mehr abbilden zu können, sollten auch bei uns ankommen. D/Arts muss sich etablieren, damit strukturelle Veränderungen vorangetrieben werden können.

Und bezogen auf das gesellschaftliche Zusammenleben, inwiefern kann D/Arts hier Veränderung bewirken?

Eine positive Veränderung, die sich schon beobachten lässt, ist, dass es langsam einen Gesichtswechsel in der Szene gibt, dass es eine neue Generation gibt, die sehr politisch und künstlerisch agiert, die das gesammelte Wissen von uns Älteren mitnimmt und weiterführt. Ich freue mich über dieses Handeln und weiß, dass ich davon viel lernen werde. Die Vielfalt ist im Vergleich zu früher unglaublich groß, denn viel mehr Communitys haben sich mittlerweile den Raum genommen. Der Jugoslawienkrieg hat in den 1990er Jahren viele Intellektuelle und Künstler:innen nach Österreich gebracht. Diese haben aber nicht die Chance gehabt ihren Job, ihre Profession auszuüben. Wir haben also im Grunde eine verlorene Generation von Intellektuellen, Künstler:innen, Macher:innen, die sich hier ganz anderen Gegebenheiten unterordnen mussten. Heutzutage ist es möglich, schneller in die unterschiedlichen Netzwerke reinzukommen. Es gibt viele Aktionen, Aktivitäten, Gruppierungen und Vereine, die diese neue Kraft, die nach Österreich kommt, schneller versucht in die Kunstszene zu integrieren. Natürlich finden nicht alle den Zugang in diese Netzwerke, aber mittlerweile gibt es mehr Chancen für Menschen, die neu ankommen.

Ich verstehe dich, betrachte es aber kritischer. Nach 2015 gab es einige Produktionen, in welchen geflüchtete Künstler:innen mitgewirkt haben. Thema war meistens Flucht und die eigene Fluchtbiografie. Einerseits wird dadurch ein Zugang zur Bühne geschaffen und somit eine Sichtbarkeit für die Künstler:innen, die sie brauchen, um ihre Arbeit fortzusetzen. Andererseits werden sie auf ihre Fluchtbiografie reduziert und nicht als Künstler:innen wahrgenommen, bedienen und reproduzieren somit auch Stereotype. Es sind tatsächlich immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund auf den Bühnen zu sehen, doch welche Rollen werden ihnen angeboten?

Es war eine Lücke, die die großen Institutionen gefunden haben, um sich die postmigrantische Fahne umzuhängen. Das ist noch nicht überwunden, was wir merken, wenn wir uns genau ansehen, welche Stücke auf den Bühnen gespielt werden, und hinterfragen, wer wieso welche Rolle spielt. Die freie Szene ist oft ein Experimentierfeld, von dem die Staatstheater und großen Institutionen das, was sich lohnt, in das Programm übernehmen.

Wir als diverCITYLAB werden uns in den nächsten vier Jahren noch einmal intensiv damit beschäftigen, wer wieso welche Rolle spielt, welche Rollenbilder auf der Bühne gezeigt werden und welche Bilder somit reproduziert werden. Das ist unser inhaltlicher Fokus und deshalb ‚killen‘ wir die diverCITYLAB-Akademie. Als wir vor acht Jahren mit unserer Arbeit begonnen haben, war es unsere Zukunftsvision, uns selbst abzuschaffen, da es quasi zu einer Norm geworden sein wird, dass sich die diversen Schauspielschulen öffnen. Das ist zum Teil passiert. Die Schulen haben von uns erfahren und auch Studierende abgeworben. Das heißt, diese Lücken wurden erkannt, gesellschaftsabbildend sind solche Entwicklungen aber noch nicht.

diverCITYLAB Produktion 2021: Love Me Tinder © Selen Heinz

diverCITYLAB Produktion 2021: Love Me Tinder © Selen Heinz

Menschen, die bei uns die Ausbildung mit einem Diplom abgeschlossen haben, haben in der Szene weiterhin zu kämpfen. Obwohl alle dieselbe Ausbildung genossen haben, ist es auch Fakt, dass die Menschen mit weniger „Migrationsmerkmalen“ – sei es der Name oder das Aussehen – schneller einen Job bekommen, und die anderen nur angefragt werden, wenn es um bestimmte Themen geht. Das bedeutet, dass ich so viele Menschen wie möglich ausbilden kann, aber so lange sich bei den entscheidenden Gremien, den Autor:innen, den Dramaturg:innen, den Regisseur:innen und Institutionen nicht das Verständnis von Diversität ändert, sich die Rollenaufteilung nicht ändern wird. Deshalb haben wir die bewusste Entscheidung getroffen, nicht noch mehr Leute auszubilden, sondern die Fragen nach Rollen und Rollenbildern, wie wir damit umgehen und unsere eigenen Projekte inszenieren, ins Zentrum zu stellen.

Wie nimmst du den Kulturstandort Salzburg in Bezug auf Diversität wahr? Was fällt dir zum Kunst-und Kulturbetrieb ein?

Um ehrlich zu sein, die Salzburger Festspiele und nicht viel mehr. Ich habe aber auch noch eine andere Verbindung zu Salzburg, denn als in den 1990er Jahren die Breakdancer aus meiner Theatergruppe ein eigenes Stück machen wollten, haben wir mehrere Male in Wien um Förderungen angesucht, wurden aber nie akzeptiert, weil Breakdance nicht als Kunst, sondern als Straßenkunst angesehen wurde. Aus Salzburg hat sich ein privater Mäzen bereit erklärt, Geld zur Verfügung zu stellen, und die Breakdance-Ausbilder sind von Wien nach Salzburg gegangen. Theater und große Salzburger Institutionen haben dann ihre Räume für Hip-Hop geöffnet haben und einer der wichtigsten Choreographen, Valentin Alfery, hat sich dort etabliert. Wien hat damals einen Fehler gemacht, wodurch die Breakdance-Szene hier geschwächt wurde, weil die Besten weggegangen sind.

Aslı Kışlal, Dilan Sengül ( 2022): „Wir müssen lernen, die ungehörten Stimmen zu hören“. Aslı Kışlal im Gespräch mit Dilan Sengül. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/wir-muessen-lernen-die-ungehoerten-stimmen-zu-hoeren/