Verstehen Sie Kunst?

Ausstellungseröffnung, Künstlerfrühstück, KuratorInnenführung, LehrerInnenführung, Dialogführung, Subjektivführung, Backstageführung, Familienführung, Führung für die Freunde des Kunsthauses durch den Direktor, „Einfach gesagt“ – eine Kooperation mit der Volkshochschule Bregenz, Kinderkunst, Workshop „Emilys Buchstabensuppe“, ART CRASH für Jugendliche, KUB + Kaffee und so fort – bis hin zum experimentellen Poetry Slam reichen die zahlreichen Angebote zur Ausstellung „Well and Truly“ von Roni Horn im Kunsthaus Bregenz.

Was aus dieser beträchtlichen Liste ersichtlich wird: Es gibt nicht nur keine Kunst ohne Öffentlichkeit, sondern auch (nahezu) keine Ausstellung ohne ein entsprechendes Vermittlungsprogramm. Denn auch wenn sich Kunstausstellungen primär über visuelle und räumliche Kommunikationspraktiken vermitteln, sind diese heute für gewöhnlich zusätzlich mit einem entsprechenden textlichen und personalen Vermittlungsapparat ausgestattet. Diversifikation und Kooperation lauten dabei die entscheidenden Schlagworte, wenn es darum geht, viele unterschiedliche Publikumsschichten durch zielgruppengenaues Agieren und die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen zu erreichen. Mit der Ausdifferenzierung des adressierten Publikums in diverse Teilöffentlichkeiten entspricht dies programmatisch auch einem veränderten Öffentlichkeitskonzept. Hieß der Schlachtruf in den 1970er-Jahren noch „Kultur für alle“, richten sich die Angebote heute verstärkt an spezifische Gruppen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Interessens- und auch Bildungshintergrunds und forcieren eine „Kultur mit allen“. Nach ihrer Institutionalisierung ist die Kunstvermittlung, wie es scheint, nicht nur mitten in der Kunst, sondern auch mitten in der Gesellschaft angekommen.

Allen Etablierungstendenzen der Vermittlung zum Trotz stellt sich in der Praxis der Kunstausstellung nach wie vor die Frage: Wie viel Vermittlung braucht – beziehungsweise wie viel Vermittlung verträgt – die Kunst? Über den Status des Kunstwerks lassen sich hier zwei Ideale aufzeigen: zum einen die Kunstausstellung als ein weitgehend autonomes ästhetisches Medium mit für sich selbst sprechenden Objekten, zum anderen die Ausstellung als Bildungsmedium, die sich über die kontextuelle Verortung der (Kunst-)Objekte verständlich macht. Carol Duncan (2001: 4)star (* 2 ) streicht in der institutionellen Verankerung die grundsätzliche Differenzierung zwischen einem „aesthetic museum“ und dem „educational model“ hervor. Innerhalb dieser Spannbreite finden sich in der aktuellen Kunstvermittlungspraxis fünf modellhafte Zugänge, die ich im Folgenden – nach der Darstellung der kommunikationstheoretischen Spezifik der Ausstellung – in einer Art Standortbestimmung zu charakterisieren suche.

Dekodieren als komplexe Herausforderung

Doch egal, ob Kunstwerke nun für sich alleine stehen oder mit einem Vermittlungswerkzeug verbunden sind, das Kunstwerk muss, um „gelesen“ zu werden, auf Seiten der BetrachterInnen erst dekodiert werden. Es präsentiert sich „als Dechiffrier-Aufforderung“ eines „Wissens- oder Erkenntnisdings“, das es in seiner Gestalt als fremdes Gegenüber noch zu entschlüsseln gilt (Korff 2005: 101).star (* 4 ) Genau diesen Akt der Entschlüsselung betrachtet Heiner Treinen (1996)star (* 11 ) jedoch als komplexe Herausforderung. Im Gegensatz zu Alltagsobjekten werden Objekte in der Ausstellung nämlich vornehmlich über ihre zeichenhaften Qualitäten erfasst und dabei als „Vergegenständlichung ideeller und intellektueller Bedeutungsfelder“ (ebd.: 62)star (* 11 ) wahrgenommen. Eine Dekodierung solcher symbolischer Objekte stellt folglich hohe Anforderungen an die Kompetenzen der BesucherInnen: Diese müssen erstens eine expressive oder anders gesagt eine hervorbringende Haltung zu den Objekten entwickeln, anstatt deren praktischen Nutzen zu ergründen; zweitens ihr analytisches Denkvermögen aktivieren, um die von den AusstellungsmacherInnen gemeinten Bedeutungen im Objekt erfassen zu können; drittens die über das isolierte Objekt der Ausstellung natürlicherweise fehlenden Kontextinformationen in einer mentalen Komplementierung ergänzen und viertens die Bedeutungsintentionen von AusstellungsmacherInnen auf der Präsentationsebene identifizieren, selbst wenn diese möglicherweise gar nicht ihrer Sichtweise entsprechen. Aus diesen kommunikativen Vorgaben der Ausstellung schlussfolgert Treinen, dass „Aufgaben mit diesem hohen Komplexitätsgrad“ unlösbar sind, „sofern nicht kommunikative Situationen vorliegen oder produziert werden, in denen ein Austausch von Lösungsvorschlägen, von Hypothesen, Standpunkten und Vergewisserungen stattfinden kann“ (ebd. 63).star (* 11 )

Dementsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass in meiner Untersuchung BesucherInnen bei ihren Versuchen, die Kunstwerke und die Ausstellung zu entschlüsseln, nahezu durchgängig den Bedarf nach verständlichen Kommunikationssituationen offenbaren und bei Kritik an der Ausstellung Kontextinformation so vehement einfordern. Gerade die visuelle Kommunikation, wie sie in der Kunstausstellung dominiert, scheint aufgrund ihrer tendenziellen Deutungsoffenheit oft weitere Indizien zu benötigen, um für BesucherInnen verständlich zu werden. Und genau an dieser Stelle wird der Ruf nach Kunstvermittlung laut.

Kunstvermittlung zwischen konventioneller Dienstleitung und kritischer Praxis

Mit einer unmittelbaren BesucherInnenorientierung reagieren zahlreiche Institutionen auf diesen Ruf und offenbaren damit gleichsam den Wunsch nach sozialer Relevanz der Inhalte für die BesucherInnen wie ebenso die marketingtechnisch vorgegebene Notwendigkeit einer Steigerung der BesucherInnenzahlen. Doch exakt durch diesen dualen Anspruch wird die institutionelle Ambivalenz von Kunstvermittlung evident, so dass selbst eine bildungspolitisch engagierte Kunstvermittlung nicht vor der Vereinnahmung ihres kritischen Potenzials geschützt ist.

Auch das personale Vermittlungsprogramm der von mir untersuchten Ausstellungen spiegelt diese Ambivalenz der Kunstvermittlung wider. Kunstvermittlung verortet sich demnach nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis zwischen ihrem Status als Dienstleistung (im Sinne einer Befriedigung von KonsumentInnenbedürfnissen) und ästhetisch kultureller Bildung (im Sinne der Ermöglichung eines Auseinandersetzungsprozesses mit kulturellen Inhalten). Eine Systematisierung des untersuchten Vermittlungsangebots führte dabei zu fünf (idealtypischen) Anleitungsmodi bei der Beschäftigung mit Kunst. Die vorgefundenen Modelle umfassen „Input“, „assoziieren“, „(einfach) wahrnehmen“, „das besondere Erlebnis“ sowie „Reflexion“. Wie aber zeigen sich diese Zugänge in der konkreten Vermittlungspraxis? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Auseinandersetzung mit der Ausstellung und für die dabei stattfindenden Kommunikationsprozesse?

1. Input

Beim Modell „Input“ erhalten die BesucherInnen aufbereitete Informationen zur Ausstellung, die von biografischen Fakten bis zu kunsthistorischen Verweisen reichen können. Damit lassen sich vor allem Führungen als typische Methodik der Kunstvermittlung fassen, welche in ihrer Durchführung von eher frontal bis eher dialogisch variieren. Wie schon der eingehenden Auflistung zu entnehmen, gibt es gerade im Kunsthaus Bregenz eine Reihe von Führungsformaten. Die LehrerInnenführung steht etwa für die eher frontalere Wissensvermittlung. Der damalige Leiter der Vermittlung, Winfried Nußbaummüller, erläutert: „Da kommen die Lehrer, weil sie wissen, sie kriegen mindestens eine Stunde lang einfach eine sachlich fundierte Komprimation der Welt von Roni Horn“ (P18: 175).star (* 7 ) Die Dialogführung wiederum bricht die frontale Situation auf, indem sie von zwei Personen gemeinsam durchgeführt wird, die sich in einem Gespräch vor den BesucherInnen über ihre Sichtweisen austauschen.

Grundsätzliche Einigkeit herrscht bei allen VermittlerInnen, dass selbst die frontale Informationsvermittlung nicht in einer zu starren Form passieren sollte. Es gilt einen reinen Wissenstransfer, das heißt die Weitergabe von Wissen von einem autorisierten Sprecher an eine anonyme Masse, möglichst zu vermeiden. Diesen Wunsch implementierte etwa die 6. Berlin Biennale bereits beim Namen ihres primären Vermittlungsformats, das sich gemäß einer Teilhabe auf Augenhöhe „moderierte Rundgänge“ anstatt Führung nennt. Genau an diesem Punkt zeigt sich jedoch ein Widerspruch zu den Bedürfnissen der BesucherInnen, die gerade bei Vermittlungsaktivitäten den faktischen Input schätzen, um mehr über Entstehungskontexte der Werke und Intentionen der AusstellungsmacherInnen zu erfahren. Dass hier nicht nur Neugierde und Wissensdrang, sondern auch der Wunsch nach kompaktem und abgesichertem Wissen mitschwingt, kann nicht geleugnet werden – auch wenn eine kritische Kunstvermittlung das Bedürfnis nach eindeutigen „Wahrheiten“ gerade nicht bedienen will. Bei Ausstellungen, in denen der Kontext eine wichtige Rolle spielt und sich dieser aber über die rein wahrzunehmende Ebene nicht erschließt, kann das Modell des Wissenstransfers – entgegen der eher negativen und hegemonialen Konnotation im aktuellen Kunstvermittlungsdiskurs – dennoch ein ermächtigendes Moment darstellen.

2. Assoziieren

Während beim Modell „Input“ die VermittlerInnen die entscheidenden (autorisierten) Sprechrollen haben, lockert sich dies beim Modell „assoziieren“. Hier sind die BesucherInnen nicht nur eingeladen, sondern in gewisser Weise auch aufgefordert, sich zu äußern und ihre Gedanken und Meinungen einzubringen. Typische Fragen, die dabei an die BesucherInnen gerichtet werden, sind jene nach sichtbaren Inhalten und subjektiven Deutungen des Kunstwerks. Ein Beispiel für dieses Modell findet sich etwa bei einer Veranstaltung der ARTgenossen, den KunstvermittlerInnen des Salzburger Kunstvereins. Als Auftakt ihrer Vermittlung der Ausstellung „Before Waiting Becomes Part of Your Life“ von Roman Ondák projizierten sie das Plakat, auf dem eine wartende Kleinfamilie abgebildet war, an die Wand. Danach ließen sie die Jugendlichen sich dahinter als zusätzliche Warteschlange aufstellen und befragten sie zu ihrem subjektiven Empfinden der Situation und ihren persönlichen Assoziationen zum Warten. Laut den VermitterInnen war es dabei wichtig, das Ganze vorab als Experiment zu deklarieren, um die TeilnehmerInnen auf eine Vermittlung fernab der Frontalführung einzustellen.

Mit der hier deutlich werdenden möglichen (und von Kindern bis zu Erwachsenen noch erheblich variierenden) Hemmschwelle, sich auf solche assoziativen Kommunikationsprozesse einzulassen, wird ein weiterer Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Vermittlung sichtbar. So steht dem Ideal der aktiven Teilnahme der BesucherInnen mitunter der Wunsch nach aufbereiteter Information und vermeintlich passiver und stiller Rezeption entgegen. Winfried Nußbaummüller stellt dahingehend fest: „Also, man kann zwar von Interaktivität oder solchen Sachen reden, aber das Bedürfnis bei den meisten Besuchern ist eigentlich so, dass sie still konsumieren möchten.“ (P18: 144)star (* 7 ) Während in der Kunstvermittlungssituation das Sprechen der BesucherInnen demnach oft nur zögerlich stattfindet, gilt dies jedoch nicht für individuelle Ausstellungsbesuche. Hier offenbart sich entgegen einem ruhigen Genießen der Kunst häufig ein reges Kommunikationsbedürfnis, wenn sich BesucherInnen bei ihrem Ausstellungsrundgang oft kontinuierlich über das soeben Rezipierte mit ihren Begleitungen unterhalten. Der Austausch mit anderen verstärkt, wie insbesondere George E. Hein (1998: 172ff.)star (* 3 ) in seinem konstruktivistischen Museum herausstreicht, die individuellen Bemühungen der Sinnproduktion insofern, als das Sprechen das Gesehene verbalisiert, Sichtweisen ausgetauscht werden und der Horizont der eigenen Deutung erweitert wird. In der Kunstvermittlungspraxis müssen jedoch oft erst entsprechende Situationen geschaffen werden, um BesucherInnen zum Sprechen zu bringen.

3. (Einfach) wahrnehmen

Ein konträrer Zugang spiegelt sich im Modell „(einfach) wahrnehmen“ wider, das sich vielleicht auch weniger als allgemeiner Vermittlungsansatz für Gruppen denn als ein Ansatzpunkt für die individuelle Kunstrezeption beschreiben lässt. Hier spielen Vorwissen, Verstand und Verbalisierung eine untergeordnete Rolle, während das körperliche, emotionale und atmosphärische Wahrnehmen im Vordergrund stehen. Susanne Krausender (P97: 44),star (* 9 ) die im Salzburger Kunstverein bereits seit mehr als 20 Jahren in der BesucherInneninformation arbeitet, meint etwa, dass sie das Sich-Einlassen der BesucherInnen auf die Ausstellungen im Salzburger Kunstverein als besonders wichtig empfindet. Skeptischen BesucherInnen empfiehlt sie, in die Ausstellung hineinzugehen ohne sofort zu versuchen, das Gezeigte zu verstehen und die Kunst einfach wahrzunehmen.

So steht das Modell „(einfach) wahrnehmen“ für eine unmittelbare und eventuell auch ungewohnt anti-intellektuelle Auseinandersetzung mit Kunst, die vielen Erwachsenen im Gegensatz zu Kindern oft gar nicht so leicht fällt. Verbinden lässt sich dieser Ansatz auch mit der „Ideologie“ der „ästhetischen Ausstellung“, bei der die möglichst unmittelbare Kunsterfahrung rein durch die Objekte geht. Mit einem solchen Zugang sympathisiert beispielsweise auch die Direktorin des Salzburger Kunstvereins Hemma Schmutz, wenn sie erläutert, dass sie „grundsätzlich die Ausstellungen nicht mit einem zu großen Apparat an Vermittlung, an Beschriftung, an Texten, die im Saal sind“ ausstattet und ergänzt: „Also diese Dinge sollten eher außerhalb des Ausstellungsraumes sein und wenn man drinnen ist, hast du wirklich nur die Arbeit möglichst pur und unmittelbar.“ (P95: 71)star (*8 ) Hier wird auf dem Vertrauen aufgebaut, dass bereits die ästhetischen Objekte (ohne Vermittlung) für sich sprechen. Peter Vergo (1989: 49)star (* 12 ) zeigt sich gemäß der Neuen Museologie aber skeptisch, da dieses Konzept nicht nur auf einem kohärenten gebildeten Blick aufbaut, sondern zudem die Tatsache negiert, dass es sehr wohl eines interpretativen Aufwands bedarf, um Objekte aussagekräftig zu machen. Denn: „Left to speak for themselves, they often say very little.“

4. Das besondere Erlebnis

Das Modell „das besondere Erlebnis“ bezieht sich auf Vermittlungsformate, die sich als außergewöhnliches Ereignis darstellen. Die Beurteilung als „besonders“ zeigt sich als abhängig von subjektiven Kriterien, kann jedoch auch einfach als relationales Vergleichsmaß zum üblichen Programm angesehen werden. Ein Beispiel ist etwa der ART CRASH im Kunsthaus Bregenz, der sich an die bislang wenig adressierten Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren richtet und versucht, für diese Zielgruppe immer etwas Spezielles zur Ausstellung anzubieten. Die Kunstvermittlerin Kirsten Helfrich erzählt etwa von einem Ausflug mit den Jugendlichen zur Künstlerin Alexandra Vogt. Diese lebt einer alten Molkerei in der Nähe von Memmingen mit 20 Pferden und genau an diesem Ort entstanden auch die Fotosujets für die Kunsthaus Bregenz Billboards im Sommer 2009 (P18: 155).star (* 7 )

So bietet „das besondere Erlebnis“ oft nicht nur die Möglichkeit, hinter die Kulissen zu blicken, indem KünstlerInnen kennen gelernt oder gar in ihrem Atelier besucht werden, sondern stellt etwa mit gemeinsamen Reisen auch ereignisreiche Zugänge zur Kunst her. Eine solche Kunstvermittlung in Form eines Events deckt sich naturgemäß häufig mit Marketinginteressen beziehungsweise sieht sich mit diesen konfrontiert, indem publikumswirksame Aktivitäten wie Vernissagen, Partys und VIP-Veranstaltungen für Sponsoren sich nahtlos in eine Logik des „besonderen Erlebnisses“ einreihen. Dass solche Veranstaltungen ebenso Zugänge zur Kunst eröffnen können, sei an dieser Stelle nicht abgesprochen, möglicherweise gewähren sie der Kunst selbst aber nur einen peripheren Status im Rahmen des Ereignisses. So zeigt etwa eine Studie der Universität Salzburg, dass die Kunst im Rahmen der Vernissage zugunsten einer Sichtbarmachung des Künstlers/der Künstlerin zurücktritt und sich die Veranstaltung gleichsam als Bühne für die BesucherInnen präsentiert. Insbesondere der Typus der „Prestige-BesucherInnen“ findet bei der Vernissage die größte Beglückung, da sowohl ihr Interesse an der Kunst, aber vor allem auch ihr Distinktions- und Lifestyle-Bedürfnis bedient wird (Bachleitner/Aschauer 2008).star (* 1 )

5. Reflexion

Das letzte Modell der „Reflexion“ verweist wiederum auf eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Diskursen der Ausstellung und ihren institutionellen Produktionsmechanismen. Insbesondere die 6. Berlin Biennale widmete sich diesem Zugang, indem sie das Anliegen der Ausstellung, eine kritische Wirklichkeitsbefragung von Seiten der Kunst zu setzen, auf das Vermittlungsprogramm übertrug. Neben dem klassischen Führungsprogramm erweiterten insbesondere die „Rückkopplungen“, eine Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung, und die Satellitenprojekte von Studierenden des Instituts für Kunst im Kontext den gesellschaftspolitischen Aktionsradius der Ausstellung. So gingen die „Rückkopplungen“ etwa konkret der Frage nach, was Kunstvermittlung beziehungsweise kulturelle Bildung gesellschaftlich leisten kann – und führten dazu zahlreiche Aktivitäten im Berliner Stadtteil Kreuzberg mit vor Ort bereits aktiven Initiativen durch. Ein Projekt aus dem Pool der Satellitenprojekte verschrieb sich hingegen der Selbstreflexion. Unter dem Titel „With Re-Guards“ nahm es die besondere Situation des Aufsichtspersonals unter die Lupe und befragte acht Guards zu ihrer Erfahrung in der Langzeitbetrachtung der Ausstellung. Der im Projekt erarbeitete Kommentar mündete zumeist in eine künstlerische Auseinandersetzung, da viele Aufsichten selbst KünstlerInnen sind und zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts auf Nebentätigkeiten angewiesen sind.

6. Berlin-Biennale. Foto: Luise Reitstätter

6. Berlin-Biennale. Foto: Luise Reitstätter

Doch obwohl Aufsichten häufig sehr Kunst-kompetent sind, sich kontinuierlich vor Ort aufhalten, in alle Prozesse der Pflege und Sicherheit der Ausstellung eingebunden sind und den Kontakt zu den BesucherInnen pflegen, werden sie nur allzu selten „gefragt“ und „gehört“. Philipp Wright (1989: 147f.)star (* 13 ) geht sogar so weit, die Aufsichten als große ungenützte Ressource des Museums zu bezeichnen („a museum’s single, most significant, wasted asset“). Eine kritische Kunstvermittlung, wie sie im Modell „Reflexion“ zum Tragen kommt, reflektiert im Gegensatz zu einem unhinterfragten Alltagsbetrieb ihre angewandten Formate und ihr alltägliches Handeln selbst stark. Gerade über die Integration wissenschaftlicher, künstlerischer wie politischer Praktiken und durch das Einnehmen kontroverser und herrschaftskritischer Positionen versucht sie innerhalb der Institution für eine reflexive Vermittlungspraxis Sorge zu tragen (Mörsch 2009: 20ff.).star (* 6 ) In diesen Rahmen reiht sich auch eine so genannte künstlerische Kunstvermittlung wie etwa beim Projekt „With Re-Guards“ ein. Im Sinne eines dritten Weges versteht sich künstlerische Kunstvermittlung weder als reine Serviceleistung noch ganz im Dienste des Kunstwerks, sondern als selbst hervorbringende, kreierende Tätigkeit (Maset 2006).star (* 5 )

Kunst weiter denken

Kunstvermittlung als Fortsetzung der Kunst zu denken, eröffnet insofern auch neue Spiel- und Handlungsräume für die BesucherInnen, als sie Kunst nunmehr nicht nur rezipieren, sondern als Ressource für eigenständiges Denken und Handeln begreifen und einsetzen können. Die oben beschriebenen idealtypischen Modelle der Kunstvermittlung verdeutlichen hierbei, dass die Annäherung an die Ausstellung auf verschiedenen Ebenen im Spielraum zwischen dem eher emotionalen Wahrnehmen und dem eher rationalen Wissen passieren kann.

Während das (einfach) Wahrnehmen als ästhetische Erfahrung von den BesucherInnen zumeist in der direkten Auseinandersetzung mit der Kunst gesucht und gefunden wird, kommt der direkten visuellen Information des Kunstwerks als Auskunftsquelle für die BesucherInnen beim Akt des Entschlüsselns eine geringe Rolle zu. Vielmehr wird der Wunsch nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung vornehmlich an Vermittlungsangebote herangetragen. An der personalen Kunstvermittlung schätzen BesucherInnen vor allem die Rolle von VermittlerInnen als anwesende und von der Institution autorisierte SprecherInnen, welche ihnen mittels Hintergrundinformationen konkretes Handwerkszeug für die Auseinandersetzung mit der Ausstellung anbieten. Das in der Kopräsenz geteilte Wissen erscheint für die BesucherInnen somit nicht nur greifbarer, sondern auch verlässlicher. Die Face-to-Face-Situation vermag dabei als „Urtypus jeglicher sozialen Interaktion“ somit jenes Vertrauen „für die koordinierte Sinngebung und Sinndeutung“ erwecken (Raab/Soeffner 2005: 169f.),star (* 10 ) um die Ausstellung als Zeichenspiel fassbarer zu machen.

Wem gehört die Bedeutung?

BesucherInnen betrachten Kunstvermittlung folglich als elementare Hilfestellung in ihrer Annäherung an die Kunst. Im positiven Sinne leisten diese Vermittlungselemente sozusagen emanzipatorische Hilfe, da BesucherInnen sich so in der Lage sehen, der Kunst kompetent entgegenzutreten. Allerdings offenbart sich hier meines Erachtens auch das Dilemma der Deutung, wenn BesucherInnen mit weniger Vorwissen ihre eigenen Interpretationen ohne Hilfsmittel möglicherweise als minderwertig betrachten oder erst über Hinweise der Vermittlung als legitimiert ansehen.

Die Frage nach der Bedeutungsmacht zeigt sich folglich als weit reichende gesellschaftspolitische Frage, über die verhandelt wird, welches Vorwissen in der Ausstellung gefragt und welcher Zugang zur Kunst mit symbolischem Kapital ausgestattet ist. Entgegen der herkömmlichen und auch gut gemeinten Vermittlungsdenkweise, die Leute dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, geht eine kritische Kultur- und Kunstvermittlung weiter. Aufbauend auf einem konstruktivistischen Verständnis von Lernprozessen nimmt sie bestenfalls jedes vorhandene Wissen ernst und sieht gleichzeitig auch die potenzielle Produktivität von Sprach- und Verstehenslücken gegeben (Mörsch 2009: 20f.).star (* 6 ) Die Bedeutung eines Kunstwerks ist somit keine fixierte Einheit, die in einer Art Dienstleistung von KunstvermittlerInnen näher gebracht wird. Kunst verstehen ist vielmehr eine Frage der individuellen wie kollektiven Auseinandersetzung.

 

 

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Bachleitner, Reinhard/Aschauer, Wolfgang (2008): Die Vernissage als soziales Phänomen. In: Bachleitner, Reinhard/Weichbold, Martin (Hg.): Kunst – Kultur – Öffentlichkeit. Salzburg und die zeitgenössische Kunst. Wien: Profil, S. 120–135.

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Duncan, Carol (2001): Civilizing rituals. Inside public art museums. London/New York: Routledge.

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Hein, George E. (1998): Learning in the museum. London/New York: Routledge.

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Maset, Pierangelo (2006): Fortsetzung Kunstvermittlung, in: Maset, Pierangelo/Reuter, Rebbekka/Steffel, Hagen (Hg.): Corporate Difference. Formate der Kunstvermittlung. Lüneburg: edition HYDE, S. 11–24.

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Mörsch, Carmen (2009): Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation, in: Mörsch, Carmen/Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Zürich: diaphanes, S. 9–33.

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P18: ExpertInneninterview mit Winfried Nußbaummüller und Kirsten Helfrich, Kunstvermittlung Kunsthaus Bregenz, am 2. Juni 2010.

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P95: ExpertInneninterview mit Hemma Schmutz, Direktorin Salzburger Kunstverein, am 3. Dezember 2010.

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P97: ExpertInneninterview mit Susanne Krausender, Besucherinformation Salzburger Kunstverein, am 7. Dezember 2010.

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Raab, Jürgen/Soeffner, Hans-Georg (2005): Körperlichkeit in Interaktionsbeziehungen. In: Schroer, Markus (Hg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 166–188.

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Treinen, Heiner (1996): Ausstellungen und Kommunikationstheorie. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Berlin: Argon, S. 60–71.

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Vergo, Peter (1989): The Reticent Object, in: Vergo, Peter (Hg.): The new museology. London: Reaktion Books, S. 41–59.

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Wright, Philip (1989): The Quality of Visitors’ Experiences in Art Museums. In: Vergo, Peter (Hg.): The new museology. London: Reaktion Books, S. 119–148.

Luise Reitstätter ( 2013): Verstehen Sie Kunst?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/verstehen-sie-kunst/