Berlin gibt Antworten, die Fragen aufwerfen …

„Wir sind eine Studentengruppe aus Salzburg, vom Studienschwerpunkt Wissenschaft und Kunst, haben alle einen unterschiedlichen Background und wollen in drei Tagen die kulturellen Hot Spots Berlins kennenlernen.“

In drei Tagen? Das Programm ist dicht und abwechslungsreich. Ständig prasseln Eindrücke, Bilder und Informationen auf mich ein. Gegensätze werden hier gelebt, bunt ist nicht nur die East Side Gallery und ich denke an den Kalenderspruch „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ beim Anblick des auf dem Treppengeländer aufgeklebten blauen M&Ms, das im Künstlerhaus Bethanien tatsächlich ein Kunstwerk darstellen soll.

Ich versuche die Gedanken in meinem Kopf zu ordnen und bin überwältigt von dieser Stadt, die an jeder Ecke neue Perspektiven öffnet.

Gegenüber vom Willy-Brandt-Haus hängen Fahnen. Darauf eine Hyäne, ein Panther, ein Affe. Der offene und direkte Blick der Tiere fasziniert mich. Darunter der blaue Schriftzug HAU. Werbung für den Zoo? Nein, sondern das Konzept des Theaters Hebbel am Ufer, kurz HAU genannt. Antwort der Mitarbeiter: „Das HAU möchte gewohnte Sehweisen in Frage stellen, die Perspektive verändern und anregen, anders auf die Dinge zu blicken“. Im Foyer wird ein Vortrag von Etel Adnan beworben: „Die Augen öffnen für das, was man sonst nicht sieht, die Ohren öffnen für das, was man sonst nicht hört, an Orte gehen, von denen man dachte, dass es sie nicht gibt.“ Klingt wie die Anleitung für unseren Berlin-Besuch.

Im HAU wird großer Wert darauf gelegt, junges Publikum für das Theater zu begeistern. Bei unserem Besuch dort begeben wir uns auf eine Schnitzeljagd nach QR-Codes – die interaktive Führung für Schulklassen! Die Kulturinstitution wird zum Lernort.

„A performing artist has to be an educator, too!“ (Simon Rattle) – so auch der Gedanke der nächsten Institution, die wir besuchen.

Da geht es vorbei an einer fünf Meter hohen Giraffe aus Legosteinen und hinein in die Berliner Philharmonie. Karajan war hier Hausherr, jetzt Simon Rattle. Assoziationen mit dem Inneren eines Schiffs sind gewollt – runde Fenster, Segel, Bug und Heck. Die Bühne ist im Zentrum, das Publikum sitzt rundherum. Auf den ersten Blick ungewöhnlich und doch so logisch: es ist die natürlichste Anordnung – bei jedem Straßenkünstler formiert sich das Publikum ganz selbstverständlich in einem Kreis. Frontalunterricht gibt es in der Kunst nicht!

Wir werden via Powerpoint über den neuen Claim des Education Programm der Berliner Philharmoniker informiert: „In Jedem steckt Musik!“ Der kleinste gemeinsame Nenner ist das Singen. Jeder Mensch singt irgendwann in seinem Leben. Wir erfahren weiters: „Kultur ist ein Grundbedürfnis jedes Menschen und soll kein Luxus sein!“ Aufgabe der Kulturvermittlung ist die Schaffung eines Zugangs zu Kultur. Besonders bei jenen Bevölkerungsgruppen, bei denen das Bedürfnis dazu nicht bzw. noch nicht sehr ausgeprägt ist.

Die Deutsche Bank finanziert das Education Programm der Berliner Philharmoniker zu 100 Prozent. Die Stiftung Deutsche Klassenlotterie fördert die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst. Wir besuchen diesen basisdemokratischen Kunstverein am Kottbusser Tor, der sich u. a. in einem aktuellen Projekt mit dem Phänomen des Nerd befasst. Gesellschaftspolitische Fragestellungen bilden den Schwerpunkt der Arbeit der NGBK. Frage an die Leiterin: Begibt man sich durch die Finanzierung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie nicht in eine Abhängigkeit? Wie kann man ein System kritisch betrachten, wenn der Geldgeber Teil dieses Systems ist? Karin Rebbert hat kein Problem damit. Sie sieht die Förderung als Teil der staatlichen Pflicht zur kulturellen Bildung. Kultur impliziere immer auch Kritik. Eine Kulturinstitution könne deshalb nie durch eine Sponsoringkooperation zahnlos werden. Zumindest sollte sie es nicht …

Wir verlassen die NGBK in Richtung Kottbusser Straße. Vorbei am Kottbusser Tor, einem der sozialen Brennpunkte der Stadt. Das von den Berlinern fast liebevoll genannte „Kotti“ wird im Reiseführer als Drogenumschlagplatz und Spielwiese von Jugendbanden beschrieben; als Ort mit dem höchsten Ausländeranteil Berlins. Verschiedene Hautfarben, Haarfarben und Kleidungsstile prägen das Treiben auf der Straße. Ich fühle mich plötzlich zu normal und provinziell.

Auffallend sind die schicken Latte-Macchiato-Bars mit hippem Publikum, die sich mit Döner, Kebab und Pizza die Häuserzeile teilen. Offensichtlich arbeitet man an einem Imagewechsel für den Kiez rund um das Kotti. Bei unserer Bustour am ersten Tag hatte unser Guide Thilo Ähnliches vom Prenzlauer Berg erzählt. Wo sich Rammstein noch vor nicht allzu langer Zeit im Kultclub Knaack ausgetobt haben, werden Luxuswohnungen gebaut und statt übernächtigem Partyvolk begegnet man jetzt am Sonntagmorgen gestylten Jungfamilien auf dem Weg zum gepflegten Brunch.

Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Friedrichshain im Umbruch. Im Künstlerhaus Bethanien wird uns ausführlich erzählt, welche Auswirkungen dieser Umbruch mit sich bringt. Schlagwort: Gentrifizierung! Im Gegensatz zu mir kennt Wikipedia das Wort: „ … ein aus der Stadtsoziologie kommender Begriff … beschreibt spezifische sozioökonomische Umstrukturierungsprozesse in städtischen Wohngebieten als ein Phänomen der sozialen Ungleichheit.“ Verwahrloste Stadtviertel wurden aufgrund ihrer Lage und Mietpreise besonders für Studierende und KünstlerInnen attraktiv. Hausbesetzungen waren normal und eine Subkultur entwickelte sich. Ursprung vieler KünstlerInnenhäuser war eine Hausbesetzung. Diese Stadtteile wurden durch die kulturelle Aktivität aufgewertet und attraktiv für Investoren, die Immobilien billig kauften und restaurierten. Die teuren Mieten werden nun von neuen BewohnerInnen bezahlt, die Bevölkerungsstruktur hat sich verändert und das ursprüngliche soziale Milieu ist verdrängt worden.

KünstlerInnen werden zunehmend, so Christoph Tannert, künstlerischer Leiter des Bethanien, von den sogenannten „Stadtteil-Guerilleros“ für diese, als negativ wahrgenommene, Entwicklung verantwortlich gemacht und buchstäblich gemobbt oder überhaupt an der Niederlassung gehindert. Auch das Künstlerhaus Bethanien musste deshalb übersiedeln. Wir hören vom Leiter dieses Atelierhauses von Bockwurstattacken auf das Heine-Denkmal und brennenden Kinderwägen als Signal gegen den Zuzug von Familien … Offensichtlich ist die Gentrifizierung ein zentrales Konfliktfeld in Berlin, das leider (auch) die Kreativität der Künstler und deren Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt.

Mit der U-Bahn zum Rosa-Luxemburg-Platz nach Berlin-Mitte. Aus dem ehemals armen Scheunenviertel ist schon lange ein attraktives Szeneviertel geworden. Wir sitzen im Gras vor der Volksbühne, einem wuchtigen Steingebäude. Ein Mitarbeiter von der Dramaturgie erzählt von Frank Castorf und Christoph Schlingensief, definiert die Projekte als „revolutionär, politisch, ästhetisch radikal und versuchend“ und betont die Wichtigkeit der direkten Auseinandersetzung von Kunst und Publikum. Ein Theater darf nicht nur Bühne sein, sondern auch ein Raum, um zu diskutieren und politische Fragen zu reflektieren. Im Gebäude hören wir die Eckdaten von Bau, Zerstörung und Wiedereröffnung der Volksbühne und erfahren von den Ideen und Umständen der Gründung: „Die Kunst dem Volke!“ hieß es schon bei der Gründung des Vereins der Freien Volksbühne 1885. Die Tickets hatten Einheitspreise und wurden vor Beginn der Aufführung verlost. Erste Reihe fußfrei oder eingeschränktes Sichtfeld? Zufall. Das wäre doch einmal eine Idee für die nächste Opernpremiere der Salzburger Festspiele …

Wir lassen einen traurigen Mitarbeiter zurück, der uns gerne noch stundenlang weitere Infos und Anekdoten von „seinem“ Haus erzählt hätte. Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen noch zum Abschluss zu den Uferstudios nach Wedding.

In Wedding herrscht türkisches Treiben. Hier gibt es keine Touristen und auch nicht die dazugehörenden Souvenirläden. Egal, ich kann auch am Flughafen noch Ampelmännchen-Gummibären als Mitbringsel kaufen. Oder ein Stück Mauer. Das Berlin von den Ansichtskarten haben wir nicht gesehen – dafür aber interessante Ansichten von Berlin.

In der Tanzfabrik schauen wir zwei Tänzern zu, die eine Stunde lang epileptische Anfälle auf Tomaten haben und eine Beziehung mit einem Baum mit erdigem Wurzelwerk eingehen. Verstehe nur ich den Sinn dahinter nicht oder gibt es vielleicht gar keinen?

Die drei Tage sind vorbei, alle Programmpunkte abgehakt: Musik, bildende Kunst, Theater, Tanz – viele Perspektiven.

Perspektive heißt ja eigentlich durch-sehen. Den Durchblick hab ich nicht, aber viele Fragen, die entstanden sind und bleiben:

Was ist Kunst für den Menschen? Und für mich? Ein Grundbedürfnis, Luxus oder eine „höhere Form der Zeitverschwendung“, wie es die Intendantin vom HAU formuliert?

Sind tatsächlich Kulturschaffende Auslöser für steigende Mietpreise?

Kann ein blaues M&M ein Kunstwerk sein?

Berlin gibt eben Antworten, die Fragen aufwerfen …

 

Claudia Schmidt-Hahn ( 2013): Berlin gibt Antworten, die Fragen aufwerfen …. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/berlin-gibt-antworten-die-fragen-aufwerfen/