Go Public mit WK.

„Aber was hat das jetzt mit Kunst zu tun?“ Und da ist sie auch schon, die Frage, die jedes Mal gestellt wird. Ich bin überrascht, dass sie diesmal schon so schnell kommt, ich habe doch gerade erst mit meinem Vortrag begonnen. Ich schau in die Runde, etwa zwanzig angehende Kulturmanagerinnen sitzen an diesem heißen Junitag in der kleinen Bibliothek unterm Dach. Fragende Gesichter.

WochenKlausur? Was ist das denn?

„Du musst wirklich ganz von vorn anfangen“, meinte Siglinde noch, als wir uns über den Ablauf meines Vortrages verständigten. Dass jetzt aber scheinbar niemand mit dem Namen etwas anfangen kann, damit habe ich dann doch nicht gerechnet. Und insgeheim habe ich gehofft, um diese ganze Kunstdiskussion mal einen Bogen machen zu können …

Also ganz von vorn

Wenn man die Arbeit von WochenKlausur (WK) beschreiben will, kann man das auf mehrere Arten tun. Je nachdem ob man von ihr als Künstlergruppe innerhalb des Kunstfeldes sprechen möchte, oder von dem, was WK konkret macht. Wobei ja beides miteinander zusammenhängt.

Ich könnte über die Reputation im Kunstfeld einsteigen. Da wären die Teilnahme bei einer Venedig-Biennale im Portfolio und ein Auftritt in der Tate Modern. Ich könnte auch den Weg über die Umbruchphase der frühen Neunziger nehmen, der Zeit, in der WochenKlausur startete, und zwar mit ziemlichem Wirbel. Erstes Projekt und gleich ein Erfolg. Kunst, die eingreift, und zwar volle Breitseite. Nicht jedermanns Geschmack. Dürfen die das? Muss das sein? Offenbar schon. WochenKlausur ist nach wie vor am Ball.

Ich probiere es anders: Ein Team von KünstlerInnen geht raus in die Wirklichkeit und versucht dort innerhalb einer Frist von mehreren Wochen ein schwieriges Problem zu lösen. Von Holon, Israel, nach Kassel, nach New York, nach Kivalina, Alaska. So sah zum Beispiel das Jahresprogramm 2012 aus. Und angefangen hat das alles in Wien, 1993, mit „Louise“, einem medizinischen Versorgungsservice auf Rädern für Obdachlose. Mehreren KünstlerInnen war damals etwas gelungen, woran sich die Stadt Wien schon seit längerem, allerdings erfolglos, versucht hatte. „Aber ist das nicht eher Sozialarbeit?“, unterbricht eine Studentin, „was hat denn das mit Kunst zu tun?“ Klar, auf den ersten Blick kennt man sich nicht aus: Wie kriegt man einen Arztbus und Kunst unter einen Hut? Andererseits, was hat das mit Sozialarbeit zu tun? Joseph Beuys … erweiterter Kunstbegriff? Schon mal gehört? Ich sage das nicht laut. Und auch nicht, dass ich eigentlich gar nicht so Lust habe, über den Kunststatus von WK zu diskutieren, sondern darüber, wie sie das machen, was sie machen. Obwohl ich aus Forscherperspektive diese Kunstdiskussion hochspannend finde. Und an dieser Diskussion, das muss ich einfach einsehen, kommt man nicht vorbei. Denn der Kunststatus ist für die Arbeit von WochenKlausur von ganz entscheidender Bedeutung. Noch immer skeptische Gesichter. Eine ganz entscheidende Rolle spielen dabei die Kunstinstitutionen. Wenn die Geschichte stimmt, dann begann es genau genommen gar nicht mit „Louise“ sondern mit einer Einladung. Und die wiederum kam durch eine Ausstellungskritik zustande. Zusammengefasst: Der damalige Kunstkritiker, Wolfgang Zinggl, monierte die Wirkungslosigkeit der Kunst und gelangte daraufhin zur Möglichkeit, selbst tätig zu werden – in der Wiener Secession. Er suchte nach MitstreiterInnen, KünstlerInnen, gemeinsam ging es dann für elf Wochen in Klausur in das Ausstellungshaus und der Rest ist Geschichte. Weitere Einladungen von KuratorInnen folgten und aus einer einmalig gedachten Aktion formierte sich nach einiger Zeit ein Verein mit dem Namen WochenKlausur, der inzwischen um die dreißig Projekte im In- und Ausland verzeichnet. Eine feststehende Gruppe, die seither von Ort zu Ort reist, gibt es allerdings nicht. Die Teilnehmerkonstellationen variieren von Klausur zu Klausur. Seit Anfang an dabei ist ausschließlich Wolfgang Zinggl, mittlerweile auch als Grüner Kulturpolitiker im Nationalrat. Als Einziger ist er bis heute an allen Klausurprojekten beteiligt, aktiv oder im Hintergrund. Er gilt als Gründer, gelegentlich wird er als Leiter von WK bezeichnet. Wie viel Gruppe steckt dann eigentlich in WochenKlausur? Wie kommt eine stabile Identität zustande? Was hält WK zusammen? An dieser Stelle genügt es zu wissen, dass ein Klausurprojekt stets mit einer Gruppe von Leuten stattfindet, die das als WochenKlausur machen. Und damit kommen wir auch zum entscheidenden Aspekt dieser Praxis. Zum erklärten Prinzip gehört, sich fremdaktivieren zu lassen. Und zwar durch Einladungen von Kunst- und Kulturinstitutionen. Das funktioniert seit zwanzig Jahren so. Ein zustimmendes Nicken geht durch die Runde. So schnell kann’s gehen, denke ich. Die institutionelle Autorität scheint also fürs Erste jene Frage, was die WochenKlausur mit Kunst zu tun hat, zu beantworten. Nicht beantwortet allerdings sind damit die Fragen: Wie läuft das eigentlich in der Praxis, wenn WochenKlausur, die sich das Lösen sozialer Probleme auf die Fahnen geschrieben hat, auf Einladung irgendwo auftaucht, um genau das zu tun? Welche Schwierigkeiten und Konflikte ergeben sich daraus? Und vor allem – gelingt das wirklich immer? Goldegg und Kassel, zwei Projekte, an denen ich selbst aktiv beteiligt war, bieten sich hier für einen Vergleich gut an.

Wie geht Klausur? Aus einem Projektprotokoll.

… 7:30. Lagebesprechung beim Frühstück, Tag vier: Wir brauchen schnellstmöglich einen Termin mit dem Bürgermeister … Die Jugendlichen sind an Bord, jetzt müssen alle wissen, woran sie sind. Können wir beginnen mit Planung und Einrichtung … Ist es noch zu früh, um anzurufen? Andererseits, wir sind ja auch schon wach …

… 8:00. Im Projektbüro: Wem gehört eigentlich dieser freistehende Rundturm vorm Schloss? … Der Kirche? … Wenn hier nichts vorangeht, dann verlieren die Jugendlichen schnell ihren Enthusiasmus und springen ab. Wir setzen uns noch mal mit H.K. zusammen (dem Leiter des Kulturvereins). Er will bei dem Gespräch mit dem Bürgermeister dabei sein (ich glaube, das hat damit zu tun, dass er grundsätzlich skeptisch ist und in alle Schritte eingeweiht sein möchte). Strategiebesprechung. WK Ziel: … die Gemeinde soll uns erlauben, gemeinsam mit den Jugendlichen den Turm herzurichten, um einen Probebetrieb zu starten – und das als Kunstprojekt zu verkaufen. Idee von Wolfgang.

… 17:00. Dienstzimmer des Bürgermeisters: Wir haben unser Konzept im Gepäck und einen schlichte 3D Animation. Innenansicht des neu gestalteten Turms. Mit Wandmalerei und Einrichtungsgegenständen … . „Schaffen Sie es, innerhalb von drei Stunden eine Präsentation vorzubereiten? Heute Abend trifft sich die Gemeinderatsvorstehung, und im Anschluss an die Sitzung könnten Sie vorsprechen …“

… 17:30. Projektbüro, Update für die KollegInnen, Aufgabenteilung: Eva, Sebastian und Peter schupfen den Workshop. Zwölf Mädchen und Jungen bilden kleine Grüppchen. Die hocken dicht gedrängt und durchstöbern Kataloge, Zeitschriften und Bücher nach Motiven für die Wandgestaltung, machen Kopien und hängen sie im Büro auf, einige sitzen an unserem Arbeitstisch und zeichnen gleich selbst. Vorne im Eck in der Einrichtungsabteilung werden Wunschlisten erstellt. Sofa, Kickertisch und Dartscheibe stehen ganz oben, die Sponsoringgruppe formuliert erste Briefentwürfe und sammelt Ideen, wo was herzukriegen wäre.

Claudia und ich gehen rüber ins Kaffeehaus. Das Konzept steht seit Ende April. Wir müssen es nur überzeugend präsentieren. Das 3D Modell soll auch am Abend helfen. Alkohol und Rauchen könnten ein Thema sein, wie funktioniert die Schlüsselübergabe, was ist mit den fehlenden Toiletten … auch auf die Kostenfrage sind wir vorbereitet.

… Kurz nach 21:00. Gemeinderatsamt: Ich bin total nervös. Ich hab das noch nie gemacht. Jetzt geht’s um alles. So fühl ich mich jedenfalls. Noch einmal tief durchatmen. Die Tür geht auf, man bittet uns herein …

Was tun. Goldegg 2009

Goldegg war meine erste Projektteilnahme. Ich kannte WK zwar vorher schon – aber nur vom Lesen und Hörensagen, aus Erzählungen. Keine Ahnung, wie so eine Klausur en détail abläuft. Als ich gefragt wurde, ob ich Lust hätte mitzumachen, WK suchte noch Leute, fühlte ich mich geehrt. Toll, WochenKlausur, internationale Anerkennung und so weiter … Gleichzeitig war ich aber auch unsicher. Kann ich das überhaupt? Ich wusste nur so viel – es würde um Jugendliche gehen, und Freizeitgestaltung. Damit hatte ich aber gar keine Erfahrung, nur die Erinnerung an meine eigene Jugendzeit. Außerdem kam ich mir nicht wie eine Künstlerin vor. Jahrelange Musikpraxis her oder hin. Aber die Neugier, was auszuprobieren, war doch groß. Hinzu kam, dass ich sowieso gerade ein bisschen Leerlauf hatte, zwar noch Studentin, aber keine Univerpflichtungen mehr. Blieb nur die wichtigste Frage: Mitzumachen würde bedeuten, dass ich vier Wochen lang nicht in Wien wäre. Möchte ich das meiner kleinen Tochter und mir zumuten? Und: Wie organisiere ich ihre Betreuung?

Ich lernte, dass ein Projekt nicht erst vor Ort beginnt, sondern eine längere Vorlaufzeit hat. Der Kulturverein hatte das Thema selbst vorgeschlagen; als ich damals einstieg, ging es quasi direkt auf Recherchereise. Rausfinden, was die Jugend von Goldegg denn gut gebrauchen könnte, woran es fehlt, was sie sich wünscht. Eine Einladung zu einem Treffen mit WK war bereits an alle Haushalte mit Kindern zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren rausgegangen. Und immerhin – rund zehn junge Leute, Jungs und Mädchen, aber mehr Jungs kamen dann auch tatsächlich Anfang April in den Schlosshof …

„Was tun“ wurde sinnigerweise der Titel eines Projektes, bei dem es darum ging, gemeinsam mit Jugendlichen etwas auf die Beine zu stellen, von dem sie selbst profitieren. Und das war nach mehrheitlichem Wunsch ein gemütlicher Treffpunkt.

Für die Realisierung dieses Wunsches standen nur vier Wochen zur Verfügung. Und ehrlich gesagt, ich konnte mir damals nicht vorstellen, wie das alles zu schaffen sein würde. Ein stimmiges Konzept musste entwickelt werden, das erledigten wir allerdings schon vorab, gleich im Anschluss an die Recherchereise. Die GemeindepolitikerInnen mussten für diese Idee gewonnen werden, die Jugendlichen sollten bei der Realisierung beteiligt werden, ein geeigneter Ort musste gefunden und eingerichtet werden. Ein Team von vier WK-Leuten war dafür im Dauereinsatz, zeitweilig unterstützt von drei weiteren projekterfahrenen KlausurmitarbeiterInnen. Vier Wochen lang Handwerken, Moderieren, Überzeugen, Beharrlichsein, dauernd kurzfristige Probleme lösen. Wie kommt der Tischfußballtisch von Salzburg nach Goldegg, wenn wir kein Auto haben, wie kriegt man ein riesiges Stück Kunstrasen auf eine zwanzig- Quadratmeter-Rundfläche geschnitten, woher kommt das Füllmaterial für die selbst genähten Sitzsäcke, woher die Stoffe, wer hat Zeit und Lust zu nähen, wo kann das stattfinden? Das WochenKlausur-Banner am Turm macht sich schon wieder selbstständig, wer geht schnell rauf und fixiert? Reißen wir den Fußboden im oberen Turmgeschoss einfach raus ohne zu fragen? Sind das jetzt wertvolle Wandmalereien, die durch die weiße Farbschicht durchscheinen? Bemalen wir mit Kreiden oder Buntstiften? Wie lösen wir das Problem der fehlenden Toiletten? Wie verhindern wir, dass die Jugendlichen ihren Turm mit anderen teilen müssen? Welcher Tischler schneidet gratis Holz zu? Im oberen Stockwerk fehlt noch ein Geländer, lässt sich das aus einer Vorhangstange zurechtbiegen? Kennt jemand einen Schlosser? Wie kommt eigentlich das Erwachsenenkommitee zustande? Wo gibt es Helfer, Unterstützer, wer kennt jemanden, der helfen oder unterstützen kann? Wer geht rüber ins Lokal und bittet zum x-ten Mal, den Internetanschluss zu reparieren?

Bürgermeister und Gemeinderäte ließen sich vor allem dadurch überzeugen, dass ihnen keine Kosten entstanden, WK versprach für sämtliche Renovierungs- und Einrichtungsaufwendungen zu sorgen. Die Jugendlichen über die ganze Zeit hindurch in die laufenden Arbeiten einzubinden, war nicht weniger wichtig und nicht weniger herausfordernd. Vertrauen gewinnen, Rücksicht auf schulische und anderweitige Verpflichtungen nehmen, aber immer wieder betonen, dass es nur mit ihrer Unterstützung möglich wird. Die Workshops an den Wochenenden gehörten ebenso dazu, wie das Signal: Ihr seid bei uns hier jederzeit willkommen. Immer wieder einladen, bei jeder Gelegenheit, ob im Einkaufsladen, oder unten beim See. Flugblätter verteilen, über die Gemeindepost nochmal eine Aussendung machen und nochmal einladen. Kontakt halten. Aber nicht aufdringlich sein. Den schüchternen Paul immer einbinden, ihm zeigen, dass er gebraucht wird. Getränke und Snacks vorrätig haben, unterstützen beim Nähen, Handwerken, Renovieren, beim Programmplanen, bei der Entwicklung der Hausordnung, aber wiederum auch nicht zu viel Unterstützung, dass sie sich nicht übergangen fühlen oder die Lust verlieren. Ermutigen, anregen, Dinge selbst zu entdecken. Erfahrungen aus anderen Klausurprojekten, bei denen es um Jugendliche ging, flossen mit ein. Ich hörte oft, das machen wir wie in Ottensheim. Oder das machen wir so wie bei den Schulklassen.

Pressebegleitung

Mediale Aufmerksamkeit war von Anfang an dabei. Die Salzburger Nachrichten hatten eine ganze Beilage für das Programm der Goldegger Dialoge, deren Teil das WochenKlausurprojekt war, reserviert, WK konnte diese Gelegenheit nutzen, noch im Vorfeld der Klausur das Thema Jugendtreff zu bewerben. Für das laufende Projekt war es von Vorteil, die Redakteurin einer regionalen Tageszeitung für einen kleinen Bericht zu gewinnen. Den wohlwollenden Artikel inklusive Fotos von den Aktivitäten rund um den Turm hatten dann viele im Ort gelesen. Und dann kam auch noch der ORF für ein Fernsehinterview, auf Initiative des Kulturvereins. Das freute den Bürgermeister, die Ankündigung eines Fernsehteams setzte bei der Gemeinde nochmal einige Unterstützungsenergien frei und für WK war es eine wichtige Gelegenheit, vor laufender Kamera zu betonen, wie wichtig es ist, Jugendlichen etwas zu zutrauen und ihnen Verantwortung zu übergeben. Eine Botschaft, die sich vor allem auch an den Kulturverein richtete, der sich ganz besonders gegen einen Jugendtreff in unmittelbarer Nachbarschaft sträubte.

Ich lernte, dass Klausur bedeutet, mit Informationen gewappnet ins Feld zu gehen und schon vorab eine Liste mit allen für das Projekt relevanten Leuten anzulegen. Namen und Kontakte von Jugendlichen, PolitikerInnen, Presse. Ich lernte, dass Klausur bedeutet, Teil von WK zu werden und zu einer Gruppe zusammenzuwachsen. Von jetzt auf gleich. Auch wenn man sich vorher kaum oder gar nicht kannte. Man spricht nur noch in der WIR-Form, natürlich auch wenn es um Projekte geht, bei denen man gar nicht dabei war. Man ist ununterbrochen im Team und steht fast ununterbrochen unter Zeitdruck. Der Tag beginnt mit gemeinsamem Frühstück in der gemeinsamen Unterkunft, jeder hat zum Glück sein eigenes Zimmer, und der Tag endet mit dem gemeinsamen Abendessen. Meist fiel ich völlig fertig in mein Bett. Aber war gleichzeitig froh, etwas geschafft zu haben.

Besprechungen am Morgen und am Abend gehören genauso dazu wie das Anlegen von To-do-Listen. Jeder Tag endet mit einer Liste für den darauf folgenden. Was steht an, kurz-, mittel- und langfristig, wer übernimmt was. Struktur ins Chaos bringen. Die Übersicht nicht verlieren. Claudia, WochenKlausur-erfahren hatte die Projektleitung und stand in permanentem Austausch mit Wolfgang, dem Gründer von WK. Ich lernte, dass das Projektbüro das Herz der Klausur ist, Rückzugsort, Strategieraum, Korrespondenzzentrum, Treffpunkt aber auch für alle, die was wissen wollen, neugierig sind, skeptisch oder kritisch. Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Ich lernte, dass es bei Klausur darauf ankommt, das Projektziel zu keinem Zeitpunkt aus den Augen zu verlieren. Und vor allem immer den Kalender im Blick zu haben. Ich lernte, wie man Widerstände überwinden kann. Menschen grundsätzlich höflich und mit Achtung begegnen, ihnen signalisieren, dass man ihre Bedürfnisse, auch Sorgen und Ängste ernst nimmt. Nicht die Arbeit mit Jugendlichen erwies sich für mich rückblickend als problematisch, sondern die Skepsis der Erwachsenen. Ich lernte, dass man sich trotz Einladung nicht willkommen fühlen kann, ich lernte, dass der Widerstand dort am größten war, wo sich Menschen offenbar direkt in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Ich lernte, dass das Arbeiten im Team und der Glauben an die Sinnhaftigkeit dessen, was man tut, tatsächlich Berge versetzen, beziehungsweise eine Abstellkammer von Mittelalterturm in einen voll funktionsfähigen super-lässigen Jugendtreff verwandeln kann. Und den gibt es auch heute noch, vier Jahre später. Allerdings, so teilte der amtierende Bürgermeister auf Anfrage mit, werde dieser nicht mehr so intensiv genutzt. Die Ursachen dafür liegen möglicherweise darin, dass die nachfolgende Generation einfach keine so starke Bindung an diesen Ort hat, weil sie ihn „nur“ übernommen hat.

Ein Gartenhaus und seine Folgen: Kassel 2012

Streng genommen hätte WK die Einladung gar nicht annehmen dürfen. Aber dann – documenta-Jahr, das Thema schien ja wie maßgeschneidert, endlich auch mal wieder eine große Klausur, in sechs Wochen lässt sich schon was anderes auf die Beine stellen als in drei … Geld spielte für diese Institution jedenfalls keine so große Rolle. Wenn schon Kunst, dann richtig … Wenn schon WochenKlausur, dann keine Gesprächsrunden, von denen es eh schon genug gibt, sondern handfeste Ergebnisse …

Ein Konzept wurde entwickelt, den potentiellen Gastgebern zur Begutachtung überlassen, das ist auch Usus bei jeder Klausur, und schlussendlich auf Basis dieses Konzeptes ein Vertrag abgeschlossen. Sechs Wochen in Kassel. Ziel: Zwei SozialarbeiterInnen sollen am Lutherplatz, einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“, wo sich drogen- und alkoholkranke Menschen treffen, Hilfe anbieten, für Konfliktreduktion sorgen und die Kommunikation zwischen allen Platznutzergruppen verbessern – eingeschlossen die MitarbeiterInnen des Stadtkirchenamtes, einer kirchlichen Erwachsenenbildungseinrichtung und der Lutherkirchengemeinde. Es ist ihr Platz. Die Kirche ist Grundeigentümerin und damit Hausherrin, wenn man so will.

„Die Kirche“ wünschte sich eigentlich einen Ort, wo Familien im Sommer picknicken, wo Boule gespielt wird, wo man vielleicht auch noch gut essen kann, eine kleine urbane Erholungsoase … Sie wünschte sich das, was ich mehrfach als „positives Leben“ formuliert gehört habe. Dass „diese Menschen“ auch irgendwo hinmüssen, auch einen Platz brauchen, das wurde gar nicht in Abrede gestellt. So ein Platz sollte nur möglichst außer Sicht- und Erlebnisweite liegen. An alldem schuld sei überhaupt die Stadt, so der Tenor, die mit ihrer konsequenten Vertreibungspolitik die Leute auf kirchliches Territorium gedrängt habe und die Kirche mit dem Schaden sitzen lässt. Seitens der Ordnungspolitik der Stadt schien man froh, dass es den Lutherplatz gibt, irgendwo müssen „diese Menschen“ ja hin (und wenn sie aus der Innenstadt raus sind, umso besser).

Als WK nach Kassel kam, war dieser Ort längst zum schlagzeilengenerierenden Dauerbrenner in der Lokalpresse avanciert. Zwei Initiativen des Bürgermeisters, die viel Geld kosteten, und das bei Ebbe in der kommunalen Kasse, wurden noch vor ihrer geplanten Realisierung in Grund und Boden kritisiert. Der Diskurs hatte sich destruktiv verkantet, und der Frustpegel lag bei allen Beteiligten hoch. Und mittendrin, im Abseits, all jene Leute, die mit ihrem Anblick das Stadtbild stören, die sich einen Platz wünschten, wo sie in Ruhe gelassen werden. Im Idealfall einen rechtsfreien Raum …

In diese komplexe Interessenslage tauchten wir ein. Zum Glück hatten wir uns vorab noch mit Leuten von der Suchthilfe Wien getroffen, wenigstens ein bisschen Rüstzeug mitnehmen. Vor Ort dann waren vor allem Diplomatie und Verhandlungsgeschick gefragt und ein dickes Fell. Erst mal die Lage sondieren. Hören, was alle Beteiligten zu sagen haben. Die Gruppe, wieder in neuer Zusammensetzung, tauschte sich permanent aus. So hatte ich das noch nicht erlebt. So viele Eindrücke, die man vor lauter Zielorientierung gar nicht verarbeiten kann. Ich konnte viele Sorgen verstehen und Ängste nachvollziehen, ich war aber auch schockiert über das, was ich hörte. Auch seitens der Kirche. Keine Sozialarbeiterin und keinePolitikerin zu sein und als „freie Künstlerin“ zu agieren, das mag sicherlich Vorteile haben, aber ich empfand den Druck, das hinzukriegen, sehr hoch. Hier hingen Menschen davon ab, dass „die Künstler“ nicht versagen, so kam es mir vor. Und wieder das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Unter Beobachtung zu stehen.

Das große Dilemma in Kassel: WK hatte eine Einladung der Evangelischen Kirche angenommen und sollte damit quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das Documenta-Rahmenprogramm der Kirche bedienen und „das Problem“ am Lutherplatz zu lösen. Dadurch aber fehlte der Gruppe der neutrale Boden, der Rückzugs- und Schutzort, den eine Kunstinstitution bieten kann. Man verstand uns als teilweise als Auftragnehmer, wir aber sahen uns frei – eine schwierige Situation, noch dazu wenn der „Auftraggeber“ etwas in Auftrag gegeben hatte, was wie sich dann vor Ort herausstellte gar nicht erwünscht schien. Das war die eine Front – die interne, die es zu knacken galt. Die andere bestand zwischen Stadt und Evangelischer Kirche, jedenfalls was den Lutherplatz betraf. Denn diese beiden Seiten mussten ins Boot, sollten die Finanzierung der Sozialarbeit gemeinsam übernehmen. So jedenfalls der Plan …

Öffentlichkeit als Strategie

Im Vergleich zu Goldegg war die Kassel-Klausur geradezu intransparent – und das fast bis zum Schluss. Selbst das Projektbüro, sonst immer öffentlich, befand sich diesmal hinter verschlossenen Türen. BesucherInnen, die zu uns ins Gemeindezentrum wollten – dort hatte man uns untergebracht –, mussten klingeln oder anrufen, um reinzukommen. Die ersten drei Wochen nutzten wir, um möglichst viele Gespräche zu führen und Informationen zu sammeln. Wer hat welche Bedürfnisse, wer und welche Gremien sind wofür zuständig, wer hat welche Interessen und Machtpositionen? Unsere große Sorge bestand vor allem darin, dass ein ungünstiger Presseartikel alle Bemühungen torpedieren könnte. Schließlich ging es um rund sechzigtausend Euro, die Stadt und Kirche pro Jahr gemeinsam aufwenden müssten. Aus diesem Grund vermieden wir in der ersten Phase jeden Pressekontakt. Nur ja aufpassen, dass nicht zu viel durchsickert – bei über hundert Einzelgesprächen, die wir führten, kaum kontrollierbar. In Gesprächen mit VertreterInnen von Stadt und Kirche Gutwetter machen, aufklären, für Verständnis werben, Sachkenntnis beweisen, leicht euphorisch unter Druck setzen, aber dennoch vorsichtig vorgehen. Dranbleiben. Nach dem Motto – jetzt ist das Eisen heiß, jetzt sind wir da und können als BotInnen, MediatorInnen, KonfliktschlichterInnen, VernetzerInnen fungieren. Aber wie frei kann eine Künstlergruppe agieren, wenn der Gastgeber sich direkten Nutzen verspricht, wenn sich „die Kirche“ eine Verbesserung ihrer Situation erhofft? Wie wird das wahrgenommen? Wie positionieren wir uns? Für wen machen wir das eigentlich? Diese Fragen diskutierten wir intern tagtäglich. „Vielleicht müssen Sie auch nochmal in eine ganz andere Richtung denken“, hieß es bei einem der Treffen mit KirchenvertreterInnen. Aber das kam gar nicht in Frage, die Klausur lief bereits und die Gruppe war auf Kurs. Ausgeschlossen, einen Platz zu finden, mit dem alle einverstanden waren, in sechs Wochen. Und außerdem wollten wir kein Verdrängungsprojekt machen. Letztlich war es so, dass sechs Wochen einfach nicht ausreichten. Und es endete nicht wie geplant mit zwei SozialarbeiterInnen, sondern mit einem rosaroten Gartenhaus. Strategisch auf dem Lutherplatz positioniert, mit dem Ziel, alle relevanten EntscheidungsträgerInnen an einen Tisch zu bekommen, Sichtbarkeit zu demonstrieren und einen fernsehkameratauglichen Eyecatcher zu bieten. Vier Tage lang kleine Gesprächsrunden. Unter vier Augen und ohne Publikum. Hier trafen Leute aufeinander, die mit der Problematik direkt zu tun hatten, inklusive Polizei, die aber noch nie direkt miteinander gesprochen hatten. Das von uns entwickelte Konzept für die Sozialarbeit lag allen Beteiligten vor, worüber sie sprachen, entschieden sie selbst. Nur die finale Entscheidungsträger-Runde wurde moderiert und stand ganz unter dem Zeichen einer Einigung zwischen Stadt und Kirche. Ich weiß nicht, was im Detail ausschlaggebend dafür war, dass sie alle zugesagt haben, sich für jeweils eine Stunde in dieses leuchtende Baumarkt-Ufo zu setzen, das manche PassantInnen schon für Vorboten der documenta hielten, andere für eine Wärmestube. Es war ein Riesen-Aufwand – organisatorisch wie handwerklich. Aber es hat funktioniert. Und alle Beteiligten erlebten nach eigener Auskunft diese Gespräche als Gewinn, wenn auch in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Die Tagespresse wiederum reagierte in gewohnter Weise mit Schlagzeilen. Die Projektkosten von dreißigtausend Euro waren ein kapitaler Aufreger. Das ganze Geld nur für eine Idee? Etwa zeitgleich wurde das Documenta-Ankaufsbudget von sechshunderttausend Euro veröffentlicht … Natürlich ging es nicht nur um eine Idee, sondern deren Realisierung. Aber Kassel ist eben nicht Goldegg. Die Entscheidungswege sind länger unddie Interessenslage ist eine völlig andere. Natürlich ist die Frage berechtigt, ob man für die Einrichtung von Sozialarbeiterstellen KünstlerInnen braucht und warum man das Geld nicht lieber direkt verwendet. Und erkennen muss man auch, dass das alles Maßnahmen sind, die aufgrund einer bestimmten Politik überhaupt erst notwendig werden.

Ein Jahr nach Beendigung der Klausur jedenfalls, so lang dauerte es schlussendlich, bis Kirche und Stadt sich einig wurden, gibt es sie tatsächlich. Still und heimlich muss das vor sich gegangen sein. In der Presse findet sich nicht mal eine Notiz dazu. Ein Sozialarbeiter-Tandem, Mann und Frau, macht seit Mai 2013 SMS – Straßenarbeit mit Schlichtungsfunktion am Lutherplatz. Sozialarbeit durfte das Ganze offenbar nicht genannt werden. Verankert ist dieses Zuwendungsangebot bei einer Einrichtung der Drogenhilfe Nordhessen. Die Finanzierung ist allerdings derzeit nur bis Ende des Jahres gesichert. Nicht wie gedacht für mindestens zwei Jahre.

Und die Frage, was das mit Kunst zu tun hat, die übergebe ich zum Abschluss an Angela Waldschmidt, Geschäftsführerin der Drogenhilfe Nordhessen. Sie war eine der wichtigsten Beraterinnen und Unterstützerinnen dieses Projektes und kennt auch das Gartenhaus von innen: „Ich hab es als Kunst empfunden, diese Leute zusammenzubringen. Über einen völlig anderen Zugangsweg etwas zu schaffen, was man sonst aufgrund von politischen Barrieren nicht hätte schaffen können.“

 

Nadja Klement ( 2013): Go Public mit WK.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 03 , https://www.p-art-icipate.net/go-public-mit-wk/