Re-think: Kultur produzieren?!

Ein Rück- und Ausblick auf die Forschung am Programmbereich ‚Zeitgenössische Kunst und Kulturelle Produktion‘

Seit 2010 existiert der Programmbereich ‚Zeitgenössische Kunst und Kulturelle Produktion‘, der sich interdisziplinär mit dem Konnex zwischen zeitgenössischer Kunst als kritischer kultureller Praxis und der Lebenswelt der Menschen auseinandersetzt. Was bedeutet Kultur produzieren? Welche Rolle nimmt kulturelle Produktion in der zeitgenössischen Kunst ein? Und vice versa: Inwiefern spielen künstlerische Praxen in der kulturellen Bedeutungsproduktion eine Rolle? Wie gestalten verschiedene Teilöffentlichkeiten Prozesse kultureller Produktion aktiv mit? Welche künstlerischen und kulturellen Interventionen, Strategien und Taktiken kommen dabei zum Einsatz? Solche Fragen diskutieren und erforschen wir im Team. Wir haben viel gelesen, beobachtet, lebhaft debattiert, nachgelesen und kritisiert und kontinuierlich weiterentwickelt.

Gemeinsam haben wir ein Verständnis von kultureller Produktion erarbeitet, das ein kritisches und aktives Mitgestalten der eigenen Lebenswelt(en) umfasst: Kulturelle Produktion fassen wir als einen Zirkulationsprozess auf, in dem Sichtweisen und Einstellungen reproduziert, aber auch neu erzeugt und verhandelt werden können. (Klaus 2012,star (*5) Lang/Zobl 2013star (*12) und 2015; Lang 2013;star (*10) Lang 2015;star (*13) Zobl/Lang 2012;star (*16) Zobl 2012star (*17)). An diesen Prozessen der kulturellen Bedeutungsproduktion sind verschiedene Öffentlichkeiten kontinuierlich beteiligt, wobei vor allem hegemoniale Interessen in den öffentlichen Debatten artikuliert werden, beziehungsweise politische, wirtschaftliche und rechtliche Ansprüche eine dominante Rolle spielen. Wird Produktion von Kultur jedoch als ein Prozess verstanden, der sich vor allem im Alltag und in den Lebensweisen der Menschen artikuliert, dann rücken die zivilgesellschaftliche Mitbestimmung an kulturellen Produktionsprozessen und deren öffentliche Verhandlung und Resonanz in den Mittelpunkt.

Wir beziehen uns damit in unserem Programmbereich insbesondere auf theoretische Überlegungen über den Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion, die von Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg (2004a,star (*6) 2004b,star (*7) 2012star (*8)) mit Bezug auf den circuit of culture (du Gay et al. 1997;star (*1) Johnson 1985star (*4)) und das Konzept der cultural citizenship (Hartley 1999;star (*2) Hermes 1998;star (*3) Rosaldo 1994;star (*14) Stevenson 2001star (*15)) vorgestellt wurden und derzeit noch weiterentwickelt werden. Damit lässt sich der Kreislauf der Kultur als ein kommunikativer Prozess verstehen, der von diversen Machtansprüchen und Interessen geprägt ist. Künstlerische Praxen ermöglichen nun in die gesellschaftliche Bedeutungsproduktion wirkmächtig einzugreifen und damit in das, was aktuell unter Kultur verstanden und gelebt wird, zu intervenieren. Damit können sie Wege zu einer aktiven gesellschaftlichen Teilhabe und Mitgestaltung eröffnen. Am Programmbereich gehen wir folglich davon aus, dass speziell  Kunst mittels ihres spezifischen ästhetischen Ausdrucks und ihrer vielschichtigen, auch sinnlichen, Wahrnehmungsweise das Potential besitzt, in den Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion zu intervenieren und damit neue Aushandlungsprozesse anzustoßen.

Zahlreiche zeitgenössische künstlerische Produktionen greifen aktiv in das ein, was wir als Kultur leben: Sie setzen sich mit unserem alltäglichen Bedeutungsraster kritisch auseinander, hinterfragen Vertrautes, Gewohntes, Gängiges und entwerfen differenzierte Wahrnehmungsperspektiven (vgl. Lang 2015star (*11)). Sie reflektieren einen kulturellen Status quo und beziehen sich damit auf das, was in Alltagspraxen als gängige kulturelle Bedeutungszuschreibungen sichtbar wird: „Works of art, DIY cultural forms, etc […] irritate and challenge the way we ‚normally‘ see and do things. Today a host of contemporary art productions exist that aim to reflect on and interpret our cultural contexts and the underpinnings of our daily routines.” (Klaus 2012: o.S.)star (*5) Gerade dadurch, dass zeitgenössische Kunst und künstlerische Praxen nicht primär den Anspruch erheben, kognitive Lösungen, Erklärungs- oder auch Handlungsmodelle vorzustellen, sondern komplexe, mehrdimensionale Erfahrungsräume zu schaffen, können sie neue Perspektiven aufwerfen und ermächtigende und machtkritische Reflexions- und Handlungsräume eröffnen.

Auf Basis dieses – hier in aller Kürze skizzierten – Verständnisses von kultureller Produktion im Kontext zeitgenössischer Kunst, werden wir bis 2017 mit Bezug auf das aktuelle Rahmenthema des Kooperationsschwerpunkts Wissenschaft&Kunst zu ‚Die Künste und ihre öffentliche Wirkung: Konzepte-Transfer-Resonanz‘ folgende Teilaspekte intensiv erforschen:

Konzepte: Öffentlichkeit(en) und Intervention
Dieser Forschungsbereich hat zum Ziel, künstlerische, mediale und kulturelle Interventionen im Kontext von Teilhabemöglichkeiten und der Formierung von (Gegen-)Öffentlichkeiten zu erforschen. Dabei wird Öffentlichkeit als ein gesellschaftlicher und kultureller Selbstverständigungsprozess der Gesellschaft verstanden, in dem in den verschiedenen Teilöffentlichkeiten u.a. die Werte und Normen der Gesellschaft bestätigt werden, aber auch hinterfragt werden können. In zwei Teilprojekten wird erstens die Rolle von Kunst in Migrationsdiskursen analysiert. Ausgehend von einem hegemonialen und durch Massenmedien gestützten Migrationsdiskurs, der MigrantInnen als ‚Fremde, Andere‘ konzipiert, werden künstlerische Alternativen erkundet, die andere Repräsentationen beinhalten, Exklusionsprozesse verändern und damit die Teilhabe von MigrantInnen an Öffentlichkeit ermöglichen. Zweitens werden unterschiedliche Formen und Strategien der künstlerischen, kulturellen und medialen Intervention im Hinblick auf selbstorganisierte und kollaborative feministische und antirassistische Praxen erforscht.

Transfer: Partizipation und Edukation *1 *(1)
Dieser Bereich erforscht, wie ermächtigende und machtkritische Reflexions- und Handlungsräume im Austausch mit Jugendlichen in der Altersgruppe 12 bis 26 eröffnet werden können. Die Teilprojekte finden in Kooperation mit KünstlerInnen, KulturproduzentInnen, VermittlerInnen und MultiplikatorInnen bzw. Lehrenden (insbesondere an Neuen Mittelschulen) statt. Untersucht wird im Kontext kritischer Kunst- und Kulturvermittlung, wie Jugendliche eine aktive und reflektierende Rolle in der Gestaltung ihrer Umgebung einnehmen (können), indem sie mit künstlerischen und kulturellen Strategien experimentieren.

Resonanz: Raum und kollaborative Wissensproduktion *2 *(2)
Dieser Forschungsteilbereich untersucht temporäre (Zwischen-)Räume, in denen Prozesse geteilter und teilhabender Wissensgenese von und als zeitgenössische(n) künstlerische(n) Initiativen eröffnet werden: Aus einer Analyse spezifischer und konkreter (Zwischen-)Räume wird das „Potential der ästhetischen Erfahrung“*3 *(3) in und für kollaborative(n) Wissensproduktionsprozesse(n) erforscht.

Verbindendes Ziel dieser drei Forschungsteilbereiche ist es, zentrale Begriffe kultureller Bedeutungsproduktion – Öffentlichkeit, Raum, Kollaboration, Partizipation, etc. – in ihrer Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit zu bestimmen und im Spannungsfeld künstlerischer und wissenschaftlicher Annäherungen genauer zu fassen. Neben den Diskussionen im Team des Programmbereichs greifen wir dafür auf Lehr-/Lernprojekte mit Studierenden und auf eine Zusammenarbeit mit KooperationspartnerInnen in Salzburg wie etwa dem Museum der Moderne oder dem Künstlerhaus zurück. Unser Ziel ist es, die Ergebnisse dieser Arbeit im Rahmen eines künstlerisch-wissenschaftlichen Glossars öffentlich zugänglich zu machen.

Die unterschiedlichen Perspektiven und Praxen, die divergenten Erfahrungs- und Erkenntnisräume, die Kunst und Wissenschaft eröffnen (können), lassen sich nicht homogenisieren, sondern beleuchten, kommentieren und befruchten gesellschaftliche und kulturelle Debatten auf ihre je eigene Art. Damit bleiben sie notwendig in einem Spannungsverhältnis, das jedoch – als bewusste Herausforderung angenommen – viel Potential bereithält, um mehr Menschen die Partizipation und Teilhabe an den Prozessen der öffentlichen Bedeutungsproduktion zu ermöglichen.

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du Gay, Paul/Hall, Stuart/James, Linda/Mackay, Hugh/Negus, Keith (1997): Doing Cultural Studies: The story of the Sony Walkman Milton Keynes. Thousand Oaks, CA: Sage.

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Hartley, John (1999): Uses of Television. New York: Routledge.

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Hermes, Joke (2005): Re-reading Popular Culture. Malden/Oxford/Calden: Blackwell.

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Johnson, Richard (1985): Was ist überhaupt Kulturanalyse? In: Januschek, Franz (Hg.): Politische Sprachwissenschaft. Zur Analyse von Sprache als kulturelle Praxis. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 23-69.

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Klaus, Elisabeth (2012): Cultural Production in Theory and Practice In: p/art/icipate: Kultur aktiv gestalten. eJournal des Programmbereichs Contemporary Arts & Cultural Production. Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst. Universität Salzburg in Kooperation mit der Universität Mozarteum. Online unter: https://www.p-art-icipate.net/cultural-production-in-theory-and-practice/ (21.10.2014)

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Klaus, Elisabeth/Lünenborg, Margreth (2004a): Medienhandeln als Alltagshandeln. Über die Konstituierung gesellschaftlicher Identität durch cultural citizenship in der Mediengesellschaft. In: Imhof, Kurt/Bonfadelli, Heinz Blum, Roger/Jarren, Otfried (Hg.): Mediengesellschaft: Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdynamiken. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 100-113.

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Klaus, Elisabeth/Lünenborg, Margreth (2004b): Cultural Citizenship: Ein kommunikationswissenschaftliches Konzept zur Bestimmung kultureller Teilhabe in der Mediengesellschaft. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 52 Jg., H. 2, S. 193-213.

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Klaus, Elisabeth/Lünenborg, Margreth (2012): Cultural Citizenship. Participation by and through Media. In: Zobl, Elke/Drüeke, Ricarda (Hg.): Feminist Media. Participatory Spaces, Networks and Cultural Citizenship. Bielefeld: transcript, S. 197-212.

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Laleg, Dominique (2012): Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik. In: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012. Online unter: http://allover-magazin.com/?p=1072.

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Lang, Siglinde (2013): Art goes culture. Zum Handlungsfeld Kulturmanagement im Kontext zeitgenössischer Kunst und kultureller Produktion. In: Bekmeier-Feuerhahn, Sigrid (Hg.): Die Kunst, Kultur zu ermöglichen. Jahrbuch für Kulturmanagement 2013. Bielefeld, S. 29-54.

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Lang, Siglinde (2015): Partizipatives Kulturmanagement. Interdisziplinäre Verhandlungen zwischen Kunst, Kultur und Öffentlichkeit. Bielefeld: transcript.

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Lang, Siglinde/Zobl, Elke (2013): Über kollaborative Wissensproduktion und partizipative Lernprozesse zu zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung. Das Lehrprojekt »I am a Cultural Producer« und seine Relevanz für die Erwachsenenbildung. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs.19, S.7. Online unter: http://erwachsenenbildung.at/magazin/13-19/meb13-19.pdf. Druck-Version: Norderstedt: Books on Demand GmbH (22.10.2014)

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Lang, Siglinde/Zobl Elke (2015): »Taking cultural production into our own hands«: Kulturelle Bedeutungsprozesse im Kontext zeitgenössischer Kunst. In: Drüeke, Ricarda/Kirchhoff, Susanne/Steinmaurer, Thomas/Thiele, Martina (Hg.): Zwischen Gegebenem und Möglichem. Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation. Festschrift für Elisabeth Klaus. Bielefeld: transcript, S. 237-249.

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Rosaldo, Renato (1999): Cultural Citizenship, Inequality and Multiculturalism. In: Torres, Rodolfo D./ Mirón, Louis F./Inda, Jonathan X. (Hg.): Race, Identity and Citizenship: A Reader. Oxford, Malden: Blackwell, S. 27-38.

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Stevenson, Nick (Hg.) (2001): Culture & Citizenship. London, Thousand Oaks & New Delhi: Sage.

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Zobl, Elke/Siglinde Lang: P/ART/ICIPATE – The Matrix of Cultural Production. Künstlerische Interventionen im Spannungsfeld von zeitgenössischer Kunst, partizipativer Kulturproduktion und kulturellen Managementprozessen. Ein Werkstattbericht über ein Forschungsprojekt. In: kommunikation.medien, 1/2012. Online unter: http://www.journal.kommunikation-medien.at  (12.10.2014)

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Zobl, Elke (2012): Kommunikation und Lernen in partizipativen kulturellen und medialen Räumen. Medienimpulse: Beiträge zur Medienpädagogik. 4/2012. Online unter: http://www.medienimpulse.at/articles/view/487 (23.10.2014)

Siglinde Lang, Elisabeth Klaus, Elke Zobl ( 2015): Re-think: Kultur produzieren?!. Ein Rück- und Ausblick auf die Forschung am Programmbereich ‚Zeitgenössische Kunst und Kulturelle Produktion‘. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 06 , https://www.p-art-icipate.net/re-think-kultur-produzieren/