Gesundes Misstrauen, Neugier und Hunger auf Kultur

Rezension der Publikation „Ab in die Provinz! Rurale Kunst- und Kulturinitiativen als Stätten kultureller Mitbestimmung“ (Hg. von Siglinde Lang)

Ein wackelig-krakeliger Wegweiser auf der Titelseite zeigt nach rechts oben. Darüber die Handlungsanweisung: „Ab in die Provinz!“. Das neue Buch von Siglinde Lang beleuchtet Kunst- und Kulturprojekte in ruralen Räumen Österreichs. Fallstudien unterschiedlichster Projekte werden ergänzt durch wissenschaftliche Beiträge. Die „Mitbestimmung“ hat es nicht zu Unrecht in den Untertitel geschafft.

Ein aufgelassener Steinbruch in einem kleinen Dorf, eine halbe Autostunde von der nächsten Stadt entfernt. Der Bürgermeister spricht im lokalen Dialekt zu den Besucher*innen des Freiluftkinos. Siebzig Bierbankgarnituren hat die Freiwillige Feuerwehr aufgestellt. Dazu Toiletten und einen Stromgenerator, 20 Gehminuten vom Dorfzentrum entfernt, hier mitten im Wald, auf dem Berg. Eine Stunde vor dieser Ansprache war der Bürgermeister noch nervös, ob Besuch kommen würde. Jetzt steht er vor über 350 zahlenden Gästen, die nicht alle einen Sitzplatz gefunden haben.

Es war ein Versuch, eine persönliche Initiative, das kulturelle Leben zu erwecken. Noch vor einigen Jahren war Burgl Czeitschner mit ihrem Kino auf Rädern zu Gast in Dörfern wie diesem. Einer Initiative, die den österreichischen Film in die kleinen Gemeinden, fern des nächsten Kinos, gebracht hat. „So etwas kann nur jemand machen, der mit Leidenschaft dabei ist. Weil ich gesehen habe, dass da ein Bedarf da ist und eine Begeisterung.“ – So fasst sie ihr Engagement zusammen.

Kulturellen Raum in ländlichen Räumen finden

Und so lässt sich auch der neue Band, herausgegeben von Siglinde Lang – Ab in die Provinz! Rurale Kunst- und Kulturinitiativen als Stätten kultureller Mitbestimmung –zusammenfassen. Auf 80 Seiten finden sich Interviews mit lokalen und regionalen Akteur*innen der Kunst- und Kulturszene. Temporäre Aktionen wie das Hotel Konkurrenz in Kärnten sind ebenso vertreten wie permanente Einrichtungen wie das OKH in Oberösterreich; erfolgreiche Pionierprojekte wie der Walserherbst in Vorarlberg, aber auch gescheiterte Initiativen (das bereits erwähnte Kino auf Rädern).

60 Seiten Fachartikel stehen diesen Fallstudien voran. Wenn man glaubt, zu wissen, wie Kunst- und Kulturprojekte auf dem Land aussehen, wird man nicht nur in den Fallstudien, sondern auch hier eines Besseren belehrt. Es geht zunächst darum, den „ländlichen Raum“ – oder sollten wir besser im Plural von „ländlichen Räumen“ sprechen? – zu definieren, wie das der Sozialgeograph Andreas Koch zu Beginn tut.

Anita Moser und Siglinde Lang heben in ihren Beiträgen das Durchhaltevermögen, die oft anfänglich geringe Akzeptanz, den hohen Stellenwert persönlicher Netzwerke vor Ort hervor – Themen, die sich in vielen Fallstudien wiederspiegeln: „Verschlossenheit und Offenheit, Interesse, Diskussion und Rückzug, offene und geschlossene Türen wechseln sich permanent ab“, fasst Hubert Lobnig die Arbeit in Reinsberg (NÖ) zusammen. Dietmar Josef Nigsch vom Walserherbst in Vorarlberg will vermeiden, mit Kunstprojekten zu bekehren: „Bei der Bevölkerung trifft man auf ein gesundes Misstrauen und auf Zurückhaltung gegenüber Neuem und das ist auch legitim und gut. Neugierde ist aber ebenso da! Darum gestalte ich das Programm möglichst offen und vielfältig.“

Von Partizipation und Kulturbotschafter*innen

„Partizipation ist ein besonders wirksamer Schlüssel, um Zugänge zu öffnen – zu Menschen, zu Strukturen, zu Kunst.“ – nicht nur Silke Feldhoff hebt die wirkliche Beteiligung und Einbeziehung der lokalen Bevölkerung hervor, um unter anderem die Akzeptanz von Kunst zu erhöhen. Anita Moser betont  „Auseinandersetzungsangebote“ wie Workshops und Diskussionen, Siglinde Lang bezeichnet Kunst in ländlichen Räumen, analog zu einem früheren Artikel von ihr,star (*1) als „Nährboden kultureller Mitbestimmung“, Günther Friesinger bleibt bei den agrarischen Metaphern und bezeichnet diese Kunstangebote als „Humus“ für die Stärkung des Gemeinwesens und die „soziokulturelle Regionalentwicklung“.

Hier ist ein weiterer Gedanke von Günther Friesinger interessant: Während die Stadt zu passivem Kulturkonsum „verführt“, bringt das Land (in den meisten Beiträgen wird der Stadt-Land-Gegensatz viel geradliniger vollzogen, als das bei Andreas Koch festgestellt wurde) einen „Hunger nach Kultur“ hervor, der sich in Aktivismus und DIY-Formaten niederschlägt. Wird man in der Stadt sofort in eine Nische gedrängt, ist man in ruralen Gebieten oft alleinige/r Kämpfer/in. „Wir sind die Kulturbotschafter des Ortes.“ – so formuliert es Walter Eduard Sageder vom Kulturverein frei-wild Molln in Oberösterreich.

Bis es soweit ist, wird man jedoch häufig mit Vorurteilen von allen Seiten konfrontiert: Das Empfinden einer Minderwertigkeit der ländlichen Kulturproduktion aus städtischer Sicht steht der Skepsis der ruralen Bevölkerung entgegen. Sowohl in Aufsätzen als auch in mehreren Fallstudien wird die Konzentration auf die Spezifika des jeweiligen Ortes hervorgehoben: Nur wenn das Projekt direkt auf den Ort und die Bewohner*innen eingeht, kann es erfolgreich sein. Hier hilft es, wenn es persönliche Verbindungen und ein engagiertes Netzwerk gibt. Der/Die Kulturarbeiter/in, der/die auszog, um (in der Stadt) Erfahrungen zu machen, um dann ein Projekt in seinem/ihrem Heimatort zu verwirklichen, wird zum/zur Missionar/in der Kultur.

Problemfelder und Handlungsanweisung

Schwierig wird es bei der Finanzierung: Xenia Kopf hebt in ihrem Text zwar die EU-Regionalförderungen hervor, für viele der dargestellten Projekte passen diese aber nicht. Neben Lokalsponsoring und bescheidenen Förderungen dominiert meist noch das Ehrenamt. Problematisch wird es möglicherweise, wenn die Verbindung zum Tourismus gesucht wird: Die bewusste touristische Ausrichtung, die in den Fallstudien der lawine torrèn und dem Hotel Konkurrenz zumindest anklingt, wird nicht konkret thematisiert.

Generell muss die Verbindung der wissenschaftlichen Artikel mit den Fallstudien individuell erfolgen – direkte Bezüge gibt es kaum. Eine abschließende Aufarbeitung, Zusammenfassung o.ä. wäre eventuell wünschenswert gewesen. So werden in den Aufsätzen Themen- und Problemfelder geöffnet, teilweise redundant werden Idealbilder wiederholt – in den Fallstudien werden mehr oder weniger forcierte, mehr oder weniger gute Lösungsansätze offenbar.

„Ab in die Provinz!“ kann als Handlungsanregung gelesen werden. Der Band thematisiert den aufkommenden Trend, Kunst und Kultur auch außerhalb der Ballungszentren zu lokalisieren, kann sensibilisieren und motivieren. Der Erforschung von Kunst- und Kulturprojekten in ländlichen Räumen wird in Zukunft immer mehr Bedeutung beizumessen sein. Wie sich in den Fallstudien zeigt, nimmt nicht nur die Zahl der künstlerischen und kulturellen Initiativen in ländlichen Räumen zu, sondern auch deren Elaboriertheit und Experimentierfreudigkeit. Gleichzeitig löst sich der Stadt-Land-Gegensatz zugunsten eines fließenden Übergangs auf, neue Kommunikationsräume werden geschaffen. „Der Ort ist nicht mehr der manifeste Gegenstand einer künstlerischen ‚Intervention‘“, meint Hubert Lobnig zusammenfassend, „eher ist er der je spezifische Anlass einer (Re-)Aktivierung von Bedeutungsschichten, ich würde sagen, eine Art diskursive Operation.“

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Lang, Siglinde (2015): Partizipative Räume als Nährboden kultureller Bedeutungsproduktion. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #  06 , https://www.p-art-icipate.net/partizipative-raume-als-nahrboden-kultureller-bedeutungsproduktion/3/

Josef Kirchner ( 2016): Gesundes Misstrauen, Neugier und Hunger auf Kultur. Rezension der Publikation „Ab in die Provinz! Rurale Kunst- und Kulturinitiativen als Stätten kultureller Mitbestimmung“ (Hg. von Siglinde Lang). In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/gesundes-misstrauen-neugier-und-hunger-auf-kultur/