Bis dahin und (nicht) weiter. Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen

Ein Symposiumsrückblick

Am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst fand im Wintersemester 2016/17 eine Lehrveranstaltung zu künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Grenzen, Grenzräume und Grenzüberschreitungen unter der Leitung von Anita Moser statt. In diesem Zusammenhang veranstaltete der Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion am 25. November 2016 ein Symposium. Eingeladen waren drei Wissenschaftlerinnen, die sich in wesentlichen Teilen ihrer bisherigen Forschungen in unterschiedlichen Disziplinen – Kunstwissenschaft, Philosophie und Erziehungswissenschaft – mit Grenzziehungen befassten. Des Weiteren waren drei Künstler_innen eingeladen, ihre Zugänge zu Grenzen und deren Überschreitungen zu präsentieren. In der Begrüßung wies Gerbert Schwaighofer, Leiter des Schwerpunkts, auf die Aktualität des Themas hin. In der anschließenden Einführung umriss Anita Moser die verschiedenen Bedeutungsebenen von Grenzen und betonte, dass das Symposium mit seinen theoretischen und künstlerisch-praktischen Beiträgen einen Diskussionsrahmen bieten, aber auch Impulsgeber für weitere Auseinandersetzungen sein soll.

Den Auftakt machte die Philosophin und Publizistin Isolde Charim mit dem Vortrag Was bedeutet ,Grenzeʻ heute?. Sie versteht ‚Grenze‘ als virulenten Begriff, dessen Deutung eine akute Frage ist, und bezog sich auf den französischen Denker Michel Pêcheux, der zwei Raumbegriffe unterscheidet: die Festung und den paradoxen Raum. Während eine Untersuchung der historischen Begriffsverwendung zeigt, dass ‚Grenze‘ oft eine klare Trennung zwischen einem eindeutigen Innen und einem eindeutigen Außen bezeichnete, müssen heute neue Definitionen gefunden werden – wie etwa jene vom paradoxen Raum ohne feste Grenzen, der auch Widersprüche integriert. Pêcheux bezieht sich dabei vor allem auf den Kalten Krieg, als der ‚Festung Osten‘ der Westen als freier, paradoxer Raum gegenübergestellt wurde. Infolge nationaler sowie ideologischer Verschiebungen von Grenzen entstanden überlappende Räume, die Merkmale von Pêcheux‘ Konzeptionen in sich vereinen. Einzig der virtuelle Raum kenne keine Grenzen, so Charim, und sei daher der reine paradoxe Raum.

Über die territorialen Grenzen hinausgehend, sprach Charim auch Grenzen in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen an. Sie machte zwei Fraktionen fest: Pluralist_innen, die die Pluralität in der Gesellschaft akzeptieren und Antipluralist_innen, die Vielfalt innerhalb der Gesellschaft ablehnen. Die Grenzlinie verläuft bei Letzteren zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Verbindung wird durch Ausschließung sichtbar. Als Beispiele führte Charim Brexit und Pegida an, deren Logik die gleiche wie bei den Islamisten sei. Gesellschaftliche Diskussionen zeigen, dass es immer auch Gegenbewegungen gebe, wie etwa die Suche nach einem Modus, wie ‚Unähnliche‘ miteinander leben können. Kunst und Kultur können neue Räume schaffen, sie können Mehrwert und neue Identitäten kreieren, so ein Fazit der Philosophin.

Den nächsten Vortrag hielt die Politologin und Pädagogin María do Mar Castro Varela zu Grenzziehungen. Von Grenzen und Subjekten. Sie setzte das Thema Grenze in Beziehung zu kultureller Bildung, innerhalb derer zunächst über Kriterien nachzudenken sei und über die Frage, welche Rolle die Kunst in Bezug auf Grenzziehungen spiele. Erster Ansatz für derartige Untersuchungen sind postkoloniale Theorien, in denen Auseinandersetzungen mit Raum-Konzepten einen zentralen Bezugspunkt bilden. Kolonisatoren übertrugen ihre geographischen und in der Folge ihre gesellschaftlichen Konzepte auf die eroberten Gebiete und übten massive Gewalt durch willkürliche Grenzziehungen aus. Dadurch wurden nicht nur unterschiedliche traditionell gewachsene Gruppen und Strukturen in Form von Genoziden vernichtet, sondern auch die Tötung von Wissen als Disziplinierungsmaßnahme praktiziert. Castro Varela ging in diesem Zusammenhang auf den Begriff der imaginativen Geographie von Edward W. Said ein und betonte, dass die eroberten Räume so geordnet wurden, dass sie größtmögliche Beherrschung und Unterdrückung ermöglichten.

Ein weiteres Thema ihres Vortrags bildete die Stadt mit den Stadtteilgrenzen, innerhalb derer die Entstehung sozialer Schichtungen zu ganz bestimmten Phänomenen führte. Als Beispiel nannte sie die ‚Bielefelder Bronx‘ oder Berlin-Kreuzberg, die als kriminelle Stadtviertel galten, allerdings im Lauf von Jahrzehnten einen Perspektivwechsel erlebten und heute als besonders chic gelten. Vor dem Hintergrund der neuen Grenzziehungen und der Fluchtbewegungen schlug Castro Varela vor, die bestehenden Narrative und das eurozentristische Wissen zu hinterfragen sowie darüber nachzudenken, dass Wissensvermittlung in beide Richtungen verlaufen muss, um neue Beziehungen zwischen Menschen, die hier leben, und jenen, die ankommen, zu schaffen.

Die Autorin und Künstlerin Anna-Lena Wenzel referierte über Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Kunst. Zuerst wies sie auf die Ambivalenz als wesentliches Charakteristikum von Grenzen hin, indem sie einerseits Sicherheit geben, andererseits Freiheitsbeschränkung sind. Sie ging auf territoriale und gesellschaftliche Grenzen und ihre teilweise widersprüchlichen Bedeutungen ein, widmete den Hauptteil des Vortrags aber den Grenzüberschreitungen im Kunstfeld. Während Wenzels – im Hintergrund in Endlosschleife projizierten – eigene künstlerischen Arbeiten das Publikum zu freiem Assoziieren anregten, machte sie acht Kategorien von künstlerischen Grenzbewegungen bzw. -überschreitungen fest: 1. Überschreitung von Gattungs- und Disziplinengrenzen, 2. Hinwendung zu Realität und Alltag, 3. Auflösung des Kunstwerks, 4. neue Räume wie Land Art oder Street Art, 5. Einbeziehung des Betrachters und der Betrachterin, 6. Erweiterung des Begriffs auf ein polytechnisches Berufsfeld, 7. Erweiterung der Wahrnehmung und 8. Skandal und Tabubruch. Abschließend plädierte sie für einen erweiterten Kunstbegriff, der eine permanente Grenzbewegung möglich macht. Das Kunstwerk kann zum Konzept, zur Aktion, zum Prozess werden, wobei die Betrachter_innen zunehmend verstärkt eingebunden werden, wie etwa bei den partizipativen künstlerischen Initiativen. Grenze würde dann nicht mehr eine Linie sein, sondern ein neuer Raum.

Nach dem theoretischen Teil des Symposiums hielt Can Gülcü, von 2012 bis 2015 Teil der künstlerischen Leitung und Geschäftsführung der Wienwoche (Verein zur Förderung der Stadtbenutzung mit Fokus auf Förderung gesellschaftspolitischer und kultureller Handlungsräume für künstlerische, soziokulturelle und zivilgesellschaftliche Akteur_innen), einen Vortrag mit dem Titel Radikale Grenzüberschreitungen – Beispiele politisch engagierter Kunst und Kulturarbeit. Das Wesen der politischen Kunst ist laut Gülcü, politische und gesellschaftliche Veränderungen bis zu einer gewissen – beispielsweise gesetzlichen – Grenze oder darüber hinaus zu erwirken. Dieses Prinzip spiegelte sich in allen präsentierten Beispielen wider. Innerhalb der Wienwoche 2013 etwa wurde die Initiative BettelLobby Wien unterstützt. Das Ziel war, Menschen mit unterschiedlichen Mitteln (wie z.B. Kasperltheater-Aufführungen) auf absurde Stereotypen und Ausgrenzungen, mit denen Bettler_innen jeden Tag konfrontiert sind, aufmerksam zu machen. Dadurch wurde auch Rechtsaufklärung und soziale Hilfe für die Betroffenen zugänglich gemacht, sowie der gesellschaftliche Dialog über Armut und das Bettelrecht eröffnet. Die Kampagne WahlweXel jetzt! gab vom Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Das geschah in Form öffentlicher Diskussionen und einer Tauschaktion des Briefwahlformulars zwischen den Wahlberechtigten und den Nichtberechtigten. Die Problematisierung der Tatsache, dass in Österreich fast eine Million Menschen dauerhaft, jedoch ohne Wahlrecht lebt, und die Frage ‚Wer hat Zugang zur Demokratie?‘ wurden zu den Hauptthemen innerhalb der Aktion. Das Motto für die Wienwoche 2014 lautete Migrazija-yeah-yeah. Dieses Projekt entwickelte sich zu einem vielfältigen Programm mit Konzerten, Diskussionen, Performances etc., das danach fragte, was Migration mit der Nation macht und wie sich eine Gesellschaft verändert, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen leben, lernen und Rechte erkämpfen. Migration soll nicht nur bürokratisch behandelt werden, sondern eine Chance für eine offene Gesellschaft sein. Als Beispiel für Aktivismus, der an die menschlichen und nicht an die vom Staat vorgegebenen Grenzen appelliert, nannte Gülcü die Aktion Refugee Convoy. In einer blitzschnellen Reaktion auf das Schließen der Grenzen in Ungarn im September 2015 organisierten sich Menschen über Facebook, um Flüchtlinge mit Privatautos über die Grenze Richtung Deutschland zu bringen.

Die Künstlerin Karla Spiluttini präsentierte das gemeinsam mit Korinna Lindinger entworfene Projekt Wild. Ein Kunstprojekt zu menschlicher und tierischer Migration (2016). Die Idee, ein Hybridwesen zu schaffen, das nicht an Grenzen gebunden ist, entstand aus den Auseinandersetzungen mit der Migration von Tieren in Grenzgebieten und historischen Recherchen über die Predigtstuhl-Region an der Grenze Österreichs zu Bayern. Die Biodiversität der Tiere hängt stark vom Verlauf der Migrationswege ab, die durch den Bau von Grenzzäunen negativ beeinflusst werden. Die Bewegungsfreiheit von Tieren bildete für die Künstlerinnen den Hintergrund für eine kritische Beschäftigung mit eingeschränkten Mobilitätsprozessen von Menschen. Das künstlerische Projekt wurde in Form einer Wanderroute mit Objektgruppen im Freien realisiert. Durch die entworfenen Migrationsszenarien und die Arbeit mit einer Wanderkarte wurde das aktuelle Thema der Migration künstlerisch und interdisziplinär an die Teilnehmer_innen vermittelt.

Reinhold Bidner und Sonja Prlic gehören zur Künstler_innengruppe gold extra, die neue Wege, Formate und Ausdrucksformen durch Hybrid Media schaffen. Ihr Vortragsthema lautete Grenzen, Flucht und Migration in Computerspielen der Künstler_innengruppe gold extra. Sie präsentierten interaktive Simulationen aus dokumentarischem Material innerhalb des Mediums Computerspiel, das einen virtuellen Raum für Kommunikation öffnet. Das Computerspiel Frontiers ist eine Inszenierung von Fluchtsituationen: Das Spiel ist mit Bildern von Fluchtrouten aus Afrika nach Europa ausgestattet, eine der Spielstrategien ist beispielsweise die Lösungssuche bei Spannungssituationen zwischen Polizei und Flüchtlingen. Das Spiel wirft Fragen der eigenen Positionierung sowie nach Spielgewohnheiten von Shooter Games und alternativen Handlungsstrategien auf. Es öffnet neue Kommunikationsräume für Menschen verschiedener Altersgruppen, in denen schwierige Fragestellungen und stereotype Zuschreibungen über Flüchtlinge thematisiert werden. Das zweite Projekt From Darkness ist eine komplexe Arbeit, die in Form einer interaktiven Dokumentation den Spieler_innen Einblicke in das Leben von Menschen in Afrika bietet. Der Ausgangspunkt dieser Idee waren die Rohstoffkriege in Ost- und Zentral Afrika. Es wurden 60 Stunden des Video- und Interviewmaterials verwendet, das bei Recherchereisen in Kenia und Uganda aufgenommen worden war. Das Spiel versucht, europäische und afrikanische Realitäten nebeneinanderzustellen und ein positives Bild der unbekannten Regionen zu vermitteln. Es geht darum, Informationen über existierende Personen in Form eines Computerspiels zu sammeln, vielleicht auch damit konfrontiert zu werden und die eigene begrenzte Perspektive zu verändern. Über eine Spurensuche im Alltag dort lebender Menschen werden Geschichten in virtueller Form erzählt, die sonst hinter den Grenzen Europas verschwinden würden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die theoretischen Beiträge spannend und bereichernd waren, weil viele unterschiedliche Aspekte zum Thema Grenze und Raum zur Sprache kamen. Die konkreten künstlerischen Projekte gaben einen Einblick in das kreative Schaffen der Künstler_innen und ihre Auseinandersetzung mit ‚Grenzen‘ im Kontext von Migration. Die intensiven Diskussionen nach den jeweiligen Vorträgen machten zahlreiche andere mögliche Perspektiven auf das Thema sichtbar, was ein weiterer interessanter Aspekt des Symposiums war sowie Fragen und Ausgangspunkte für weitere Diskussionen lieferte.

Margarete Beling, Monika Urbonaite ( 2017): Bis dahin und (nicht) weiter. Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen. Ein Symposiumsrückblick. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/bis-dahin-und-nicht-weiter-kunstlerisch-kulturelle-befragungen-von-grenzen/