Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs

Ein Wissenschaftslogbuch

Experimentierräume ermöglichen Begegnungen, konkret und metaphorisch. Das vorliegende Wissenschaftslogbuch versteht sich als derartiger Experimentierraum für eine Begegnung zwischen der Perspektive der Literaturwissenschaft und jener der Comic Studies.

Graphic Novel und Autor_innenbild (15.3.2017)

Die letzten Jahre verzeichnen nicht nur in Buchhandlungen und im Feuilleton, sondern beispielsweise auch in Literaturhäusern ein steigendes Interesse für jenen Teil der Comicproduktion, der als ‚Graphic Novel‘ betitelt wird; davon zeugen die seit 2012 jährlich veranstalteten Hamburger Graphic-Novel-Tage ebenso wie der 2017 erstmals vom Freien Deutschen Autorenverband Thüringen vergebene Graphic-Novel-Preis oder die steigende Anzahl von auf Graphic Novels spezialisierten Verlagen (z.B. Reprodukt, avant-Verlag, Edition Moderne, Carlsen). So erfreulich dieses Interesse ist – traditionelle Instanzen der Literaturvermittlung und -distribution öffnen sich für weitere ästhetische Ausdrucksformen –, so sehr lohnt sich eine Betrachtung einiger Implikationen dieses Interesses für den Comic im Allgemeinen. Wir fragen nach Gründen für die neue Etikettierung der tradierten Kunstform der Comics als ‚Graphic Novels‘: Handelt es sich hierbei um einen neuen Begriff für bereits Bestehendes, oder bezeichnet der neu eingeführte Begriff ‚Graphic Novel‘ ein neues Genre?*1 *(1)

Um die Tragfähigkeit eines Begriffs zu befragen, lohnt sich in der Regel ein Blick auf seine Wurzeln: Die erste breitenwirksame Etikettierung eines Comics als ‚Graphic Novel‘ nahm Will Eisner mit A Contract with God (1978) vor*2 *(2), das aus vier Kurzgeschichten besteht und damit streng genommen nicht als ‚Novel‘ bezeichnet werden kann, wenn man eine in der Literatur(wissenschaft) übliche Definition auf den Comic überträgt. Der US-amerikanische Comicautor Eisner, der ab den 1940er-Jahren Comics veröffentlichte, versuchte damit, eine unterschiedliche, als Neuerung erkennbare Herangehensweise an Bild-Text-Narrationen begrifflich zu fassen: Eisner verstand Graphic Novels als Erzählungen in Comicform, welche sich durch ihr Format (Höhe, Breite, etc.), ihre Länge, ernste Themen („worthwile themes“, Eisner 1985: 141)star (*9) und ein neues Zielpublikum (Erwachsene) von Comics unterscheiden. Eisner entwirft eine neuartige Konzeption künstlerisch anspruchsvollen Schreibens, welches bestehende Konventionen im (amerikanischen) Comic hinterfragt. Außerhalb der Comic-Community sowie der Forschung stieß Eisners neue Etikettierung übrigens anfänglich auf scheinbar geringes Interesse (vgl. Baetens 2011: 1141),star (*1) erst Art Spiegelmans Maus (1986/1991) verhilft der Graphic Novel zu einer gewissen öffentlichen Sichtbarkeit (vgl. Baetens 2011: 1141).star (*1)

Eine weitere Forderung, die Eisner ins Feld führt, stellt eine mediengeschichtliche Verbindung zwischen der Konzeption von Autorencomics und der Entwicklung der Graphic Novel dar: In Comics and Sequential Art (1985)star (*9) präsentiert Eisner in Comicform unterschiedliche Methoden und Prinzipien des Zeichnens von Comics sowie auch theoretische Überlegungen zu Ästhetiken des Comics (die Neuauflage von 1990 ist erweitert um kürzere Passagen zur Verwendung von Computern sowie zu Druckverfahren). Außerdem plädiert er dafür, dass „the writer and the artist […] one person“ (Eisner 1985: 132)star (*9) sein sollen – dies ist auch ein Charakteristikum von Autorencomics: Ähnlich wie das Label des ‚Autorenfilms‘ verweist es auf ein Comic aus einer Hand, vom Entwurf des Handlungsstrangs über die Erstellung des Textes sowie die Konzeption und künstlerische Realisierung der Bilder. Eisners Plädoyer für eine Personalunion von Zeichner_in und Szenarist_in setzt er selbst in A Contract with God um, denn Text und Bild stammen in allen vier Kurzgeschichten von ihm selbst. Aus der Verbindung mit dem Untertitel ‚Graphic Novel‘ resultiert also eine programmatische Forderung einer Personalunion für dieses Genre.

1998 greift Benoît Peeters auf Eisners Konzept zurück und entwickelt das Modell des „kompletten Autors“ (Peeters 1998: 110):star (*17) Es hebt Comics, die von einem_r Autor_in verfasst worden sind, von jenen ab, welche unter anderem die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Szenarist_in und Zeichner_in charakterisiert. Die Vorstellung eines ‚kompletten Autors‘ bzw. einer ‚kompletten Autorin‘ untermauert ein holistisches Verständnis von Bild und Text im Comic, ein Verständnis also, in dem nicht ein vorrangiger Text ‚bebildert‘ wird oder vorrangige Bilder verbal ‚erklärt‘ werden. Peeters Verständnis eines_er ‚kompletten Autor_in‘ bedeutet, dass diese_r an seinen/ihren Comics in einem ganzheitlichen Prozess arbeitet; darin bedient er/sie sich verschiedener Ausdrucksmittel, die ineinander verschmelzen – Arbeit am Bild und Arbeit am Text ergänzen einander also kontinuierlich.

Mit der Figur des_r ‚kompletten Autors_in‘ wurde die Autor_innenfunktion im Feld der Comicproduktion merklich gestärkt. Folgt man Bart Beaty, bot dies den Künstler_innen einer ‚illegitimen‘ Kunstform durch den Rekurs auf ein ‚bourgeoises‘ auteur-Verständnis die Möglichkeit, ihre Position zu verbessern (vgl. Beaty 2007: 143).star (*2) Auch Thierry Smolderen argumentiert, dass dieses neue Bild des ‚graphic novelist‘ versuche, das Konzept der respektablen ‚Aura‘ literarischer Autor_innen auch der Graphic Novel überzustülpen. Es sei folglich dem Klischee des Nerd-Comicautors entgegenzustellen, der, wie der typische (meist männliche) Comic-Leser, „asozial und schüchtern“ sei: Er habe die „Sexualität eines Akne-befallenen Jugendlichen“, lebe „in einem unreifen Verhältnis mit einer künstlichen Welt“ und führe dieses Leben in der Welt „der (oft künstlerisch minderwertigen) comic books“ weiter (Smolderen 2006: o.S.).star (*18) Eisner favorisiert als Produktionsmodell von Graphic Novels eine Personalunion von Szenarist_in und Zeichner_in, die ihrerseits Smolderens Beschreibung von einer klischierten Vorstellung vom ‚typischen‘ Comicleser sowie -autor gegenübersteht. Diese Gegenüberstellung impliziert eine Aufwertung der Graphic Novel auch als wertbeständiges Kulturgut, schließlich distanziert der Begriff die Graphic Novel damit von Comics als ‚Wegwerfprodukt‘ und erhebt damit Anspruch auf einen Status als dauerhaftes Kulturgut.

Das neue gestärkte Autor_innenbewusstsein führte dazu, dass Autor_innen von Comics stärker mit ihrer künstlerischen Produktion in Verbindung gebracht werden. Damit findet Ähnliches statt wie im Bereich der Literaturproduktion: Wir identifizieren künstlerische Produkte stärker als traditionellerweise im Feld der Comics üblich mit ihren Urheber_innen. Diese Entwicklung ist ein weiterer Schritt (die Zuschreibung ‚Autorencomics‘ ist ja bereits eine Form der Distinktion) hin zu einer Differenzierung zwischen ‚high‘ und ‚low‘ insofern, als damit ein modernes Autor_innenbild gestärkt wird, das aus der Literaturproduktion bekannt ist.

Graphic Novel und ‚high‘ vs. ‚low‘ (23.3.2017)

In unserem letzten Logbucheintrag haben wir erste Überlegungen zu einer Parallelisierung des Feldes der Literatur- und jenem der Comicproduktion angedeutet. Darauf kommen wir zurück, indem wir die derzeit zu beobachtende Differenzierung zwischen Graphic Novels und Comics als Spaltung in ‚high‘ und ‚low‘ verstehen, auf die unter anderem Thomas Hausmanninger bereits hingewiesen hat (vgl. Hausmanninger 2013).star (*14) Die Etikettierung als Graphic Novel bewirkt eine stärkere Assoziation mit dem Feld der Literatur als der Begriff ‚Comic‘; damit wollen Graphic Novels gewissermaßen als Teil der Hochkultur legitimiert sein. Damit greift das Feld der Comics auf die Sphäre des Literarischen zurück, um die eigene hochkulturelle Legitimität zu betonen – und dies vor allem in Zusammenhang mit jenen Comics, die als Graphic Novels firmieren: Als lettres de noblesse werden beispielsweise Rezensionen in literarischen Rubriken und Prämierungen durch Literaturpreise verstanden, so z.B. der Pulitzer-Preis 1992 für Spiegelmans Maus sowie der Literaturpreis von The Guardian (Kategorie Roman) 2001 für Chris Wares Jimmy Corrigan (vgl. Smolderen 2006: o. S.).star (*18) Mancherorts werden Graphic Novels als eine neue Form von Literatur verstanden und (‚herkömmlichen‘) Comics gegenübergestellt (vgl. Smolderen 2006) oder aber, wenn Graphic Novels doch noch zum „breiteren Feld von Comics“ (Baetens 2011: 1138)star (*1) gezählt werden, als das aktuellste ‚Entwicklungsstadium‘ dargestellt. In diesen Zuschreibungen manifestieren sich also zugrundeliegende Dichotomien, die durch die jeweiligen Zuschreibungen weiter gefestigt werden.

Teil dieser Aufwertung von Graphic Novels ist die Abgrenzung gegenüber dem Gros der Comicproduktion mit einer stark industriellen Prägung, für welche beispielsweise US-amerikanische Mainstream-Superheldencomics paradigmatisch sind: Sie werden oftmals unter dem Signum der Anonymität (unterschiedlichste Menschen arbeiten gleichzeitig an den seriell gefertigten Comics) in großen Studios und in Arbeitsteilung (Szenarist_innen/Zeichner_nnen/Kolorist_innen etc.) produziert. Indem diese einer Aura im Benjamin’schen Sinn entbehren, stehen ihnen die stärker kunsthandwerklich verstandenen Graphic Novels in der gegenwärtig produzierten Dichotomie auch hinsichtlich des Aspektes der Fertigung gegenüber. Eine oberflächliche Gegenüberstellung zwischen industriell geprägten Comics und Graphic Novels lässt Unterschiede zwischen zahlreichen Nuancen der künstlerischen Ausdrucksformen verschwinden. Der große Teil der Autorencomics wird dabei indirekt ausgeblendet. Der ‚künstlerische Wert‘ von Autorencomics ist mittlerweile unbestritten und wird beispielsweise mit Namen wie Alberto Breccia oder Robert Crumb verbunden.

Durch die Annahme einer Dichotomie zwischen Graphic Novels und Comics werden nun also nicht nur ästhetische Unterschiede behauptet, sondern auch charakteristische Ästhetiken postuliert – mit Blick auf die vielfältige Comicproduktion sind diese jedoch nicht haltbar. Die Website des Goethe-Instituts führt beispielsweise folgende Definition Sebastian Oehlers aus dem Jahr 2010 an: „Graphic Novels sind Comics. Aber eben nicht die lustigen, von einem Hauch des Trivialen umgebenen Geschichten von Donald Duck, Asterix und Fix und Foxi, wie man sie noch aus der eigenen Kindheit kennt: meist in Heftchen- oder Albenform erschienen, am Kiosk erstanden und vielleicht verschämt vor Eltern und Lehrern versteckt.“ (Oehler 2010)*15 *(15) Wenngleich es sich hierbei nicht um eine wissenschaftliche Definition handelt, ist doch ersichtlich, inwiefern die Einführung der Kategorie Graphic Novel zu einer Wahrnehmung des Comic außerhalb von Spezialdiskursen (z.B. in der Comicforschung) führt. In dieser Hinsicht ist dieser Passus bemerkenswert, da in dreifacher Hinsicht Wertung erfolgt: ästhetisch, psychologisch und materiell. Die ästhetische Frage betrifft das Attribut des Trivialen, in die auch Strategien des Komischen (sie sind „lustig“) gerückt werden; die psychologische Komponente spricht das Argument an, Comics müssen vor den Eltern (vulgo literaturästhetisch kompetentere Autoritäten als Kinder) versteckt werden. Schließlich insinuiert der Diminutiv „Heftchen“ eine materielle Komponente, die als minder-wertig konnotiert ist. Comics bleiben – zumindest außerhalb von Spezialdiskursen – also scheinbar nach wie vor in der „lowbrow“-Kultur (Baetens 2011: 1140)star (*1) verhaftet. In Thierry Groensteens Kritik an den „legitimizing authorities (universities, museums, the media)” wird festgestellt, dass diese „still regularly charge it [Comics] with being infantile, vulgar, or insignificant. This as if the whole of the genre were to be lowered to the level of its most mediocre products – and its most remarkable incarnations ignored.” (Groensteen 2009: 3)star (*10) Die Problematik, die Groensteen formuliert, wird durch die Einführung des Begriffs Graphic Novel als explizites Qualitätskriterium insofern verstärkt, als damit dichotomische Zuschreibungen verfestigt werden.

Graphic Novel und Materialität (31.3.2017)

Von jenen auf der Homepage des Goethe-Instituts genannten pauschalisierenden und nicht trennscharfen Kriterien für Graphic Novels wollen wir uns heute jenem der Materialität als weiteres implizites Charakteristikum von Graphic Novels eingehender widmen.

Um bei Verleger_innen und Buchhändler_innen als Graphic Novel ‚durchzugehen‘, verlangt das künstlerische Produkt, so zeigt ein Blick auf die Distributionspraxis, nach einem denkbar einfachen Definitionskriterium – im Falle der Graphic Novels beispielsweise jene von Umfang und Format. In der Literatur ist ‚der Roman‘ die wohl wandelbarste Gattung im Spektrum literarischer Produktion – stehen doch Joyces Ulysses, Okopenkos Lexikonroman sowie Tolstois Krieg und Frieden in dieser Gattung zuerst einmal quasi gleichberechtigt nebeneinander. Angesichts der Fülle und Komplexität von Gattungstheorien (vgl. Zymner 2010)star (*20) erscheint es zumindest überraschend, Länge als dominierendes Merkmal für eine Gattung anzuführen – und doch lässt sich in der Distributionsstruktur von Graphic Novels dieses Kriterium beobachten: Um als Graphic Novel ‚durchgehen‘ zu können, braucht eine Bild-Text-Narration zunächst eine bestimmte Länge, und zwar mindestens 100 Seiten*3 *(3). Als Vorbild dient einmal mehr Spiegelmans Maus, von dem der Autor sagte, er wollte ein Comic schreiben, für das man ein Lesezeichen braucht (vgl. Spiegelman 2011: 42).star (*19) Zweitens muss die Bild-Text-Narration zwischen zwei Buchdeckel eingepasst werden, deren Seitenmaße rund A5 entsprechen, aber auf alle Fälle kleiner als A4 sind, damit keine Verwechslungsgefahr mit Comicalben besteht. Die Graphic Novel muss also ‚nach einem Buch aussehen‘, also Buchähnlichkeit suggerieren, damit sie überhaupt am ‚konventionellen‘ Buchmarkt wahrgenommen wird und damit für die Distribution in ‚herkömmlichen‘ Buchhandlungen nobilitiert ist.

Als eines der ersten Comics, das dementsprechend wahrgenommen wurde und folglich nicht primär den Comicmarkt, sondern allgemeiner den Büchermarkt durchdrang, gilt nach wie vor Maus – es wurde zu einem Crossover-Hit. Sein Format entspricht Konventionen des Buchmarkts, beispielsweise kann es in ein Bücherregal eingeordnet werden. Damit rangiert die Materialität des Objekts sehr weit oben in einem Kriterienkatalog. Umgekehrt bedeutet dies, dass eine Vielzahl von Comics von vornherein von der Kategorisierung als ‚Graphic Novel‘ ausgeschlossen sind, da sie scheinbar auf zu groß geschnittenem Papier veröffentlicht werden. Graphic Novels adaptieren ein Buch-Design, welches sich von der Flüchtigkeit der Comichefte (als ‚Wegwerfprodukte‘, also als Produkte, die nach einmaligem Lesen entsorgt werden*4 *(4)) einerseits und von dem Comicalbum andererseits unterscheidet: Im franko-belgischen Raum etablierte sich das Comicalbum in der Nachkriegszeit mit einem fixen Format von 48 oder 64 Farbseiten, Hardcover-Umschlag und einer sich A4 annähernden Größe. Dieses besonders in den 1990er-Jahren als Mainstream-Produktionen inkriminierte Format wurde von avantgardistischen Comicverlagen im franko-belgischen Raum bereits ab den 1970er-Jahren aufgelöst. Interessant ist hier beispielsweise die Linie 30 × 40 – der Name bezeichnet gleichzeitig das Format – des französischen Avantgarde-Verlags Futuropolis, der bereits in den 1980er-Jahren Autorencomics in ungewöhnlichen Formaten vertrieb. Florence Cestac, Comicautorin und Mitbegründerin von Futuropolis, beschreibt das ungewöhnliche Publikationsformat von Futuropolis als UFO: „Während Comics nur im Format 48 Seiten, Hardcover, Farbdruck gedacht wurden, schufen wir ein UFO.“ (Cestac 2007: 32)star (*4)

Während die Literaturwissenschaft in Gattungsfragen wenig Augenmerk auf Fragen der Materialität legt, entscheiden im Feld der Comicproduktion Aspekte wie Länge, Seitengröße, Farbdruck/Schwarzweiß-Druck über Klassifikationen. Damit zeigt sich, dass Materialität Exklusion produziert. Aspekte der Materialität als normative Kriterien zu zählen, ist aus unserer Sicht nicht zuletzt deshalb problematisch, da es sich gegen die Geschichte des Mediums stellt: Während im Laufe der Jahre im Comicbereich durchaus mit verschiedenen Formaten experimentiert wurde, wie das Beispiel von Futuropolis zeigt, wird die Materialität des Objekts mittlerweile an normgenerierende Bedürfnisse von Buchregalbesitzern und Buchhandlungen angepasst. Das ursprünglich der Mainstream-Produktion entgegengesetzte und als Neuerung gefasste Format der Graphic Novel erweist sich spätestens als normativ, wenn man es mit Avantgarde-Produktionen aus dem Comicbereich vergleicht. Gegen Jan Baetens Beschreibung einer Entwicklung des Comics hin zur Graphic Novel als Evolution (vgl. Baetens 2011: 1140)star (*1) lässt sich einwenden, dass dies eine Abwertung der vorhergehenden Flexibilität des Mediums in Abrede stellen würde; Baetens Sichtweise ist folglich mit Skepsis zu betrachten.

Graphic Novels sind nicht ‚lustig‘! (6.4.2017)

Nachdem wir uns im vorigen Beitrag der Frage der Materialität gewidmet haben, betrachten wir ein zweites Kriterium, welches als Klassifikationsmerkmal für Graphic Novels herhalten muss (wie z.B. aus obigem Definitionsversuch von Sebastian Oehler auf der Webseite des Goethe-Instituts hervorgeht): die Ernsthaftigkeit des Inhalts. Auch Jan Baetens postuliert in seinem Aufsatz Graphic novels eine Gegenüberstellung von ‚lustigen Comics’ und ‚Graphic Novels’ und verbindet damit das Kriterium der (Nicht-)Literarizität des Mediums: „[…] they [Comics] focus less on storytelling than on comic effects, and this foregrounding of gag and slapstick reinforces their anti-literary character.“ (Baetens 2011: 1139)star (*1) Diese Distanzierung zu allegierten Humorcomics bzw. Comics im Allgemeinen verweist auf die Wurzeln des ‚Comics‘ im humoristischen Comicstrip, als Produkt der Entertainment-Industrie und als Massenprodukt: Die amerikanischen funnies, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Presse auftauchten, tragen die Verzahnung von Humor und kulturellem Massenprodukt in sich. Ein Beispiel wäre Richard F. Outcaults berühmter Strip The Yellow Kid (1895), welcher der Yellow Press ihren Namen gegeben hat. Yellow Kid ist ein Lausbub in gelbem Nachthemd, dessen Gang sich in einem New Yorker Slum herumtreibt und der in einem eigenartigen Idiom spricht. Die unterschwellige Sozialkritik in The Yellow Kid wurde in der Rezeption des Comics oft vergessen: Der Comic avancierte zur Ikone des sogenannten yellow journalism und wurde folglich mit der reißerischen Berichterstattung in der Yellow Press, die geringen Wert auf Sozialkritik legt, in Verbindung gebracht (vgl. Harvey 2016).star (*13)

Indem Baetens in seiner Definition die Graphic Novel von ‚lustigen Comics‘ abgrenzt, ohne dabei die gemeinsamen Wurzeln zu bedenken, konstruiert er verschiedene Entwicklungen des Comics und der Graphic Novel – die Genese der Graphic Novel bezieht er damit auf eine andere Tradition und zwar „that of visual print culture and visual storytelling by way of engraving. This tradition is much older than the comics, which started at the end of the nineteenth century […]“ (Baetens 2011: 1138).star (*1) Nun zeigt jedoch bereits ein erster kursorischer Blick, dass selbst Rodolphe Töpffer, den Baetens als einen der Gründungsväter von „graphic literature“ nennt (ebd.: 1138),star (*1) dem Humor nicht abgetan war: Seine Bild-Text-Erzählung Histoire de Monsieur Jabot (1833) zeigt – von Molières Le Bourgeois gentilhomme inspiriert – die Abenteuer des bürgerlichen Monsieur Jabot, eines eitlen Einfaltspinsels, der (vergeblich) versucht, sich in aristokratische Kreise zu mengen. Indem Baetens das Kriterium der ‚Ernsthaftigkeit‘ (wohl gleichbedeutend mit ‚ernstzunehmend‘ bzw. ‚nicht komisch‘) postuliert, disqualifiziert er eine Schreibweise als Marker für Literarizität. Wenngleich eine derartige Distinktionsstrategie auf den ersten Blick überrascht, zeigt sich hier eine gewisse Kontinuität innerhalb der Bewertung von Comics. So wurden innerhalb des Bereichs des franko-belgischen Comics der 1960er und 1970er-Jahre die als ‚literarisch‘ konnotierten Comics von Hergé (Tintin alias Tim und Struppi) oder eines Edgar P. Jacobs (Blake und Mortimer) den als trivialer dargestellten Humorcomics (Comics ‚mit großen Nasen‘*5 *(5)) gegenübergestellt.

So absurd diese Klassifikationsversuche auf den ersten Blick scheinen mögen, so effizient sind sie auf den zweiten Blick: Die Nobilitierung des Comics vulgo Graphic Novel als ernsthafte Kunstform, die sich auf ernsthafte Stoffe bezieht, in ästhetischer Hinsicht von Trivialisierung absieht (Absenz von Humor) und sich in ihrer Materialität an das konventionelle Buchformat angepasst hat, spiegelt sich in einem rapiden Anstieg an Produktion: Am amerikanischen Buchmarkt hat sich der Anteil an Graphic Novels zwischen 2001 und 2010 verfünffacht (Guilbert 2012: 97).star (*12) Auffällig ist die Ähnlichkeit mit der vergleichbar rasch ansteigenden Romanproduktion nach Etablierung des Genres: Franco Moretti hat in seinen quantitativen Studien gezeigt, dass sich die Zahl der Romanveröffentlichungen in Großbritannien, Japan, Spanien und Italien innerhalb von rund 20 Jahren zu unterschiedlichen Zeitpunkten (18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts) vervierfacht hat (Moretti 2013: 68ff.).star (*15)

Ausblick …

Diese Überlegungen führen uns zu der Feststellung, dass sich der Begriff ‚Graphic Novel‘ im Sinne der oben angestellten Beobachtungen als exkludierender Terminus erweist, der dazu beitragen kann, bestehende (ästhetische, formale, inhaltliche, etc.) Nuancen im Comicbereich zu nivellieren. Gleichzeitig kann das Medium des Comic jedoch für Neuerungen in genannten Bereichen geöffnet werden. Punktuelle Vergleiche mit Entwicklungen in der Literaturgeschichte könnten weiter dazu beitragen, Debatten um die Graphic Novel zu erhellen. Dazu werden wir zu einem späteren Zeitpunkt weiterarbeiten.

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Zu einer sozioanalytischen Perspektivierung des Begriffs ‚Graphic Novel‘ sowie zu Prozessen der Autonomisierung innerhalb des Feldes der Comicproduktion siehe Becker 2010.

Die von Richard Kyle bereits 1964 vorgenommene Verwendung des Begriffs war Eisner nicht bekannt. (Groensteen 2012)

Es gibt keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Aspekt; diese Schätzung basiert auf Beobachtungen und Erfahrungsberichten von österreichischen Comicschaffenden.

Ein zeitgenössisches Beispiel ist jener Teil der japanischen Manga-Produktion, den Leser_innen unter anderem am Morgen in der U-Bahn am Weg zur Arbeit lesen und anschließend entsorgen – ähnlich wie im Falle von kostenlosen U-Bahn-Zeitungen hierzulande.

Die humoristischen Comics aus dem Umfeld der  Revue Spirou bzw. der sogenannten Marcinelle-Schule werden oftmals als ‚Comics mit großen Nasen‘ bezeichnet. Die Comicrevue Journal de Tintin, welche sich in Konkurrenz zu Spirou befand und vornehmlich Comics von Hergé und Edgar P. Jacobs veröffentlichte, setzte hingegen auf einen ernsteren, ‚literarischen‘ Ton (Delisle 2007: 131).

Bettina Egger, Johanna Öttl ( 2017): Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs. Ein Wissenschaftslogbuch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/graphic-novel-zur-popularisierung-eines-neuen-begriffs/