„Man muss jenseits der Politik agieren“

Der Journalist und Medienkritiker simon INOU im Gespräch mit Anita Moser über (Selbst‑)Ermächtigung, Rassismen und kulturelle Teilhabe „aller“

simon INOU engagiert sich seit über 20 Jahren gegen Rassismus und die Diskriminierung von Schwarzen in Österreich, unter anderem als Mitbegründer und Chefredakteur von Afrikanet.info, dem ersten Informationsportal über Menschen afrikanischer Herkunft und ihre Diaspora im deutschsprachigen Raum, oder im Rahmen verschiedener Projekte des von ihm gegründeten Vereins zur Förderung interkultureller Medienarbeit M-MEDIA. Ein wichtiger Fokus seiner Arbeit ist, Migrant_innen und deren Perspektiven in Mainstream-Medien sichtbar zu machen. Dabei ist Selbstermächtigung zentral, was für simon INOU nicht nur bedeutet, als Migrant oder Migrantin selbst zu Wort zu kommen, sondern auch die Sprache zu bestimmen, in der über Migrant_innen gesprochen wird. Über Möglichkeiten der (Selbst‑)Ermächtigung, Rassismen, kulturelle Teilhabe „aller“ und die größten Hürden dabei sowie Wünsche in Bezug auf Salzburg spricht er im folgenden Interview.

Was bedeutet für dich „Kunst und Kultur für alle“ in einem allgemeinen Sinn und in Bezug auf Salzburg?

Für mich bedeutet „Kunst und Kultur für alle“ erstens die Möglichkeit, sich mit allen, die im Land Salzburg oder auch in anderen Bundesländern wohnen, und mit deren Lebenswirklichkeiten vor Ort aktiv auseinanderzusetzen. Zweitens, dass sich alle diese Menschen eingeladen fühlen teilzuhaben und drittens mitgestalten oder sogar selbst gestalten können. Wenn ich mich als „Fremder“ – ich rede jetzt aus meiner afrikanisch-kamerunischen Perspektive –, der in Salzburg oder in Wien lebt, nicht eingeladen fühle, mitzugestalten, nehme ich mir das Recht zu gestalten. Gestalten bedeutet für mich auch, dass ich jenseits traditioneller Grenzen gehe.

Mein Verständnis von Kultur in diesem Zusammenhang ist, dass wir nicht den klassischen Weg gehen sollten. Wir sind in einem Land, ob in Salzburg oder in Wien, in dem wir es mit einem „harmoniesüchtigen“ Kulturbegriff zu tun haben. Alles, was schön ist, ist – unhinterfragt – willkommen. Alles, was jenseits des sogenannten Kanons liegt, ist nicht willkommen. Meine Aufgabe ist es, diese Grenzen aufzubrechen und zu hinterfragen.

An wen denkst du bei dem Begriff „alle“?

Wenn es um Kultur oder die Definition von Kunst und Kultur in einer Stadt geht, brauchen wir klarerweise nicht nur die, die im Mainstream sind, sondern auch die, die jenseits dieses Spektrums agieren. Das sind Migrantinnen und Migranten wie ich, oder Flüchtlinge, die aus anderen Nationen kommen, das sind Frauen, die teilweise aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, das sind Menschen mit Behinderungen oder mit anderen Religionsbekenntnissen. Wenn ich jetzt anfangen würde, das auf Individuen zu reduzieren, beträfe das wohl alle Bevölkerungsschichten, die in Salzburg leben.

Du sagst, man müsse sich eingeladen fühlen, mitzugestalten. Wie kann ein Klima geschaffen werden, so dass sich Menschen dazu eingeladen fühlen?

Ich nenne ein einfaches Beispiel. Ich komme aus Kamerun und habe in Österreich Asyl bekommen. Wie werde ich als Kameruner, also aus einem afrikanischen Land, hier in dieser Gesellschaft wahrgenommen? Der erste Schock ist, dass Leute hier – wie ich in verschiedenen Workshops an Schulen feststelle – überhaupt nichts mit Kamerun und Afrika anfangen können. Afrika kennt man aus den Medien und es ist immer mit Armut verbunden. Ich frage mich: „Wie kann ich da auf einer kleinen Ebene etwas verändern? Gibt es Möglichkeiten, Projekte zu machen bzw. eine Finanzierung dafür zu erhalten, um andere Meinungen zu verbreiten?“ Man stellt fest, dass es dazu wenige Möglichkeiten gibt, weil es im Stadtbudget nicht eingeplant ist. Dieses ist eher an größeren, traditionellen Gruppen orientiert. Wenn ich mit einem konkreten Projekt und dem Anliegen, es zu unterstützen, zur Stadt gehe und die Antwort nein ist, ist es für mich klar, dass ich nicht eingeladen bin. Das heißt, für mich ist die Einladung nicht, dass ich zu Hause sitze und warte, dass die Stadt zu mir kommt und sagt „Mach das!“, sondern die Frage, was ich beitragen kann, und ob die Stadt dafür Interesse zeigt.

Es gäbe auch die Möglichkeit, dass die Stadt etwas initiiert, dass sie in verschiedene Communities geht und sagt: „Wir brauchen euch. Salzburg sind wir, aber Salzburg seid auch ihr. Kommt vorbei und schauen wir gemeinsam, was wir für diese Stadt machen können.“ Ein weiterer Punkt ist, dass die Stadt sich in Bezug auf die Einladungspolitik in Richtung neuer Communities bewegen sollte. Es ist wichtig, zu sehen, dass es neue Communities gibt. Diese Menschen sind möglicherweise entweder aus Fluchtgründen nach Salzburg gekommen oder einfach immigriert oder sind hier, um zu studieren. Das sind Leute, die man stark einbinden kann, was für mich auch bedeutet, dass man mit jenen Institutionen zusammenarbeitet, wo diese Menschen zu finden sind. Das sind zum Beispiel Universitäten, Vereine von Communities, manchmal auch Medien. Gleichzeitig aber ist wichtig, wie gesagt, nicht zuhause zu sitzen und zu warten, dass die Stadt zu dir kommt.

Kannst du Beispiele für so ein Initiativwerden nennen?

Ich habe in Wien von 2007 bis 2012 bei der Tageszeitung Die Presse eine wöchentliche Seite namens Migranten schreiben für die Tageszeitung „Die Presse“ als Projekt initiiert. Damals waren Migration und Diversität in Zeitungen und Medien noch nicht so „in“. Ich habe mir gesagt: „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ich schimpfe mein ganzes Leben lang, dass Österreich so schlecht ist, oder ich überlege mir ein Projekt und gehe von Tür zu Tür und frage einfach Leute, ob sie mitmachen wollen.“ Im Projekt sind wir davon ausgegangen, dass die Bilder, die wir über Migrant_innen haben, durch Medien entstehen, und es gut wäre, wenn die Medien eine „Integrationsleistung“ erbringen würden. Ich bin bei den Medien von Tür zu Tür gegangen, bis dann Die Presse ja gesagt hat. Für die linksliberalen Medien, die ich damals kontaktierte, war es nicht interessant. Ich war positiv überrascht, dass Die Presse – damals unter der Leitung von Michael Fleischhacker als Chefredakteur – sagte, das sei das Thema der Zukunft und Redakteur_innen brauchen diese Perspektive. Dann ging ich mit dem Konzept zur Stadt Wien und fragte, ob sie Interesse hätte. Ich konnte die Integrationsabteilung und die Medienabteilung der Stadt Wien für das Projekt gewinnen.

Bei einem anderen Beispiel geht es darum, Rassismus in Österreich an öffentlichen Schulen zu bekämpfen. Vor drei Jahren habe ich festgestellt, dass es in den Schulbüchern ein Problem in Bezug auf Rassismen gibt. Ich habe ein Projekt konzipiert und Termine mit Schulbuchherausgeber_innen und dem Bildungsministerium vereinbart. Es ist ein riesiges Projekt, da in Österreich fast 8000 Schulbücher herausgegeben werden. Am Anfang war der Widerstand heftig und groß! Aber ich bin drangeblieben. Wir können nicht jeden Tag sagen, wir brauchen eine rassismusfreie Gesellschaft und gleichzeitig in den Schulbüchern Rassismus-Inhalte verbreiten. Wenn wir in Bezug auf Antirassismus innerhalb unserer Gesellschaft langfristig arbeiten wollen, müssen wir das Thema Diskriminierungen in Schulbüchern ernsthaft angehen. Es geht nicht nur um Rassismus, sondern auch um Antisemitismus und Homophobie. Es ist viel zu tun!

Wichtig für unser Projekt war, dass das Diskriminierungsverbot und die Bekämpfung von Rassismus in Österreich im Artikel 7 der Verfassung stehen. Das heißt, was die verschiedensten Herausgeber machen, ist eigentlich verfassungswidrig! Das war dann der Grund, warum manche gesagt haben: „Wir müssen etwas tun.“ Es gab viele Diskussionen zwischen uns Projektmitarbeiter_innen und Repräsentant_innen von österreichischen Schulbuchherausgeber_innen, aber wir haben gemeinsam einen Weg gefunden. Es geht darum, dass man auch Neues entwickelt – etwas hat dann vielleicht zuerst einmal meine Perspektive, aber man braucht zusätzlich immer auch die österreichische Perspektive. Ich sage immer, wenn es um das Gemeinsame geht, muss man unbedingt die andere Perspektive hinzufügen.

Siehst du in Bezug auf kulturelle Teilhabe und eigene Projekte Unterschiede zwischen ländlichen Räumen und städtischen Gebieten?

Zwischen Stadt und Land sehe ich keinen großen Unterschied, außer dass es im ländlichen Bereich nicht das breite Spektrum an Angeboten gibt. Bei meinen Urlauben in Österreich, die ich immer im ländlichen Raum verbrachte, habe ich festgestellt, dass die Menschen einfach extrem neugierig sind. Eigentlich beginnt das Leben für mich, wenn Leute neugierig werden. Zum Beispiel habe ich mit einem Bauern auf 1200 Metern in den Bergen im Norden von Kärnten diskutiert, wie das Leben der Bäuerinnen in Kamerun ist. Ich habe dort auch mit ihm oder mit seiner Familie gearbeitet, wir haben Heu transportiert, wir waren gemeinsam in der Kirche – es war eine evangelische Kirche, ich bin römisch-katholisch. Plötzlich gab es im Dorf vom Pfarrer Interesse: „simon, vielleicht kannst du uns zeigen, wie man in Kamerun lebt?“ Über die Kirche habe ich viele Kinder im Dorf erreicht. Ich war in fünf Jahren dort mehrmals auf Urlaub und jedes Mal gab es einen Kamerun-Schwerpunkt.

Schwierig ist das Politische im ländlichen Raum. Wenn man versuchen würde, jenseits des politischen Spektrums zu agieren, könnte man viel gewinnen. Die Politik polarisiert extrem. Kulturelles Kennenlernen funktioniert aber gut. Wenn ich in Wien oder außerhalb von Wien Gespräche mit Politiker_innen aus der konservativen Ecke habe, trage ich im Sommer meine Lederhose. Da passiert dann etwas Anderes, als wenn ich komme und sage: „Ich will jetzt mit meinen Ideen imponieren.“ Es geht um die Art und Weise, wie wir jenseits dieses sogenannten „Du musst dich anpassen“ agieren können, um zu einem gemeinsamen Nenner zu kommen. Und der gemeinsame Nenner ist immer die Neugierde und die Art und Weise, wie wir mit anderen umgehen. Wenn man es im ländlichen Raum nicht extrem politisch anlegt, hat man viel mehr Möglichkeiten in Bezug auf Begegnungen. Ich glaube, die beste Möglichkeit, wie wir zusammenkommen, ist jenseits der Politiksprache zu agieren.

Kennst du in Salzburg ein Projekt, das wichtige Impulse gesetzt hat?

Ich kenne eine Initiative in Salzburg, die jedes Jahr Schlittenfahren für Afrikaner organsiert. Diese Afrikanischen Rodelmeisterschaften sind das Projekt eines Salzburgers. Ich war einmal dabei und fand super, dass er das macht. Afrikaner_innen lernen dabei auch Ski zu fahren und parallel gibt es einige andere Aktivitäten. Das Projekt wird jedes Jahr größer und in den letzten zwei Jahren kamen sogar Leute aus Großbritannien und Deutschland zu der Afrikanischen Rodelmeisterschaft.

In deiner Arbeit ist unter anderem die mediale Entghettoisierung ein wichtiges Thema. Kannst du kurz umreißen, was darunter zu verstehen ist?

Als ich nach Österreich kam, habe ich festgestellt, dass Mainstream-Medien genauso wie Migrant_innen-Medien in ihren eigenen Ghettos leben. Jeder berichtet nur über die eigene Community, über eigene Veranstaltungen und darüber, was für sie kulturell wichtig ist. Das ist schön und gut, aber wir sind in Österreich, wo die Möglichkeit gegeben ist, dass wir zusammenkommen. Das bedeutet für mich, dass auf der einen Seite die Journalisten der Mainstream-Medien viel mehr lernen sollten, über Nicht-Mainstream-Gesellschaften zu berichten. Wenn wir verallgemeinern und von „schwarzafrikanischen Drogendealern“ und „muslimischen Terroristen“ sprechen, was auch in Qualitätszeitungen passiert, schaden wir beiden Communities. Daher wollte ich das ändern, indem wir beide Medien entghettoisieren. Das bedeutet, dass wir Redakteur_innen beider Medienwelten zusammenbringen. Es ist wichtig, dass Journalisten von Mainstream-Medien jenseits ihrer eigenen Ghettos gehen und Perspektiven verschiedener Communities – und worüber in diesen berichtet wird – kennen lernen. Ich habe manchen Journalisten in Österreich geholfen, die afrikanische Community besser zu verstehen. Auf der anderen Seite habe ich junge Journalisten aus der afrikanischen Community in die Mainstream-Medien hineingebracht, genauso wie junge türkische Journalisten sowie bosnische, kroatische oder serbische – damit wir diese starren Grenzen aufbrechen und mit Respekt und jenseits von Verallgemeinerungen journalistisch arbeiten.

Kannst du etwas mehr zu deinen diesbezüglichen Projekten erzählen?

Ich hatte 2008 ein Projekt zu der Frage: „Wie kann ich die Medienproduktion von Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich sichtbar machen?“ Ich dachte, ich gehe einfach in die verschiedenen ethnischen Lokale in Wien und schaue, welche Zeitungen hier produziert werden. Am Anfang waren es ungefähr 15 Zeitungen von den verschiedensten Communities in Wien, von der jüdischen bis zur türkischen. Ich bin dann zu Herausgebern und Redaktionen gegangen. Die Frage eines türkischen Herausgebers faszinierte mich: „simon, du als Afrikaner, was suchst du überhaupt bei den Türken?“ Ich habe gesagt: „Ich bin Medienmacher, du bist Medienmacher, aber anscheinend wissen da draußen nicht viele, dass wir Medienmacher sind. Man reduziert die Medienmacherei auf bestimmte Institutionen. Wir müssen das sichtbar machen!“ Daher habe ich die Medien.Messe.Migration organisiert und auch die sogenannten Mainstream-Medien dazu geholt und gesagt: „Diskutieren wir darüber: Wie viele Migranten habt ihr in der Redaktion?“ Das ist interessant – für die Mainstreamgesellschaft wie für die Nicht-Mainstreamgesellschaft. Oft fehlt nur der gemeinsame Nenner. In diesem Fall war der gemeinsame Nenner Medienproduktion.

Auch die sogenannten freien Medien können hier eine wichtige Rolle spielen. Meiner Meinung nach sollten freie Medien mit Qualitätsmedien stark kooperieren, damit die Themen zusammenkommen und damit sie eine große Masse erreichen. Wir wissen, dass die freien Medien vielleicht die kritische, aber nicht die breite Masse erreichen. Ich glaube, die Masse, die wir brauchen, ist nicht die der Standard– oder Falter-Leser_innen, sondern die der Krone-Leser_innen. In Bezug auf Radio denke ich an Ö1. Der ORF hat öffentlich-rechtliche Aufgaben zu erfüllen. Das schafft er nicht allein, wir von Radio Orange, wo ich die Ausbildungsabteilung leite, übernehmen einen Teil davon. Ich finde es wichtig, dass wir jenseits unserer eigenen Grenzen gehen.

Was verstehst du unter medialer Ermächtigung und welche Strategien gibt es dabei?

Mediale Ermächtigung bedeutet für mich, dass ich auf der einen Seite Journalist_innen unterstütze, die zum Beispiel im Bereich der Chronikredaktionen über Migrant_innen berichten. Das heißt, dass wir sie in verschiedenste Workshops einladen, um uns mit ihnen diesbezüglich auseinanderzusetzen. Wir kontaktieren journalistische Institutionen, um mit ihnen eigene Programme zu entwickeln. Wir haben das oft in verschiedenen Zeitungen gemacht, wo wir Black Critique*1 *(1) gemacht haben. Ich glaube jede Zeitung ist glücklich, wenn Außenstehende Black Critique üben. Damit habe ich zumindest in Wien auch gute Erfahrungen gemacht.

Strategien gibt es mehrere. Für mich ist die erste Strategie, den ersten Schritt zu machen und der/dem Chefredakteur_in meine Idee vorzustellen. Man braucht in den Medien natürlich Menschen, die sich das anhören wollen. Vielleicht ist der Chefredakteur nicht offen dafür, aber der Herausgeber? Wenn ich sage, ich würde jetzt gerne eine Beilage zum Thema Muslime in Österreich machen, ist klar, dass manche das nicht wollen. Gleichzeitig argumentiere ich, dass es 500.000 Muslime in Österreich gibt. Ist es nicht ökonomisch gut für dich und deine Zeitung? Die Ökonomie spielt also eine weitere wichtige Rolle im Bereich der Strategie. Die dritte Strategie ist die politische Perspektive. Ich frage mich: „Brauche ich immer die Politik, um etwas machen zu können?“ Wenn ich überlege, heute eine Beilage über Muslime in Österreich zu initiieren, ist das nicht machbar. Wir haben Schwarz-Blau. Wer hätte da Interesse? Die Mainstream-Medien haben Angst, dass ihnen, wenn sie das Thema irgendwie berühren, vielleicht Anzeigen verloren gehen. Sie sind auch abhängig von Ministerien und von Förderungen. Wir sollten der Politik aber nicht zu viel Bedeutung geben. Es ist wichtig, sich in der Arbeit im Kunst- und Kulturbereich nicht von der Politik beeinflussen zu lassen, auch wenn sie das Geld, die Höhe der Förderungen usw. bestimmt. Wir können politisch nichts tun, wir können nur künstlerisch und kulturell etwas tun. Man muss jenseits der Politik agieren. Der vierte Punkt in Bezug auf Strategien ist für mich, Menschen einzubinden, die als Erstes betroffen sind. Wenn ich beim Beispiel von vorhin bleibe und eine Beilage innerhalb einer unabhängigen Zeitung machen will, werde ich primär Menschen einladen, um die es geht: Muslime. Erst an zweiter Stelle kommen Nicht-Muslime. Denn es geht hier um Selbstermächtigung. Das bedeutet aus meiner Perspektive, dass die, die betroffen sind, zu Wort kommen und die Sprache, in der über sie gesprochen wird, selbst bestimmen können.

Wo liegen die größten Hürden oder Herausforderungen für so ein Projekt oder, allgemeiner gefragt, für Teilhabe von „allen“ in Kunst und Kultur?

Die größte Hürde sind unsere Vorurteile gegenüber diesen Themen und gegenüber diesen Menschen. Man muss in der Gesellschaft viel Überzeugungsarbeit leisten! Ich denke, dass das Anliegen eines Kunst- und Kulturprojektes auch ist, dass man die eigene Perspektive auf bestimmte Sachen ablegt und sich sagt: „Stell dich auf die andere Seite. Wie siehst du das dann?“ Es braucht Zeit, bis die Leute bereit sind, etwas aus der anderen Perspektive zu betrachten. Das dauert und ist nicht so einfach. Aber ist der Kunst- und Kulturbereich etwas Einfaches? Nein.

Das heißt, die größte Hürde für mich liegt in den Köpfen, in der Sozialisationsperspektive einer Person in Bezug auf das Thema. Wenn ich in meinen Workshops zum Beispiel thematisiere, dass Ägypten in Afrika liegt, dass eine der brillantesten Zivilisationen der Welt eine afrikanische Zivilisation ist, sind Leute oft überrascht. Weil in verschiedensten Schulbüchern nur Ägypten steht und nicht, dass das Land in Afrika ist. Und wenn wir auf die Afrika-Karte schauen, kommt: „Ach so, ja!“ Deshalb glaube ich, das Mindset ist immer die größte Hürde. Es zu verändern, nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Man müsste eigentlich eine Art von langfristiger Öffentlichkeitsarbeit machen.

Welche Visionen und Wünsche hast du in Bezug auf kulturelle Teilhabe in Salzburg?

In Bezug auf Salzburg wünsche ich mir konkret, dass wir es mit der musikalischen Ikone Mozart aufnehmen und jenseits von den normalen klassischen Rezitationen agieren. Man sollte schauen, wie Mozart weltweit rezipiert wird und dazu eine große Ausstellung im öffentlichen Raum von Salzburg machen, also dort, wo sie gut sichtbar ist. Mozart in Indien, vielleicht gibt es musikalische Darbietungen dazu, Mozart in Südafrika, Mozart in Senegal, Mozart in den USA, Mozart bei den Pygmäen. Wir können nicht immer wiederholen, was vor mehr als zwei-, dreihundert Jahren passiert ist. Wir müssen auch in der Lage sein, zu sagen: „Interpretieren wir Mozart anders!“ Mozart hat vor mehr als 250 Jahren das und das gesagt, aber wie sehe ich Mozart aus einer kamerunischen Perspektive? Wie sehe ich ihn aus einer Perspektive, die nicht österreichisch ist? Ich habe vor kurzem mit einem Künstler gesprochen, der die afrikanische Trommel Djembé spielt. Er erzählte, dass er damit in Paris jahrelang in einem klassischen Orchester gespielt hat. Er begleitet Mozart mit Djembé. Ich glaube, Kunst und Kultur ermöglicht, jenseits der eigenen Grenzen zu gehen und dort die spannendsten Sachen zu erleben.

Mein zweiter Wunsch wäre, dass Medien in Salzburg anfangen, sich mit der Realität in Salzburg jenseits von plakativen Meldungen auseinanderzusetzen, zum Beispiel im Rahmen eines Projektes, das von einem Salzburger Institut initiiert und mit den Salzburger Nachrichten oder mit einem anderen Medium in Salzburg umgesetzt wird. Meine Vision wäre auch, dass die Salzburger Nachrichten zum Beispiel einen Tag lang von einem anderen Redaktionsteam geleitet werden. Welche Themen kommen dann vor? Das wäre interessant. Man kann das umsetzen, indem man Stars wie David Alaba als Chefredakteur für einen Tag einlädt, eine Person, die für diese Themen sensibilisiert und bekannt ist. Das kann durch eine Person von der Universität begleitet werden. Wenn ich österreichweit denke, brauchen wir klarerweise im Medienbereich Diversity-Beauftragte. In Zeiten von Diversität muss man das haben, auch beim ORF. In Europa gibt es sehr viele Medien, die in diesem Bereich etwas machen.

Mein dritter Wunsch wäre, dass in Salzburg Vereine, die im Bereich Musik jenseits von Folklore aktiv sind, zu den Salzburger Festspielen eingeladen werden. 2017 gab es dort einen amerikanischen Regisseur, der mit schwarzen Schauspielern gearbeitet hat. Das war wirklich sehr gut. Man sollte die, die der sogenannte „Rand“ der Gesellschaft sind, in das Zentrum holen, indem man sagt: „Ihr seid in Salzburg willkommen, gestalten wir diese Sache zumindest für einen Tag zusammen. Schauen wir, was herauskommt.“ Das wird ein anderes Flair geben, jenseits des sogenannten klassischen Weges.

Danke für das Gespräch!

Das Konzept der Black Critique kommt aus den Postcolonial Studies und den Black Studies und plädiert für die Rezeption soziologischer Phänomene vor dem Erfahrungshintergrund von Schwarzen. Black Critique „is aimed at transforming the conditions of enunciation at the level of the sign“, sagt Homi Bhabha (1994: 247), „not simply setting up new symbols of identity, new ‘positive images’ that fuel an unreflective ‘identity politics’”.

Anita Moser, simon INOU ( 2018): „Man muss jenseits der Politik agieren“. Der Journalist und Medienkritiker simon INOU im Gespräch mit Anita Moser über (Selbst‑)Ermächtigung, Rassismen und kulturelle Teilhabe „aller“ . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/man-muss-jenseits-der-politik-agieren/