Wer hat die Deutungshoheit, die Herrschaftsmacht und die Sprech*position, um Kultur zu schaffen oder sie zu demokratisieren?

Eva Egermann im Interview mit Dilara Akarçeşme und Persson Perry Baumgartinger

Was bedeutet kulturelle Teilhabe in Salzburg und darüber hinaus? Welche Rolle spielt der Körper dabei? Was können Disability und Crip Theory zum Thema beitragen? In diesem Gespräch teilt Eva Egermann ihr Wissen über (Körper-)Normierungen als eines der wirkmächtigsten Konzepte der Moderne, involvierende Kunstpraktiken, Begrifflichkeiten sowie barrierearme Zugänge.

Eva Egermann ist Künstlerin und lehrte an Hochschulen in Wien, Linz, Luzern, Zürich und Innsbruck. Sie initiierte zahlreiche künstlerische Projekte, Publikationen oder kuratorische Projekte und war Teil verschiedener Kollaborationen (wie z.B. der Manoa Free University oder der Gruppe Girls on Horses). Sie war Visiting Researcher an der U.C. Berkeley und absolviert ein PhD in Practice Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien. In recherchebasierten künstlerischen Projekten beschäftigte sie sich mit Aneignungen, Sozialen Bewegungen und Popkulturen, die mit Krankheit und Behinderung zu tun haben. Verschiedenste Materialien finden sich in ihren Projekten wieder, re-inszeniert, überarbeitet, zum Beispiel in Form des Crip Magazine, das sie herausgibt.

Coverdesign Crip Magazine Ausgabe 2

Eva Egermann, Coverdesign Crip Magazine #2 von Anna Voswinckel, 2017.

 

Was bedeutet für dich „Kultur für alle“ bzw. kulturelle Teilhabe in Salzburg und darüber hinaus? Was fällt dir dazu ein?

Mein Hintergrund ist der einer bildenden Künstlerin, die an einer Kunstuniversität studiert hat. Ich habe konzeptuelle Kunst und Medienkunst studiert; d.h. konzeptuelle, partizipative und ortsbezogene Kunstpraktiken der 1990er Jahren, die u.a. die Öffentlichkeit involvierten und mit öffentlichen Diskursen, öffentlicher Wahrnehmung oder Medien arbeiteten, waren wichtig für meine Sozialisation als politisch involvierte, (post-)konzeptuelle und recherchebasierte Künstlerin. Damit war in gewissem Sinn auch ein erweiterter Kunstbegriff gemeint, bzw. eine erweiterte Interpretation von künstlerischer Praxis, also über klassische Disziplinen wie Malerei oder Fotografie hinaus. Partizipation und die Frage danach, an wen sich Kunst richtet bzw. wen sie ansprichtund wo sie stattfindet, wo sie aufgeführt wird und wer zu diesen Orten Zugang hat, war für diese Auseinandersetzung natürlich ebenso wichtig.

Aus dem Verständnis als bildende Künstlerin finde ich die Sichtweise interessant, dass erst eine Öffentlichkeit bzw. die Rezeption (bzw. das Lesen) eines Kunstwerks dieses vollständig macht (bzw. es entstehen lässt, wie es z.B. Roland Barthes mit der Dekonstruktion der Autorenschaft beschreibt). Dass in dem Zwischenraum von Arbeit und Betrachter*in etwas stattfindet, ist wichtig. Im besten Fall spannt sich eine Art relationaler Raum auf (Lefebvre).

Wenn man von „Kunst und Kultur in Salzburg“ spricht, ist meine erste Assoziation natürlich der städtische, öffentliche Raum, aber auch die Rolle, die Kunst im Stadtmarketing zukommt, bzw. dem Schaffen von „besonderen“ Orten dient.

GirlsOnHorses (Elke Auer, Eva Egermann, Esther Straganz, Julia Wieger), Was ist ein Cyborg Platz? Plakatprojekt im öffentlichen Raum, 2007, BORG Platz und Stadtraum Wiener Neustadt, im Rahmen von: „Was ist ein Platz?“ Kunst im öffentlichen Raum.

Man könnte sagen, dass der öffentliche Raum „allen“ zugänglich ist. In der Moderne meinte man mit Kunst im öffentlichen Raum v.a. Skulpturen, die einen städtischen Platz sprichwörtlich behübschen sollten (drop-sculpture). Ab den 60er Jahren kam vermehrt die Diskussion um ortsspezifische (site-specific) Kunstpraktiken auf, die quasi einen gewissen Ort, einen öffentlichen Raum, der auch medial sein kann, in die Idee involvierten bzw. in das Konzept oder in die Bedeutung eines Kunstwerks. U.a. Miwon Kwon oder Rosalyn haben dazu geschrieben. Dort geht es z.B. um den erweiterten Skulpturbegriff oder Kunst im öffentlichen Interesse. Der Paradigmenwechsel bestand eben darin, über den Ort bzw. Öffentlichkeit oder Rezipient*innenschaft einer künstlerischen Arbeit anders nachzudenken: Was sich dort abspielt, wer sich dort aufhält, welche Art von Öffentlichkeiten angesprochen werden, sind dementsprechend für die künstlerische Arbeit zentral und Teil davon. Man sagte, dass die Arbeit nur an diesem gewissen Ort existiert, weil sie sonst nicht vollständig ist. Das ging beispielsweise bis zu Gerichtsverhandlungen über eine Skulptur am Public Federal Plaza in New York von Richard Serra. Im Zuge dessen wurde ausdefiniert, dass es, so wie es materielle Zutaten einer künstlerischen Arbeit gibt, auch örtliche bzw. räumliche Zutaten einer Arbeit gibt. Sie ist quasi erst komplett an diesem einen Ort, weil sie dafür gemacht wurde, es Teil ihres konzeptuellen Inhalts ist.

Auch wandelnde Diskussionen über die Bedeutung des öffentlichen Raums sind in dem Zusammenhang interessant: Während Habermas 1962 vom Strukturwandel der Öffentlichkeit schreibt, plädiert z.B. Chantal Mouffe heute für eine „Agonistic Public Sphere“, wie sie es nennt. Öffentlichkeit würde dann entstehen, wenn eine Art Konflikt geäußert wird und sich dieser öffentlich materialisiert. Also wenn sich verschiedene Meinungen bilden und Diskussionen stattfinden. Das können Kunst- und Kulturprojekte im besten Fall tun, Konflikte sichtbar machen bzw. an die Oberfläche holen, finde ich.

GirlsOnHorses (Elke Auer, Eva Egermann, Esther Straganz, Julia Wieger), Wir haben Fragen, Was habt ihr? Im Rahmen von: Kunstmarkt Am Schöpfwerk 2007.

 

Meine Projekte wie das Crip Magazine und andere künstlerische Arbeiten beziehen sich in den letzten Jahren im weitesten Sinn thematisch auf Körper, Körpernormen, Ableismus und Diskurse aus den Disability Studies und der Crip Theory. Die Behindertenrechtsbewegung war ja u.a. geprägt von der Forderung „Nichts über uns ohne uns“. Dementsprechend ist es nach wie vor wichtig, auch Teilhabe und Zugang zu Sprecher*innenpositionen einzufordern, sei es in Kunst, Wissenschaft, politischen Funktionen oder anderen Feldern.

Man könnte euer Thema „Kultur für alle“ vielleicht auch anhand der Begrifflichkeiten aufarbeiten. Was impliziert es, dass jemand etwas für jemanden oder für eine Bevölkerungsgruppe macht? Das wäre zu definieren. Wer sind diejenigen, die Kultur produzieren? Wer ist in der Position, sie zu konsumieren? „Für“ ist u.a. mit Fürsorge konnotiert und impliziert eine starke Trennung von Produzent*innen- und Rezipient*innenschaft. In der Position Rezipient*in wird man quasi mit Kultur versorgt. Für Menschen mit Behinderung gibt es hier ein starkes Gefälle. Die Möglichkeit zu besitzen, aus diesem passiven Verhältnis heraus und selbst in die Rolle der Produzent*in bzw. Sprecher*in zu kommen, ist enorm wichtig.

Volker Schönwiese, Wenn du glaubst du bist normal,…, Seite 27 Crip Magazine #2, 2017.
Pro 21 Kampfassistenz, Fuck Sexklusion, Seite 27 Crip Magazine #2 , 2017.

 

Natürlich geht es prinzipiell darum, die Rezeption von Kunst- und Kulturproduktion für alle zugänglich zu machen. Aber das ist nur der erste Schritt. Was braucht es, um diesen Zugang in jeder Hinsicht zu schaffen, seien es sprachliche, bauliche oder Verständnisbarrieren? Daneben müsste auch hinterfragt werden, wer die Deutungshoheit, die Herrschaftsmacht und die Sprecherposition hat, Kultur zu schaffen oder sie zu demokratisieren. Es ginge eben auch darum, die Produzent*innenschaft von Kultur für alle zugänglich zu machen und zu demokratisieren.

Wenn man von Zugängen spricht, denkt man zuallererst an bauliche Barrieren. Kulturprojekte finden oft dort statt, wo man ohne Hilfe nicht hineinkann. Das ist die erste Hürde bzw. das erste Ausschlusskriterium. Rollstuhlfahrer*innen sind damit schon mal ausgeschlossen. Daneben gibt es so viele weitere Hürden, wie etwa die Sprache. Abgesehen davon hat Kunst ja auch die Möglichkeit, andere Ebenen der Kommunikation bzw. Wahrnehmungsweisen anzusprechen und kann Emotionen und Situationen erzeugen.

Projekte in jeder Hinsicht barrierefrei zu gestalten, ist natürlich auch eine Herausforderung. Ich weiß, dass das viele v.a. selbst-organisierte freie Kulturarbeiter*innen sehr stresst, weil es – neben der Selbstausbeutung – einfach nicht die Ressourcen gibt, das zu gewährleisten und natürlich gibt es sehr viel Scheu davor, etwas falsch zu machen. Der Reflex ist dann, abzublocken und gar nichts zu unternehmen, um Barriere-arme Zugänge zu schaffen, obwohl manches mitunter einfach wäre. Ein angstfreier, lockerer und fehlerfreundlicher Umgang wäre da gut.

GirlsOnHorses (Elke Auer, Eva Egermann, Esther Straganz, Julia Wieger), Wir haben Fragen, Was habt ihr? Im Rahmen von: Kunstmarkt Am Schöpfwerk 2007.

 

Woran und an wen denkst du, wenn der Begriff „alle“ fällt?

In Salzburg denke ich natürlich sofort an spezifische Personengruppen, die sich dort aufhalten. Eigentlich müssten aber alle gemeint sein, also Kinder, Jugendliche, Erwachsene, ältere Menschen, Menschen aller Herkunft, jeder Klasse und jeder Orientierung. „Für alle“ klingt eigentlich harmlos, ist aber ein Anspruch.

Die Kultur-Klientel, die man sich in Salzburg vorstellt, ist die Klientel der Salzburger Festspiele, also Personen einer bestimmten Einkommensklasse. Das sind jene, die diesen Besuch auch stark als Statusobjekt wahrnehmen, weil er durchaus einen Status der Celebrity-Kultur hat. „Alle“ würde aber auch die Leute, die dort zum Arbeiten hin pendeln oder studieren, und natürlich Tourist*innen inkludieren. Tourist*innen tragen sicher eine bestimmte Erwartungshaltung bezüglich Kunst und Kultur an Salzburg heran. Die Frage ist, ob man diese Erwartungshaltung nun bedienen oder unterlaufen will.

Stadtmarketing hat die Funktion, bestimmte „besondere“ Orte zu schaffen. Für diesen Zweck wurde Kunst spätestens seit den 90er Jahren quasi gehijackt. Kassel ist beispielsweise die „Documenta-Stadt“, nach Münster fährt man wegen der Skulptur-Projekte. Das wären die offensichtlichsten Beispiele. Salzburg operiert natürlich mit dem kulturellen Erbe und der Geschichte von Mozart und der Trapp Familie bzw. „Sound of Music“ und schlägt daraus sein kulturelles Kapital. Ob sich damit „alle“ in Salzburg identifizieren, ist eher fraglich. Das Projekt Remapping Mozart*1 *(1) fand eigentlich nicht in Salzburg statt, sondern in Wien.

Während durch Anti-Gentrifizierungs- und Recht-auf-Stadt-Bewegungen generell solche Tendenzen in der Geschichte immer auch kritisch gesehen wurden, habe ich den Eindruck, bleibt das heute nahezu unhinterfragt.

Wer ist denn „alle“ in deinen Kunst- und Kulturprojekten? Oder ist das überhaupt ein Anspruch für dich?

Das erste Crip Magazine hat sich nach dem Zufallsprinzip an viele mit einer 7.000-Stück-Auflage gerichtet. Wir haben versucht, die Auflage soweit wie möglich zu erhöhen und die Zeitschrift verschiedenen gratis Straßenzeitungen beigelegt und an öffentlichen Orten verteilt bzw. aufgelegt. Wir versuchten, das Crip Magazine sehr weit zu verbreiten und es nicht nur in Kunstinstitutionen, Museen etc. zu verteilen, sondern auch in Institutionen der Zivilgesellschaft, Kulturvereinen, Kulturzentren oder gemeinschaftlich organisierten Räumen. Es hat sich an sehr verschiedene Kontexte gerichtet, von denen wir glaubten, dass sie etwas damit anfangen können.

Dementsprechend gibt es auch verschiedene Zugänge nebeneinander und unterschiedliche Themen im Heft, die wahrscheinlich verschiedene Leute mehr oder weniger interessiert. Ich glaube, dass für manche Leute vielleicht manches zu schwierig ist. Manche Menschen lesen nicht so gerne lange Texte. Es gibt aber auch visuelle Inhalte, mit denen man dann mehr anfangen kann. Das Magazin fällt inhaltlich absichtlich auseinander und das ist gut so.

Eva Egermann, Coverdesign Crip Magazine #1 von Anette Knoll Printeretto, 2012.
Daphne Boggeri, Feeling Bad, Seite 27 Crip Magazine #1, 2012

 

Die Beitragenden vertreten verschiedenste Positionen, sind also aus den verschiedenen Communities und haben großteils auf unterschiedlichste Weise eine Behinderungserfahrung. Wenn man sich den Raum des Crip Magazines als sozialen Raum vorstellt, ging es darum, verschiedene Affinitäten und Wahlverwandtschaften zu ermöglichen und einen Raum zu schaffen, der die Kategorien, Diagnosen und Schubladen von Ability und dementsprechend auch Hierarchien von Status und Sprecher*innenpositionen nicht weiter bedient und re-produziert.

Das ist in vielerlei Hinsicht ein Experiment und ist noch nie da gewesen. Insofern findet sich der Beitrag der Künstlerin und Uni-Professorin aus Berkeley neben dem Gedicht eines in einer Caritaswerkstätte in Gumpoldskirchen arbeitenden Autors. Oder die Zeichnungen eines bereits verstorbenen Art Brut-Gugging-Künstlers neben dem Poster der Aktivist*innengruppe mit Trisomie21. Der Text des radikalen Krüppel-Autors und Theatermachers neben Leuten aus der amerikanischen Crip Culture-Szene. Der Beitrag eines der Begründer der Selbstbestimmt Leben-Bewegung neben den Charts einer Malerin mit Sehbeeinträchtigung. Und so weiter und so fort.

Als ich begonnen habe, in diese Richtung zu arbeiten, gab es für so eine Auseinandersetzung keine Plattform. Das erste Crip Magazine ist 2011, also vor mittlerweile schon sieben Jahren herausgekommen. Es war die Idee, so etwas zu machen, weil es das einfach nicht gibt. Aus der Notwendigkeit, einen Kontext für solche emanzipatorische künstlerische Ansätze in diese Richtung zu schaffen. Ich wollte einfach Leute kennenlernen, die auch in diese Richtung arbeiteten und da dran waren und diesen Dingen eine Plattform bieten.

Innerhalb der Arbeit an dem Projekt Crip Magazine war es natürlich auch das Ziel, möglichst Barriere-arme Zugänge zu schaffen. Es gibt Bildbeschreibungen und das Magazin ist als barrierefreies PDF gratis downloadbar. Die Texte liegen auf Deutsch oder in Englisch vor. Der Fließtext wurde in der Schrift Dyslexic gesetzt, die eigens für Legastheniker*innen entwickelt worden ist. Auf Wunsch werden Textformate angeboten, die von Screen-Readern gelesen werden können, usw.

Eva Egermann, Crip Magazine Präsentation, Rhiz Wien, 2017. Foto: Jana Sabo.

Eva Egermann, Crip Magazine Convention, 2017. Foto: Daniel Jarosch/Künstlerhaus Büchsenhausen.

 

Was sagst du zum Thema Stadt-Land-Gefälle? Welche Unterschiede, welche Zugänge oder Möglichkeiten des Zugangs gibt es oder gibt es nicht? Was sind deine Erfahrungen damit?

Ich bin im Burgenland in einer 3000-Einwohner-Ortschaft aufgewachsen. Es ist offensichtlich, dass dies eingeschränkte Möglichkeiten bietet, auch infrastrukturell. Am Land aufzuwachsen bedeutete auch, dass ich sehr lang niemanden kannte, der*die Künstler*in war, abgesehen von Landschaftsmalerei oder Kunsthandwerk. Alltagsrealitäten, Biografien und Berufe ähneln sich eher. Manchmal hält ein überschaubarer Kreis von Enthusiasten kleine Kulturinstitutionen am Laufen. Kulturelle Angebote sind nicht so vielfältig wie in Metropolen. Dementsprechend hat sich das Land für mich nie zu einem Sehnsuchtsort entwickelt. Das tut es erst in letzter Zeit.

Das Zusammenleben in einer dörflichen Struktur ist gewachsen. Es gibt das Wirtshaus, den Kirchgang und verschiedene Kulturvereine, die eine gewisse gesellschaftliche Funktion erfüllen. Die Gleichaltrigen eines Jahrgangs kommen zu den Freizeitangeboten. Man kann in den Chor des Dorfes gehen oder zur Blasmusikkapelle. In der Stadt sind die Möglichkeiten natürlich viel ausdifferenzierter, was Spezialinteressen betrifft, was schon sehr gut ist.

GirlsOnHorses (Elke Auer, Eva Egermann, Esther Straganz, Julia Wieger), Was ist ein Cyborg Platz? Plakatprojekt im öffentlichen Raum, 2007, BORG Platz und Stadtraum Wiener Neustadt, im Rahmen von: „Was ist ein Platz?“ Kunst im öffentlichen Raum.

 

Welche Rolle spielen Gesellschaft, Bevölkerung und/oder Lai*innen in Kunst und Kultur in Bezug auf die Teilhabe oder auch darüber hinaus?

Vor einiger Zeit war ich zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Postexpertismus, Postwissensgesellschaft“ eingeladen. Die These der Veranstalter*innen lautete, dass sich die Vorstellung von Expert*innen- versus Dilettant*innentum zunehmend verändert. Durch alternative Formen von DIY-Culture, aber auch durch soziale Medien und Aneignungsprozesse, Kickstarter, Fundraiser und all die technischen Möglichkeiten, die man nun hat. Die Dichotomie zwischen den Expert*innen, die das Wissen haben, und den Laien, die dieses Wissen anwenden oder sich aneignen, würde sich durch diese Technologien immer mehr auflösen, und das finde ich nachvollziehbar.

Wenn man sich ansieht, was Vorstellungen von Forschung sind, wird angenommen, dass es dazu Apparate des Wissens wie zum Beispiel das Mikroskop gibt. Es gibt also eine bestimmte Perspektive bzw. eine gewisse Art der Betrachtung, eine Forschungsfrage und eine Hypothese, die es quasi zu beweisen oder zu widerlegen gilt. Diese Paradigmen sind natürlich ganz stark in Veränderung.

In seinem Buch „Wissenschaft als Handlung“ beschreibt Klaus Holzkamp, dass Gegenstände der Wissenschaften erst durch wissenschaftliches Handeln sichtbar werden. Der Forschungsgegenstand zeigt sich dann erst, mitunter durch ein experimentelles Setting, das man schafft. Wie man mit so einem forschenden Handeln mit offenem Ausgang umgeht, hat mich beschäftigt. Ist diese Betrachtung auch für experimentelle, künstlerische Forschung legitim? Wie kann man das als Forschung betrachten? Holzkamp beschreibt das Experimentieren als Versuch, reale Begebenheiten durch bestimmtes Eingreifen zu verändern. Das mache ich mit dem Crip Magazine, könnte man sagen. Das Crip Magazine ist der Versuch, Alternativen anzubieten und andere Visualitäten an die Oberfläche zu bringen ‑ abgesehen von binären und stigmatisierenden Darstellungen von Opfern und Helden. Die gesellschaftliche Sichtweise auf Behinderung wird vor allem durch das medizinische Paradigma, bzw. das Rehabilitationsparadigma dominiert. Dabei geht es immer um ein vermeintliches Defizit, welches der Heilung oder Rehabilitation bedarf.

In Enforcing Normalcy beschreibt etwa der US-amerikanische Disability Studies Autor Lennard Davis, dass die Idee von Normalität an das Aufkommen der Eugenik, der statistischen Vermessung von Körpern und ersten wissenschaftlichen Annahmen über den menschlichen Körper gebunden ist. „Das Normale“ war Teil der Vorstellung von Fortschritt, Industrialisierung und der ideologischen Konsolidierung der herrschenden Klasse.

Die Idee von Normativität oder Normalität ist eines der wirkmächtigsten Konzepte der Moderne. Das spiegelt sich auch in der Kultur oder auch der Architektur, im gebauten Raum und in der Standardisierung wieder. Die Erfindung der Fotografie ist beispielsweise ganz eng mit der Erfindung von rassentypologischen, phrenologischen Praktiken verbunden, wie Allen Sekula beschrieben hat.

Die Disability Studies arbeiten sich sehr stark an diesen noch jüngeren Geschichten ab. Sie versuchen, Verhältnisse zu kritisieren und Kategorien zu destabilisieren. Behinderung wird zur analytischen Kategorie für u.a. Geschichtsforschung.

Der Slogan „Nichts über uns ohne uns!“ bringt die Kritik an der Perspektive der „Expert*innen“ zum Ausdruck. Die Krüppelbewegung der 70er hat beispielsweise von der „nichtbehinderten Rehabilitationsmafia“ oder der sogenannten Wohltätergesellschaft gesprochen. Aber auch in gegenwärtigen neoliberalen Gesellschaft wird ein gewisser Zwang zu einem funktionierenden Körper bzw. Nichtbehinderung (compulsory able-bodiedness) immer wieder reproduziert.

Wo besteht besonderer Handlungsbedarf in Bezug auf kulturelle Teilhabe?

Es ist eine Ressourcenfrage. Es gibt ein Gefälle zwischen Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen Zugang zu Hochkultur haben, und Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen diesen Zugang nicht haben. Das hat viel mit Bildung, Status und ökonomischen Möglichkeiten zu tun. An diesem Gefälle muss gearbeitet werden. Augenscheinlich sind die Ressourcen ungleich verteilt. Ich finde, dass Kulturförderung ein öffentlicher Auftrag ist und der sollte sich unbedingt nicht-ökonomischen Prinzipien anpassen. Es ist wichtig, einen demokratischen Anspruch aufrechtzuerhalten. Euer Forschungsprojekt macht jedenfalls uneingeschränkt Sinn.

Kunst ist ein Wert an sich, schafft Freiräume und Denkanstöße. Und diese Freiräume ‑ abgesehen von einer ökonomischen Verwertbarkeit und Vermarktung ‑ braucht es dringend.

GirlsOnHorses (Elke Auer, Eva Egermann, Esther Straganz, Julia Wieger), Was ist ein Cyborg Platz? Plakatprojekt im öffentlichen Raum, 2007, BORG Platz und Stadtraum Wiener Neustadt, im Rahmen von: „Was ist ein Platz?“ Kunst im öffentlichen Raum.

 

Was verstehst du unter demokratischer Politik, demokratischer Kunst oder unter Demokratisierung?

Ich verstehe darunter, im einfachsten Sinne, gleiche Zugänge und Chancengleichheit zu schaffen.

Was sind deine Wünsche und Visionen auf Bezug auf kulturelle Teilhabe? Wie würde kulturelle Teilhabe aussehen, wenn es keine Barrieren und Ausschlüsse gäbe?

Ich glaube wirklich, ein Knackpunkt ist die Abkehr davon, dass sich alles an marktwirtschaftlichen Paradigmen orientieren muss, also was sich gut verkauft und Geld bringt. Diese Praxis ist in vielerlei Hinsicht problematisch.

Im vergangenen Jahr hat beispielsweise eine Studie die Repräsentation von „Behinderung“ in verschiedenen österreichischen Medien untersucht. Sie haben herausgefunden, dass die Themen Charity, Sportunfälle und Behindertensport die Medien dominieren, mit weitem Abstand zu allen anderen Themen, sei es Barrierefreiheit oder Arbeitsmarkt. Differenziertere Sichtweisen und Themen finden kaum Platz.

Dementsprechend werden problematische Bilder von Opfern und Helden ständig weiter reproduziert. Dahinter steht der Wunsch von Medienmachern, eine gute Story mit Drama bzw. einem Spannungsbogen abzuliefern oder das öffentliche Interesse an einer Celebrity-Kultur, welche die vermeintlichen Ideale ‑ schön, gesund, erfolgreich, glücklich, modern – verkörpert.

Das bildet aber nicht die Lebensrealität von vielen Menschen ab, die Zugang haben sollten und liefert einfach durch und durch problematische Narrative. Vieles findet einfach nicht statt, weil es sich schlicht nicht gut verkauft oder nicht in dieses ableistische Werteschema passt.

Eva Egermann und der Fahrende Raum McK.rank feiern, Im Rahmen von: Cyborg Disko Werkstatt, 2018.

 

Vielen Dank für dieses Interview!

Das Crip Magazine ist unter folgendem Link erhältlich: www.cripmagazine.evaegermann.com

 

Das Projekt „Verborgene Geschichte/n. remapping Mozart“ war ein kritisches Kunstprojekt im Rahmen des Mozartjahres 2006.

Dilara Akarçeşme, Persson Perry Baumgartinger, Eva Egermann ( 2018): Wer hat die Deutungshoheit, die Herrschaftsmacht und die Sprech*position, um Kultur zu schaffen oder sie zu demokratisieren?. Eva Egermann im Interview mit Dilara Akarçeşme und Persson Perry Baumgartinger . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/wer-hat-die-deutungshoheit-die-herrschaftsmacht-und-die-sprechposition-um-kultur-zu-schaffen-oder-sie-zu-demokratisieren/