„Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“

Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.

Villa Global – „Herkunft ist nur ein Aspekt unter vielen“

Bevor wir auf das Projekt Villa Global eingehen, das bei euch am Jugend Museum stattfindet, möchte ich gern mehr über deinen Hintergrund erfahren. Was hat dich motiviert, in die Kulturvermittlung und die Arbeit an einem Jugendmuseum zu gehen? Gibt es so etwas wie eine Hauptmotivation oder Hauptanliegen für die Arbeit, die du machst?

Ich habe im weitesten Sinne feministische Gesellschaftskritik studiert. Es hieß Erziehungswissenschaften, es gab aber einen feministischen Schwerpunkt. Ich arbeitete lange für Kinderfreizeiten, damals heißen sie noch Integrationsfreizeiten. Wir waren damals in der glücklichen Situation, dass Kinder mit mannigfaltigen Einschränkungen und welche, die anscheinend keine hatten, in einem einigermaßen ausgewogenen Verhältnis gemeinsam in die Ferien fuhren. Dadurch, dass ich schon relativ früh in der Projektleitung war, konnte ich auch das Team zusammenstellen. Wir waren dann ein ziemlich queeres Team. Im Rückblick waren das paradiesische Zustände. Wir waren drei Wochen in einem Wald in Bayern und es gab so viele Unterschiede in dieser Gruppe, dass alle ganz frei in ihrem Ausdruck sein konnten. Das hat sich auch bei den Kindern bemerkbar gemacht. Es gab welche, die fanden am Anfang alles ganz komisch. Es gab Jugendliche, die die Polizei anrufen wollten, als sie mitbekamen, dass Schwule und Lesben im Leitungsteam sind. Wir hatten einen Kollegen dabei, der total gerne Röcke trug oder sich Tücher umband, wenn es heiß war. Er sagte, das sei einfach das Angenehmste, was es gibt, wenn es heiß ist. Das führte dazu, dass am Ende selbst die Jungs, die vorher noch die Polizei anrufen wollten, sich das auch getraut haben. Das ist mein Background. Dann gab es diese Idee, ein Jugendmuseum zu gründen, mit der ganz klaren Intention, vielfältige Zugänge zu schaffen und Kinder und Jugendliche zu den Protagonist*innen zu machen, die im Museum dann auch zu Wort kommen. Das motiviert mich immer noch. Inzwischen sind mehr Facetten in den Blick gekommen, auch antirassistische Arbeit. Es gibt Schulen im Quartier in der Nähe des Museums, wo fast 100 Prozent der Kinder Migrationsgeschichte in ihren Familien haben. Das hat motiviert, das auch in den Blick zu nehmen. Das war zu einer Zeit, wo das überhaupt noch nicht angesagt war. Da gab es diese Frage nicht.

Wann war das ungefähr?

Wir haben vor 20 Jahren angefangen.

Also Ende der 90er Jahre?

Genau. Die Motivation, diese Einrichtung zu etablieren, waren eigentlich die Übergriffe Anfang der 90er kurz nach dem Mauerfall. Dieses „Wir sind das Volk“ hat ausgeblendet, dass zu diesem Volk auch noch andere gehören als die, die weiß und biodeutsch sind – ein schwieriger Begriff, aber er hilft hier die Situation zu beschreiben. In Berlin gab es damals ein Aufbegehren der türkischen Community, die formuliert haben, dass sie auch das Volk sind. Das war völlig aus dem Blick geraten. Dabei war ganz klar, dass es einige gibt, die wirklich abgehängt werden. Bei uns in der Nähe des Museums gab es ein Gebäude, wo es so viel prekäre Verhältnisse und auch Kriminalität gab, dass man wirklich überlegt hatte, das Haus abzureißen. Da wohnten ich weiß nicht wie viele Nationen. Dann hat sich ein Quartiersmanagement herausgebildet und wir haben schnell das Interesse geäußert, Kulturangebote für Kinder und Jugendliche aus dem Quartier machen zu wollen. Dass war der Startpunkt für das, was später die Villa Global geworden ist.

Kannst du beschreiben, was die Villa Global genau war?

Ja, das ist eine Ausstellung. Die erste Ausstellung war genauso aufgebaut wie die, die wir jetzt noch haben, weil es so gut funktioniert hat. Es sind inzwischen vierzehn kleine Räume, du kannst in diese Räume gehen und hast wirklich den Eindruck, du kommst zu jemandem privat nach Hause. Mit den Objekten, die in den Räumen ausgestellt sind, und den Geschichten, die mit ihnen erzählt werden, erfährst du etwas über die jeweilige Person. In der ersten Villa hatten wir tatsächlich sehr stark den Fokus auf Herkunftsländer. Es war zwar immer klar, dass das Leute sind, die hier in Berlin leben, aber irgendwoher kommen. Wir versuchen in den Zimmern Situationen zu schaffen. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von Sevgi Yücel, einer unserer Kolleginnen. Sie ist als Sechsjährige mit ihren Eltern in der ersten Gastarbeitergeneration nach Berlin gekommen und in Berlin aufgewachsen. Bei ihr war die Situation, dass sie gerade das Beschneidungsfest ihres Sohnes vorbereitet und auch die Geschichte dahinter erzählt, also warum das für sie so ein wichtiges Fest ist und was da eigentlich passiert.

Sie war im Raum drin?

Nein, sie hat den Raum aber mit uns gestaltet. Man sollte den Eindruck haben, dass sie nur gerade mal kurz rausgegangen ist und das hat auch gut funktioniert. Das war ein Raum, der tatsächlich super funktioniert hat, weil viele Kinder, die zu uns kamen, beschnitten waren oder es ihnen bevorstand. Andere hatten davon schon mal gehört, wussten aber gar nicht, was das ist. Die Kinder sind mitunter darüber ins Gespräch gekommen. Die Ausstellung stand sehr lange. Sie war als Dauerausstellung geplant. Irgendwann, vor sieben Jahren circa, haben wir gemerkt, dass das überholt ist. Wir schaffen damit eine Atmosphäre, die hinter dem liegt, was wir eigentlich wollen. Der Fokus sollte gar nicht mehr so stark auf der Kultur der Ursprungsländer liegen. Viele, die gekommen sind, waren längst zweite, dritte Generation mit ganz anderen Haltungen und Auseinandersetzungen. Für die war das auch das Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern, aber nicht mehr ihre eigene Geschichte. Das bedarf einer Überarbeitung dieser Ausstellung. Wir haben jetzt insgesamt 15 Personen. Es gibt auch eine, die in Berlin aufgewachsen ist. Das ist unsere älteste Bewohnerin, die ist jetzt gut 80. Es gab auch eine sehr berechtigte Kritik an der Ausstellung, dass wir eigentlich ein Othering an allen möglichen Kulturen machen. Es kamen Leute in die Ausstellung, die gern mal in ein deutsches Wohnzimmer gehen würden. Warum gibt es hier das nicht? Das fanden wir absolut gerechtfertigt und jetzt heißt die Ausstellung Villa Global – The Next Generation. Das ist eigentlich auch das, was es ist.

Und inwiefern zeigt sich die Änderung zwischen der ersten und der zweiten Ausstellung?

Jetzt ist es überhaupt nicht mehr auf Kultur fokussiert. Unser Fokus war eher, Leute vorzustellen, von denen wir denken, dass sie für ein junges Publikum interessant sein könnten und die vielleicht auch Brüche haben. Herkunft ist dabei nur eine Facette von ganz vielen. Wir haben zum Beispiel Jonni, einen Rapper, der das für Jugendliche sehr bekannte (Anm.: Internetfernseh-)Format Rap am Mittwoch gegründet hatte. Das ist erst mal spannend und irgendwie cool. Im Raum kann man Raps hören und es gibt Ausschnitte aus Rap am Mittwoch. Wenn die Jugendlichen dann ein bisschen im Zimmer recherchieren, erfahren sie, dass Jonni als Kind aus Israel gekommen ist. Er ist Israeli und Jude. Die Reaktionen, die wir auf dieses Zimmer kriegen, wenn wir mit Jugendlichen dort arbeiten, sind manchmal auch deftig. Da gibt es viele arabische Kinder und Jugendliche, die durch die israelpolitische Entwicklung einen ganz neuen Antisemitismus entwickeln, und viele Kinder und Jugendliche aus den Klassen, mit denen sie befreundet sind, die diesen einfach unhinterfragt übernehmen. Manche sind dann richtig hin und her gerissen. Sie finden Jonni cool, merken dann aber, dass sie ihn gar nicht cool finden dürfen, weil er zu den Feinden gehört. Das greifen wir dann als Auseinandersetzung auf. Wenn das kommt – und das kommt manchmal auch mit einer großen Dynamik, weil sie sich gar nicht in ihrem Engagement zurückhalten können –, reden wir darüber oder spielen damit. Wir machen eine Szene oder fragen: „Warum kannst du ihn eigentlich nicht mögen, nur weil er Jude ist? Was heißt das eigentlich?“ Das ist ja eine sehr umfassende Abschottung von Menschen, weil es ja hier um diese eine Person geht.

Wie bereitet ihr solche Momente vor? Wie wird das in diesem Raum vermittelt? Man geht da rein und da liegen Gegenstände? Wie ist das genau?

Das ist ein kleiner Raum, den Jonni auch mit uns gemeinsam eingerichtet hat. Bei Jonni konkret gibt es einen Sitzsack und einen kleinen Schreibtisch, auf dem ein Skizzenbuch von ihm liegt. Das ist ein Faksimile, nicht das Original. Sonst sind das immer Originalobjekte. Aber da hast du den Eindruck, dass er das gerade geschrieben hat. Auf dem kleinen Monitor laufen auch Raps. Du kannst über die Objekte eigentlich viel rausfinden. Es gibt diesen Schreibtisch, es gibt eine Pinnwand, wo er Fotos angepinnt hat, in irgendeinem Regal ist ein Päckchen, das ihm geschickt worden ist. Das ist auch ein Originalpaket, wo ein Freund oder seine Eltern ihm etwas aus Israel geschickt haben. Du musst schon tief gucken, um herauszufinden, wer das ist.

Aber dass er jüdisch ist, das erschließt sich jetzt in dem Fall indirekt?

Genau. Es gibt auch Objektkarten. Das ist neu, das hatten wir in der ersten Villa Global nicht. Das ist ein kleines Kästchen im Zimmer, wo du Fotos von einzelnen Objekten aus dem Raum siehst. Wir haben mit allen Leuten, die in der Ausstellung präsentiert werden, lange Interviews geführt. Da sind dann Zitate aus den Interviews zu sehen und diese Person erzählt etwas zu diesem Objekt oder wofür das steht oder warum das ein wichtiger Teil ihres Lebens ist.

 

Wie funktioniert eine anti-diskriminatorische Vermittlung mit Jugendlichen?

Mich interessiert, wie ihr die Adressat*innen in die Aufbereitung der Ausstellung einbezieht. Wie entscheidet ihr euch für die Personen und Facetten, die in den Räumen der Villa Global vorkommen?

Wir haben viele Projekte mit den Kindern aus diesem Quartier gemacht. Zum Beispiel hatten wir das Thema Geschichten in den Familien. Viele haben dann zum ersten Mal mit ihren Eltern darüber geredet, was eigentlich die Geschichten der Eltern und Großeltern sind. Wir haben dann kleine Ausstellungen mit den Objekten gemacht, die die Kinder aus ihren Familien oder ihrem Umkreis mitgebracht haben. Wir haben Rechercheprojekte gemacht, wo die Kinder einfach auf der Straße rumgelaufen sind und geguckt haben, woran man eigentlich im Stadtbild sieht, dass hier Menschen zusammenleben, die unterschiedliche Backgrounds haben. Diese Recherchen zeigen uns auch, was die Kinder und Jugendlichen eigentlich interessiert, was sie spannend finden und welche Geschichten sie ganz konkret mitbringen. So kriegen wir zum Beispiel mit, dass es einen zunehmenden Antisemitismus gibt in diesem Quartier. Mit der Ausstellung reagieren wir darauf. Es gibt auch einen Raum von einem schwulen Mann, dessen Eltern aus der Türkei kommen und der einen muslimischen Background hat. Wir haben in der alten Villa Global erlebt, dass vor allem muslimische Jungs dann sagen, dass es so etwas bei ihnen nicht gibt. Da sagen wir: „Gut, ihr habt die Haltung, dass es das bei euch nicht gibt, aber die Person gibt es ja jetzt.“ Also müssen wir uns damit auseinandersetzen. Was heißt es eigentlich, dass es das nicht gibt, wenn ihr jetzt im Zimmer von jemandem seid, den es ja gibt und der ganz klar sagt, das ist nicht Lifestyle, dass ich schwul bin. Er sagt, er wäre ja irre, in bestimmten Ländern gibt es darauf die Todesstrafe. Dafür würde er sich doch nicht entscheiden. Und damit müssen sie sich auseinandersetzen.

In der Villa Global findet also eine Verhandlung statt, in der es auch um Vielfalt unter den Kindern geht. Was ist entscheidend dafür, dass diese Verhandlung positiv ablaufen kann?

Wir haben im Projekt relativ viel Zeit und eine kleine Gruppe, mit der wir dort arbeiten. Bei der Arbeit mit Jugendlichen gibt es durchaus auch heftige Auseinandersetzungen. Ich gebe vielleicht ein anderes Beispiel, das ich sehr plakativ finde. Wir hatten eine Ausstellung zur NS-Zeit und da haben wir mit einer Klasse zwei Tage gearbeitet. Ein Mädchen aus der Gruppe, mit der ich gearbeitet habe, hat erzählt, dass ihr Islamlehrer gesagt hat, alle Juden seien Verräter. Ich habe ihr dann gesagt: „Wie wäre das als Fragestellung für dich? Du hast diese Aussage deines Lehrers und dann hast du hier die Ausstellung. Versuch doch herauszufinden, ob du glaubst, dass das stimmt, was der sagt.“ Dann hat sie sich wirklich ins Zeug gelegt und hat sich diese Ausstellung angesehen. Da gab es alle möglichen Bereiche, von der Rassenkunde zu biografischen Geschichten der Ausgrenzung von Kindern in der Schulzeit. Am Ende kam sie und sagte, dass sie glaubt, das stimmt nicht. Mit der Frage, warum der so etwas sagt, ist sie dann hinausgegangen. Das war schwer für sie auszuhalten. Ich als begleitende Pädagogin wusste, dass sie daran jetzt echt zu knabbern hat. Für mich war das aber eigentlich ein Paradebeispiel, was im besten Fall passieren kann.

Wie alt sind die ungefähr, also zum Beispiel diese eine Schülerin?

Die war in der fünften oder sechsten Klasse, also elf oder zwölf. Das ist aus meiner Erfahrung großartig. In diesem Alter ist noch nicht so viel so fest, dass daran eigentlich kaum mehr zu rütteln ist. Ich habe das Gefühl, dass es bei Kindern in diesem Altersspektrum, oder sagen wir vierte bis achte Klasse, ganz viel darum geht, auch eine eigene Position zur Welt zu entwickeln. Vieles ist erst mal da, was übernommen wurde ‑ aus dem Elternhaus, der Community, der Peer Group. Was wir eigentlich erreichen wollen, ist Möglichkeiten für Irritationen des Noch-mal-darüber-Nachdenkens zu schaffen und Material anzubieten, wo man sich tatsächlich selbst ein Bild machen kann. Wenn ich diesem Mädchen gesagt hätte, ich sehe das aber anders, könnte sie damit wahrscheinlich nichts anfangen. Dann hat sie noch eine Person, die ihr irgendwas sagt. Es ist unser Ziel, erst mal ein Feld aufzumachen wie im Zimmer von Jonni, um da noch mal zurückzukommen und Materialien anzubieten, damit man sich wirklich damit beschäftigen kann.

Ist es auch schon vorgekommen, dass jemand dann aus der Ausstellung ging und du hast gemerkt, dass es nicht funktioniert hat? Dass die Person zum Beispiel Vorurteile, die sie vorher hatte, auch nachher noch hat?

Ja. Es ist ja auch Kurzzeitpädagogik, wir wirken keine Wunder. Ich habe aber den Eindruck, dass eine kurze Konfrontation schon einen kleinen Riss in dem vorher doch relativ runden Bild der Welt macht. Vielleicht kommt später noch etwas anderes dazu, was darauf aufbaut. Man kann nur hoffen, dass vielleicht noch mal irgendetwas anderes kommt, was diesen Impuls gibt. Es kann auch zu nichts führen, aber dann war wenigstens der Versuch da oder die Erfahrung, dass es nicht so glatt läuft und es noch eine andere Position dazu gibt.

Kannst du noch etwas mehr ausführen, wie ihr diese Forschungsfrage oder diesen Forschungsauftrag an die Kinder und Jugendlichen vermittelt?

In dieser und allen Ausstellungen gibt es immer irgendeine Art von Einführung. Das ist oft spielerisch. Wir spielen also etwas vor. Das ist dann schon der erste Überraschungseffekt, weil wir ein Museum sind. Wir schaffen gerne zuerst ein bisschen Irritation, dass es nicht das ist, was sie erwarten. Die Ausstellung ist im ersten Stock und wir bitten sie erst mal, sich auf der Treppe niederzulassen. Dann gibt es ein Audio, wo diese Bewohner*innen irgendwas sagen, zum Teil auch in ihren Muttersprachen. Da geht es darum, dass sie irgendwas in Berlin machen. Uns ist wichtig, deutlich zu machen, dass die alle in Berlin wohnen. Das Zimmer von Jonni ist nicht irgendwo in Israel. Dann fragen wir sie, was sie gehört und verstanden haben und wer das wohl so ist. Sie bekommen kleine Presseausweise. Das funktioniert bei den Kindern super, bei den Jugendlichen muss man noch ein bisschen die Metaebene miteinflechten. Sonst fühlen sie sich irgendwie verarscht. Sie sind dann quasi Journalist*innen und gehen in die Ausstellung. Der Auftrag ist, möglichst viel von diesen Personen herauszufinden. Wie kann man das machen? Wir sammeln ein bisschen und gehen in kleinen Gruppen in die Zimmer. Die Zimmer sind wirklich klein, maximal so groß wie diese Terrasse.

Also so zehn, zwölf Quadratmeter?

Ja. Es gibt aber auch welche, die nur sechs Quadratmeter groß sind. Sie sind wirklich klein. Das heißt, wir können gar nicht mit einer größeren Gruppe hinein. Da steht man nur herum und sieht nichts. Das heißt, sie gehen zu zweit oder maximal zu dritt in so ein Zimmer und bekommen den Auftrag rauszufinden, was sie rausfinden können. Es ist für viele auch eine Überraschung, dass sie gleich so allein losziehen. Dann kommt der erste Moment in diesem Zimmer. Erwachsene sind oft ein bisschen befangen, weil du wirklich den Eindruck hast, dass du in einen Privatraum kommst. Plötzlich sollst du da in eine Schublade gucken und das Tagebuch lesen. Das macht total neugierig. Es gibt Kinder, die das Zimmer wirklich bis unter das Bett untersuchen. Danach gibt es quasi Redaktionsteamsitzungen, wo es darum geht, was sie rausgefunden haben, was man noch über diese Person herausfinden könnte und dann gibt es eine Pause.

Wo die verschiedenen Gruppen dann zusammenkommen?

Insgesamt sind es drei Kleingruppen pro Klasse und pro Kleingruppe noch einmal drei bis maximal vier Untergruppen, die sich einzeln die Zimmer ansehen. Die treffen sich dann in dieser Kleingruppe als Redaktionsteams und versuchen zusammenzutragen, was sie rausfinden konnten, welche Fragen sie dazu haben oder wie sie dazu stehen. Dann gibt es eine Pause, wo die Kinder auch rausgehen sollen, um sich ein bisschen auszutoben. Hinter dem Museum gibt es einen ganz schönen Park mit großem Spielplatz. Wir bieten dann immer Tee an und machen wieder ein Spiel daraus. Die, die vorher den Tee ausgeschenkt hat, zieht sich so eine Schürze an und spielt eine Cafébesitzerin. Dann kommt eine Person und will mitmachen. Die sagt dann, dass sie Handwerkerin oder Handwerker ist und nimmt sich einen Overall. Dann fangen die ein bisschen an zu spielen. Sie ziehen sich vor den Kindern um und das ist ganz schön, weil es trotzdem gelingt, in diese Spielsituation einzudringen. Dann kommt eben diese Handwerkerperson zu der Cafébesitzerin und sagt: „Ich ziehe um. Willst du dir nicht überlegen, ob du hier einziehen willst? Das ist viel näher für dich.“ Sie erwidert dann: „Ich weiß ja nicht genau. Wie ist denn die Atmosphäre hier? Mir ist schon wichtig, in einem Haus zu wohnen, wo die Leute irgendwie auch cool sind.“ Dann kommt die dritte, wir sind ja immer drei. Die bleibt Pädagog*in und sagt: „Ich habe da eine Idee. Hier sind ganz viele, die sich gerade sowieso schon mit den Leuten beschäftigen und vielleicht können die dir ein bisschen was über die Leute erzählen.“ Dann haben wir noch mal Zeit, in die Tiefe einzusteigen. Es gibt von allen Bewohner*innen kurze Videoaufnahmen von diesen Interviews. Sie können sich dann die Videos der Personen noch mal ansehen und haben den Auftrag, am Ende dieses Projekts dieser Cafébesitzerin oder diesem Cafébesitzer einen Einblick in die Nachbarschaft zu geben. Die Person sagt dann selbst: „Am liebsten wäre es mir ja, ich würde durchs Schlüsselloch gucken, was die eigentlich so machen.“ Das motiviert dann ein bisschen, entweder eine Szene zu spielen oder so zu tun, als würde man aus der Ich-Perspektive etwas berichten. Das ist dann sehr fantasievoll, was sie daraus machen. Es kommt darauf an, worauf sie auch Lust haben. Wir haben relativ viele Requisiten. Es gibt einen Bewohner, Alex, der Gitarre spielt und wir haben auch als Requisite eine Gitarre. Da können sie auch darauf spielen, wenn sie das denn können. Am Ende tragen dann alle zusammen, was sie rausfinden konnten, weil auch diese Kleingruppen ja nur einen Teil der Räume gesehen hat.

Sind eigentlich auch die Lehrer*innen bei diesen Museumsbesuchen dabei?

Wir bitten die Lehrkräfte immer, nicht in der Kleingruppenarbeit dabei zu sein. Wir haben eigentlich in allen Projekten gemerkt, dass andere Fragen kommen und es andere Diskussionen gibt, wenn doch mal Lehrkräfte dabei sind. Wir geben keine Zensuren. Wir kennen den Kontext nicht, wir kennen die Eltern nicht. Es gibt auch Streit und wir sind auch laut. Da kann etwas anderes passieren, als wenn eine Person dabei ist, die diesen schulischen Auftrag hat. Für die Lehrkräfte ist es auch oft großartig. Sie sind natürlich dabei, wenn dann die Präsentation stattfindet. Die Rückmeldung von Lehrkräften ist dann oft, dass sie sich gar nicht gedacht hätten, dass sich XY auf die Bühne stellt und was sagt. Oder sie wussten etwas gar nicht, weil sie ganz oft eigene Lebensgeschichten erzählen.

 

Das Museum als Rahmen für die Auseinandersetzung

Glaubst du, dass in diesem Setting Auseinandersetzungen stattfinden, die im normalen Leben nicht stattfinden könnten? Ist dieser Kontext vom Museum oder auch von einer Kulturinstitution wichtig für die Gespräche und vielleicht auch die Erfahrungen, die da passieren?

Ja, ich glaube das schon. Ich habe ein weiteres Beispiel, das wieder in Richtung All Included geht. Einmal kam eine multinational zusammengesetzte Gruppe in die Villa Global. Die Person, die diese Gruppe angemeldet hatte, hat mir nach dem Besuch eine Mail geschrieben und als Feedback gesagt, dass allein dadurch, dass diese Ausstellung bei uns im Museum war, ihr die Möglichkeit gegeben wurde, mit dieser Gruppe anders zu sprechen. Sie habe immer wieder versucht, vielfältige Lebensweisen der Gruppe deutlich zu machen und war dabei immer auf Mauern gestoßen. Sie sagte, dass die Ausstellung zu dem Thema in einem Museum eine ganz neue Basis für die Auseinandersetzung gab. Die Mitglieder der Gruppe seien mit einer Realität konfrontiert worden, die da war, auch wenn sie nicht wollten, dass es sie gibt.

Es wird also etwas erlebbar, auf das man sich sonst nicht einlassen würde.

Genau. Wie bei Cem, dem schwulen Mann. Da ist klar, du hast gelernt und hast die Haltung, dass es so etwas bei euch nicht gibt. Diese konkrete Person gibt es ja jetzt. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Du musst sozusagen realisieren: Offensichtlich gibt es das doch.

Glaubst du, dass es eher die Bereitschaft gibt, sich im Rahmen eines Museums darauf einzulassen als in der richtigen Welt draußen?

Ja, weil ich einen Rahmen schaffe. In der richtigen Welt gibt es ja keine Rahmung des Themas. Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit. Ich brauche eine Orientierung. Was erforsche ich da jetzt? Auch bei diesem Mädchen, das versucht hat herauszufinden, ob das stimmt, was ihr Islamlehrer gesagt hat, haben wir nicht gesagt, dass sie ins Archiv gehen soll. Da wäre sie verloren gewesen. Sie hat aufbereitetes Material gefunden, das für sie einsehbar und verständlich war. Das hat eine Rahmung geschaffen, in der sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen konnte. Ich glaube, das macht viel aus.

Zu Beginn unseres Forschungsprojektes zu Kultureller Teilhabe im Land Salzburg haben wir das Motto „Kultur für alle“ lange diskutiert, vor allem mit der Frage: Wer ist „alle“? Ist diese Frage für euch relevant oder tritt sie dadurch ein bisschen in den Hintergrund, dass ihr mit Schulklassen arbeitet, die sowieso einen Querschnitt bilden?

Die Motivation, mit Schulklassen zu arbeiten, ist auch eine Antwort auf diesen Bedarf, Kultur für alle möglich zu machen. Ich finde es großartig, mit Schulklassen zu arbeiten, denn da sind alle. Wir haben viele Klassen aus allen Bezirken. Wenn ich eine Klasse aus dem Bezirk Zehlendorf im so genannten Speckgürtel habe, habe ich ganz andere Jugendliche mit ganz anderen Problematiken, als wenn ich Jugendliche aus der eben erwähnten Nachbarschaft habe.

Im Zusammenhang mit unserem Forschungsprojekt interessiert es uns, inwiefern die Politik oder die Kunst-/Kulturförderung eine solche Arbeit zu unterstützen vermag. Gibt es aufgrund deiner Erfahrung Wünsche oder auch Forderungen, die du an die Kulturpolitik hättest?

Vor allem ein anderes Format von Finanzierung. Wir hangeln uns von einem Modellprojekt zum anderen. Damals waren sie drei Jahre lang, jetzt sind es maximal fünf Jahre. Wir müssen aber immer modellhaft arbeiten. Das heißt, wir müssen uns eigentlich immer neue Formate überlegen. Die können aufeinander aufbauen, aber eigentlich muss es immer wieder etwas Neues sein. Wenn wir merken, dass sich das Alte bewährt hat, dürfen wir es aber nicht weiter in dieser Form umsetzen. Das ist eine große Forderung. Des Weiteren sollten Möglichkeiten geschaffen werden, dass es sich mehr in den Alltag integrieren lässt. Zu uns kommen die Klassen, deren Lehrkräfte eine Motivation haben, zu uns zu kommen und dafür auch Zeit aufzubringen. Auf der anderen Seite haben sie immer mehr Druck, ihren Fachunterricht durchzuziehen und das beißt sich ganz oft. In Deutschland ist der Lehrplan neu gemacht worden. Es gibt jetzt mehr Querschnittsthemen. Eigentlich wurde es so ein bisschen geöffnet, aber für uns ist ganz oft das Problem, dass wir gehören zum Bereich Kultur. Das ist aber dann Schule und Bildung. Da gibt es oft Schwierigkeiten. Wo sind wir eigentlich verortet? Wer ist für uns zuständig und wie kann man da auch Brücken schlagen? Es wäre auch eine Forderung, dass man in Finanzierungs- und Förderlogiken viel bereichsübergreifender denkt.

Vielen Dank, das war ein sehr spannendes Gespräch. Gibt es noch etwas, das du anfügen möchtest?

Du sagtest, dass ihr euch mit kultureller Teilhabe oder Kultur für alle beschäftigt. Es gibt so ein israelisch-deutsches Netzwerk, in dem ich zumindest mal drin war. Jetzt schaffe ich das zeitlich leider nicht mehr. Wir haben uns in einer Konferenz mal zusammengefunden und erarbeitet, was wichtige Themen für uns sind. Drei Partner*innen aus Israel und ich hatten die Idee für ein Projekt. Das hieß Equal Rights for Culture. Es war eine dabei, die in Israel auf dem Land in Randgebieten gearbeitet hat. Sie hat dorthin Ausstellungen gebracht, die sie auch gemeinsam mit den Leuten erarbeitet hat, weil die gar keine Zugänge hatten zu Kunstausstellungen oder Einrichtungen. Man muss es eben zu den Leuten bringen, wenn die Leute nicht die Möglichkeit haben zu kommen. Das hielt ich für ein interessantes Format. Ich finde, das ist viel zu wenig im Blick. Es gibt auch eine Bringschuld der Kultureinrichtungen. Wenn die Leute nicht kommen, dann hat das Gründe.

Marcel Bleuler, Ellen Roters ( 2019): „Um sich bestimmten Themen anzunähern, brauche ich auch die geführte Freiheit.“. Ellen Roters im Interview über anti-diskriminatorische Kulturvermittlung mit Jugendlichen.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/um-sich-bestimmten-themen-anzunaehern-brauche-ich-auch-die-gefuehrte-freiheit/