Der Widerstand der Faulheit oder warum der Connaisseur ein Mythos ist

Veranschaulicht man sich das Ideal einer Kunstrezipientin oder eines Kunstrezipienten, erscheint die Figur eines gebildeten, feinsinnigen Menschen, der sich bei voller Konzentration und weihevoller Stille der Kunst hingibt. Die Kunstbetrachtung selbst versteht sich als höchste Form des „Prozesses der Zivilisation“ und als außeralltägliches Erlebnis, dessen sakrale Ritualhaftigkeit sich im gereinigten und von Außeneinflüssen abgeschirmten Ausstellungsraum wiederfindet. Mag dieses Bild des Connaisseurs in den heiligen Hallen der Kunst etwas überzeichnet erscheinen, so steht es dennoch Pate für eine idealisierte Norm. Bis heute ist der Ausstellung eine bürgerliche Rezeptionskultur eingeschrieben, bei der die wertvollen (Kunst-)Objekte idealerweise in einer stillen und intensiven Auseinandersetzung erfahren werden.

Kontrastiert man dieses entworfene Idealbild von KunstrezipientInnen jedoch mit dem empirisch untersuchten Realbild von AusstellungsbesucherInnen, stellt sich die Lage etwas anders dar. BesucherInnen verwenden nicht nur eine verschwindend geringe Anzahl von Sekunden auf ein Kunstwerk*1 *( 1 ), sie bewegen sich in Ausstellungen auch grundsätzlich weniger andachtsvoll denn in einer Art flanierendem Gehmodus gleich einem kulturellen Window-Shopping. Und eines will der Großteil der BesucherInnen schon gar nicht: nämlich lernen.*2 *( 2 ) Auch von solitärer Kunstbetrachtung und Stille ist keine Spur, vielmehr geschieht die Mehrzahl aller Ausstellungsbesuche in der Gruppe;*3 *( 3 ) demnach wird im Ausstellungsraum auch weniger geschwiegen denn parliert.*4 *( 4 )  Kurz gefasst: KunstrezipientInnen bewegen sich mit einer limitierten Aufmerksamkeit, in einer eher oberflächlichen Weise sowie zumeist gesellig gruppiert und vielfach geschwätzig innerhalb der Ausstellung – so dass sich gar die Conclusio einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ der BesucherInnen anbieten würde – zu faul, um der Ausstellung ernsthaft zu begegnen.

Doch ist das Attest der Faulheit gerechtfertigt? Wird die vielfach beklagte passive Rezeptionskultur von Massenmedien nun auch beim Besuch einer Ausstellung kultiviert? Oder sind diese empirisch nachweisbaren Verhaltensweisen von BesucherInnen gar Ausdruck eines kulturellen Widerstands gegen die bildungsbürgerliche Idealvorstellung des Connaisseurs? Im Folgenden werde ich jene erste empirische Bestandsaufnahme zum Realbild von BesucherInnen etwas differenzierter betrachten und das charakteristische Rezeptionsverhalten in Ausstellungen auf mögliche eigensinnige Momente hin untersuchen.

1.    Wider einheitliche Sehkonventionen
Statistisch erhoben bleiben BesucherInnen durchschnittlich 27,2 Sekunden vor einem Bild stehen. Dies entspricht einer Dauer, welche die kunstwissenschaftliche Analyse als sehr kurz einstuft und mit einer Zeitspanne gleichsetzt, die eine echte Kunsterfahrung erst gar nicht ermögliche (z.B. Hantelmann 2012: 12)star (* 4 ). Doch wie definiert sich die „richtige“ Betrachtungszeit von Kunstwerken? Und viel mehr noch, wie verträgt sich eine ideale Betrachtungsdauer mit einer Vielzahl von Ausstellungsobjekten und einer natürlichen, das heißt nicht endlos dehnbaren, Aufmerksamkeitsspanne? In meiner Feldforschung zeigte sich, dass die BesucherInnen sehr bewusst mit ihren Zeit- und Energieressourcen umgehen und intelligent priorisierend, den Kunstwerken unterschiedlich viel Aufmerksamkeit widmen. So entscheiden sich BesucherInnen etwa nach einem ersten schweifenden Blick autonom (und damit mit Sicherheit auch gegen den Wunsch von KünstlerInnen und KuratorInnen), welchen Objekten sie mehr, welchen sie weniger und welchen sie gar keine Aufmerksamkeit widmen wollen. Die Spannbreite der Interaktion mit einem Kunstwerk kann somit in verschiedenen Hinwendungsstufen von einer sehr kurzen einschätzenden Betrachtung bis zu einer intensiven Auseinandersetzung variieren. Dies bestätigen im Übrigen auch Smith & Smith (2001: 232f.)star (* 10 ), wenn sie drei Arten des Sehens nach der Verweildauer der BesucherInnen unterscheiden: Erstens eine Zeitspanne von rund zehn Sekunden zur Bewertung, ob sich eine weitere Betrachtung lohnt. Zweitens eine durchschnittliche Erfassungszeit von rund 30 Sekunden und drittens eine vertiefende Beschäftigung mit einer Dauer von über einer Minute pro Kunstwerk. Damit ist folglich auch das „looking away“ wie Irit Rogoffstar (* 9 ) es fasst, weniger als Desinteresse und Ignoranz, denn als ernst zu nehmende Entscheidung der BesucherInnen zu werten.

2.    Wider das Privileg des Blicks
Das Phänomen des „bürgerlichen Blicks“, wie ihn Tony Bennett (2010)star (* 1 ) analytisch fasst, ist ein weiteres Charakteristikum des Connaisseurs, welchem heutige Ausstellungsrezeptionsmodi verstärkt nicht mehr entsprechen wollen. Denn der „bürgerliche Blick“ bestimmt sich vor allem über die Privilegierung des Sehsinns seit der Gründung des modernen Museums. Mit dem Ideal der „reinen Wahrnehmung“ wird hier gleichsam die Notwendigkeit visueller Kompetenzen für diese Art der ästhetischen Kunstbetrachtung virulent, da nur mit vorhandenen visuellen Kompetenzen das Angebotene entsprechend wahrgenommen und wertgeschätzt werden kann. Wenn AusstellungsbesucherInnen sich aber nun in ihrem flanierenden Gehmodus der Ausstellung annähern, kommt ein ganz anderer Kunstrezeptionsstil, ein ganz anderes körperliches Sensorium zum Tragen. So liegt die primäre Ausstellungsrezeption von BesucherInnen weniger in einer visuellen Wertschätzung der Kunstwerke von einem fixierten Standpunkt aus, sondern laut meiner Untersuchung darin, den Raum vorerst einfach wahrzunehmen und die Ausstellung mit einer grundsätzlichen Neugier aufzunehmen. In dieser Herangehensweise sehe ich damit, anders als in der kultivierten Privilegierung des Sehsinns, einen Versuch der BesucherInnen gegeben, die Gesamtheit der Ausstellung körperlich zu erfassen und über ihre Raumqualitäten zu „erspüren“. Die spürende Wahrnehmung der Ausstellung basiert daher – entgegen einer einseitigen Lesart als superfizielle Auseinandersetzung – auf einem spezifischen performativen Körperwissen (Böhle/Porschen 2011: 59)star (* 2 ) und ist im Sinne einer Syntheseleistung (Löw 2001: 224f.)star (* 8 ) als individuelle Raumproduktion aufzufassen.

3.    Wider einen konventionellen Lernbegriff
Als Heiner Treinen (1991)star (* 11 ) in seinen museumssoziologischen Untersuchungen feststellte, dass BesucherInnen in Ausstellungen grundsätzlich nicht lernen wollen, polemisierte er mit dieser Aussage derart gegen vorherrschende konventionelle Lehr-Lernmodelle und idealistische museumspädagogische Bestrebungen, dass retrospektiv von einem Treinen-Schock in den 1990er Jahren gesprochen werden kann (Kirchberg 2010: 175)star (* 7 ). Wenn BesucherInnen in Ausstellungen nicht lernen wollen, bedeutet dies jedoch nicht, dass sie den Inhalten der Ausstellung indifferent gegenüber stehen. Vielmehr sehnen sich viele BesucherInnen, wie auch meine Befragung markiert, nach einer besonderen sinnlichen Erfahrung in der Ausstellung, abseits des klassischen Lernens. In einer kulturkritischen Sichtweise kann dies wie der Niedergang einer konzentrierten Kunstrezeption gelesen werden, verdrängt vom bloß atmosphärischen Eintauchen in Inhalte. Gerade die körperliche und räumliche Erfahrung der Ausstellung stellt gegenüber anderen Formen der Wissensvermittlung jedoch eine elementare Ressource dar. Denn nicht zu vergessen ist, dass Erfahrung nicht nur sinnlich, sondern auch sinnstiftend sein kann – worauf George E. Hein (2011: 348f.)star (* 5 ) mit „experience is educative“, einem Kommentar John Deweys, in seiner klugen Neubetrachtung von Lernprozessen in Museen und Ausstellungen hinweist.

4.    Wider die stille Kontemplation
Dass der Ausstellungsbesuch auch weniger von einer „einsamen“ Beschäftigung mit Kunst, sondern vielmehr von einer gemeinsamen Auseinandersetzung in Gruppen geprägt ist, offenbart ein weiteres interessantes Paradoxon im Auseinanderklaffen von gelebter Realität und idealisierter Rezeptionsvorstellung. Veranschaulichen lässt sich dies beispielsweise mit der Studie Geliebte Kunst (Waibel 2010)star (* 12 ), bei der die Gültigkeit von Pierre Bourdieus und Alain Darbels Untersuchung Die Liebe zur Kunst mittels stichprobenartiger Vergleichsdaten in Wiener Kunstmuseen überprüft wurde. Obwohl die überwiegende Mehrheit der BesucherInnen mit hohem Bildungsniveau in dieser Studie den Wunsch angab, Museen alleine besuchen zu wollen, entsprach dies bei Weitem nicht der tatsächlichen Art des Museumsbesuchs. Es stellte sich vielmehr heraus, dass drei Viertel der BesucherInnen sich das Museum in Gruppen erschlossen. Interessanterweise entspricht dies somit jener Besuchsform, wie sie Bourdieu und Darbel (2006: 85)star (* 3 ) bei den unteren Klassen in den 1960er Jahren beobachten konnten und in Zusammenhang mit dem Wunsch sahen, sich innerhalb der Gruppe weniger einem möglichen Gefühl des Unbehagens aussetzen zu müssen. Ist die Annäherung an Kunst in der Gruppe daher als sozial niederrangig und unsicher zu bewerten? Meines Erachtens lässt sich dies heute weder statistisch noch theoretisch rechtfertigen. Vielmehr zeichnen sich Gruppenbesuche über ihre spezifische Soziabilität im gemeinsamen Gehen und Sehen und des darüber Sprechens aus. Gerade das Kommunizieren in der Ausstellung stellt ein bedeutendes Element der Kunstrezeption dar, wenn analog einer konstruktivistischen Sichtweise erst durch Kommunikation Wirklichkeit entsteht (Kirchberg 2010: 178)star (* 7 ) und die individuellen Bemühungen, dem Gesehenen Sinn zuzuschreiben, unterstützt und erweitert werden (Hein 1998: 172ff.)star (* 6 ).

5.    Für das faule Verhalten oder der Wert des Eigensinns
Konkludierend sehe ich damit das scheinbar faule Verhalten der BesucherInnen im Grunde wie einen Befreiungsschlag von der bildungsbürgerlichen Vorstellung des Connaisseurs: indem BesucherInnen den einzelnen Kunstwerken nur eine selektive Aufmerksamkeit widmen; die Ausstellung in einem ganzheitlichen sensorischen Modus wahrnehmen; an diesem Ort eine andere Form des Wissens suchen und sich über den gemeinsamen Besuch und das Kommunizieren annähern. Jenseits einer normierten Idealvorstellung von KunstrezipientInnen entspricht dieses Verhalten damit nämlich einfach jenen subjektiven Vorstellungen, Erwartungen, Wissensbeständen, Lernpräferenzen und Launen, kurz jenen Prädispositionen der AusstellungsbesucherInnen, welche ihre individuelle Kunstrezeption bestimmen. Das Idealbild des Connaisseurs ist als Mythos entlarvt, und – wie ich meine – auch zu Recht, gibt es doch weitaus mehr Arten sich der Kunst anzunähern und sie ganz im Sinne ihrer Offenheit in polysemiotischen und handlungsmächtigen Lesarten (Winter 2003)star (* 14 ) mit dem Wert des Eigensinns für sich selbst zu nutzen.

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Bennett, Tony (2010): Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens, in: Die Ausstellung. Politik eines Rituals. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 47–77.

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Böhle, Fritz/Porschen, Stephanie (2011): Körperwissen und leibliche Erkenntnis, in: Keller, Reiner/Meuser, Michael (Hg.): Körperwissen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, S. 53–67.

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Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain (2006): Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher. Konstanz: UVK-Verlag.

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Hantelmann, Dorothea (2012): Notizen zur Ausstellung, Nr. 88 in der Publikationsreihe 100 Notizen – 100 Gedanken der dOCUMENTA (13). Ostfildern: Hatje Cantz.

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Hein, George E. (2011): Museum Education, in: Macdonald, Sharon (Hg.): A companion to museum studies. Chichester: Wiley-Blackwell, S. 340–352.

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Hein, George E. (1998): Learning in the museum. London/New York: Routledge.

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Kirchberg, Volker (2010): Besucherforschung in Museen: Evaluation von Ausstellungen, in: Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld: transcript, S. 171–184.

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Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Rogoff, Irit: Looking Away – Participations in Visual Culture, collabarts.org/?p=6 (5. Februar 2013).

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Smith, Jeffrey K./Smith, Lisa F. (2001): Spending time on art, in: Empirical studies of the arts, Heft 19, Nr. 2, S. 229–236.

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Treinen, Heiner (1991): Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in kulturhistorischen Ausstellungen, in: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. München: Haus der Bayerischen Geschichte, S. 11–13.

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Waibel, Tom (2010): Geliebte Kunst. Wer geht um der Kunst willen ins Museum?, in: kunstschule.at (Hg.): kunstschule.at 365/10. Wien: Sonderzahl, S. 41–46.

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Waidacher, Friedrich (1996): Handbuch der allgemeinen Museologie. Wien/Köln/Weimar: Böhlau.

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Winter, Rainer (2003): Polysemie, Rezeption und Handlungsmächtigkeit, in: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martínez, Matías/Winko, Simone (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie und Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York: Walter de Gruyter, S. 431–453.

Bei ihrer Untersuchung Spending Time on Art beziffern Jeffrey K. Smith und Lisa F. Smith (2001: 231) die durchschnittliche zeitliche Auseinandersetzung mit einem Bild (inklusive Lesen des Labels) mit 27,2 Sekunden, wobei der Medianwert bei 17,0 Sekunden liegt.

Dieses Faktum, an dem schon viele empirische Studien rekapitulieren mussten, fasst Heiner Treinen (1991) pointiert zusammen, indem er Museen als „Lernorte“ als eine irrige Annahme bezeichnet.  Das Verhalten der BesucherInnen in Ausstellungen ähnelt anstatt dem Lernen – im Sinne eines massenmedialen Konsums – eher einem „aktiven Dösen“ (ebd. 13) und dem Ausschauhalten nach neuen zusätzlichen Reizen.

Laut Friedrich Waidacher (1996: 223) finden 75 bis 95 Prozent aller Ausstellungsbesuche mit Familie und FreundInnen statt, dasselbe Attest findet sich auch bei George E. Hein (1998: 172), der die Anzahl der EinzelbesucherInnen mit einer Höhe von 5–20 Prozent bestimmt

Diese Feststellung stammt aus meiner eigenen Feldforschung zur Ausstellung als Handlungsraum. Mit einer Methodenkombination aus Raumanalyse, teilnehmender Beobachtung und Interviews untersuchte ich im Jahr 2010 drei ausgewählte Ausstellungen zeitgenössischer Kunst im Kunsthaus Bregenz, bei der 6. Berlin Biennale und im Salzburger Kunstverein. Gerade bei den teilnehmenden Beobachtungen im Ausstellungsraum wurde ich auf den großen Stellenwert des gesprochenen Wortes bei der Kunstrezeption aufmerksam.

Luise Reitstätter ( 2013): Der Widerstand der Faulheit oder warum der Connaisseur ein Mythos ist. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/der-widerstand-der-faulheit-oder-warum-der-connaisseur-ein-mythos-ist/