„Die Frage ist ganz einfach: Wer spricht in der Kunst …“

Ein Interview mit Ljubomir Bratić von Laila Huber und Elke Zobl

Ljubomir Bratić, Philosoph, freier Publizist und langjähriger Aktivist im MigrantInnen-Bereich, war anlässlich des Symposiums „Künstlerische Interventionen: Antirassistische und feministische Perspektiven und Strategien“ beim Studienschwerpunkt „Cultural Production & Arts Management“ zu Gast. Im Gespräch mit Laila Huber und Elke Zobl erzählte er über die Unterschiede zwischen dem politischen und moralischen Anti-Rassismus, inwiefern künstlerische Interventionen eine Schlüsselfunktion im politischen Anti-Rassismus einnehmen und gab Einblicke in den Hor 29. Novembar als Beispiel einer künstlerischen Intervention, die dem hegemonialen Diskurs die verdrängten und unterdrückten Geschichten der GastarbeiterInnen aus Ex-Jugoslawien entgegenstellt.*1 *(1)

Als Aktivist im MigrantInnen-Bereich setzt du dich schon lange für den politischen Anti-Rassismus ein, insbesondere mithilfe von künstlerischen Techniken. Könntest du für uns erläutern, inwiefern der politische Anti-Rassismus und künstlerische Interventionen zusammenhängen?

Politischer Anti-Rassismus ist natürlich ein Diskurs, der sich in erster Linie in der Politik oder in diesem gewissen Bereich des Politischen entwickelt – dabei muss man unterscheiden zwischen Politik, oder was sich Politik nennt – ein Bereich, dessen Hauptinhalte sich in Begriffen wie „Konsens“ und „Verwaltung“ analysieren lässt, und dem Bereich des Politischen – einem Bereich, wo es darum geht, den herrschenden Konsens neu zu definieren. Politischer Anti-Rassismus ist eine Intervention von denjenigen, die eigentlich nicht von der offiziellen Politik vertreten werden können, oder vertreten werden – als politisches Moment begriffen: es wird etwas getan und für die Rechte gekämpft. Das heißt in diesem Bereich der Subjektposition derjenigen, die keine Rechte haben, hat sich so etwas wie ein Diskurs des politischen Anti-Rassismus angesiedelt und dort wird an der Idee der Gleichheit, vor allem der gleichen Rechte für alle, gearbeitet. In diesem Zusammenhang ist es zur Entwicklung dieser Interventionstechniken gekommen.

Ein Bereich, in dem diese Interventionen an die Öffentlichkeit gebracht werden können, ist natürlich die Technik der Kunst und der Kultur. Das ist erstens eine Möglichkeit, die viel an Kapital angesammelt hat, die man für bestimmte Zwecke sehr gut einsetzen kann, und zweitens eine Möglichkeit sich Gehör zu verschaffen, damit etwas als Thema wahrgenommen wird. Wenn etwas als Thema in Form eines Kunstwerkes daherkommt, dann wird es anders wahrgenommen, als wenn es als Thema von einem Sozialarbeiter in einer Pressekonferenz dargestellt wird. Das ist zweischneidig, was mir ganz klar ist, denn dabei besteht natürlich die Gefahr der Kulturalisierung der Geschichte, also dass wir plötzlich lauter KünstlerInnen da haben, aber keine politischen AktivistInnen mehr. Aber in dem Sinne bin ich durchaus dafür, diese Gefahr in Kauf zu nehmen und auch solche Bereiche aufzubauen, die sich dezidiert dieser Interventionskunst entlang dieser Linien verschreiben und das auch tun.

Alles, was es gibt, ist natürlich ein Diskurs: Texte, die geschrieben werden, die rezipiert werden, die wahrgenommen werden etc. So diffus entwickelt sich das Ganze – wenn es sich überhaupt entwickelt, das ist auch die Frage. Man merkt das daran, welche Themen Anfang/Mitte der 90er aktuell wurden, wie man damals gestritten hat im öffentlichen Diskurs und was man heute macht. Da gibt es schon eine gewisse Verschiebung und die Frage „Wer spricht?“ ist heute viel zentraler als damals. Das sind lauter politische Sachen, die man mit künstlerischen Mitteln vorantreiben kann.

Kannst du ein Beispiel einer Kunstintervention geben, die den Aspekt des moralischen Anti-Rassismus in sich trägt, um das dem politischen Anti-Rassismus gegenüberzustellen?

Ja, die ganze so genannte Social Art; also KünstlerInnen, die zu den Armen gehen, dort Interviews machen, daraus Filme machen und das Ganze dann in einer Galerie zeigen.

Und konkret in Wien?

Das gibt es dort nach wie vor, aber ich will keinen öffentlich beschuldigen. Es gibt auch ein Festival in Wien, das solche Sachen vorantreibt. Rund um diesen Toleranzgedanken, der per se nicht schlecht ist, aber die Frage ist ganz einfach: Wer spricht in der Kunst und wer hat davon eine Kontinuität, also wer stellt diese Werke, die in der Galerie ausgestellt werden und wer akkumuliert das Kapital? Das ist der Punkt. Ich bin kein Freund von Social Art, was aber nicht heißen will, dass es nicht Schlechteres gegeben hat. Jedoch ist es eine Tatsache, dass das eine Zeitlang eine Bewegung war, dass KünstlerInnen sehr gern zu den Armen gegangen sind, sehr gerne was gemeinsam mit ihnen gemacht haben. Entstanden ist dabei das, was sie dann in Galerien ausgestellt haben und die beteiligten Menschen haben – wenn überhaupt – ein paar Euro davon gehabt. Das ist die Frage, inwiefern dieses Feld überschritten werden kann, inwiefern jemand als Künstlerin oder als Künstler tatsächlich zu den Armen gehen kann und nicht Fremden-Schau dabei betreibt.

Kann man sagen, dass der moralische Anti-Rassismus eine StellvertreterInnen-Politik betreibt?

Ja, genau. Es muss auch nicht alles schlecht sein, wenn ich den moralischen Anti-Rassismus als Gegenpart zum politischen Anti-Rassismus aufrufe, dann ist das natürlich auch eine Konstruktion. Wir reden dabei die ganze Zeit über von einer Konstruktion, notwendigerweise müssen wir das tun. Das heißt nicht, dass man in diesem Zusammenhang alles negativ sehen muss, denn es gibt tatsächlich kranke Menschen, es gibt tatsächlich Menschen, die Hilfe bedürfen. Das Problem dabei ist, dass solche Opferkonstruktionen auf die ganze Gruppe bezogen werden und dass dadurch andere Sichtweisen und Entwicklungsmöglichkeiten verdeckt werden. Dieser Verdeckungsprozess ist das, womit ich ein Problem habe. Die Menschen werden dabei gewissermaßen entmündigt. Nicht deswegen weil sie keine Sprache haben, sondern deswegen weil ihre Sprache kein öffentliches Gehör findet.

Also, dass ihnen die SprecherInnen-Position genommen wird, sie präsentiert werden, sie sich selbst aber nicht artikulieren können?

Ja. Die Frage ist, inwiefern sie selbst in die SprecherInnen-Position kommen können. Das thematisieren z.B. die Arbeiten von Klub Zwei, die schon jahrzehntelang um diese Frage kreisen – aber nur kreisen und somit genüg Raum für andere mögliche Antworten lassen. Jo Schmeiser und Simone Bader haben eine langfristige Kooperation mit maiz, aber auch sie, wie letzten Endes auch wir alle, haben keine allgemein gültigen Antworten. Die Frage ist, ob es im Bereich des Politischen, dort wo alles fließt, überhaupt möglich ist, zu letzten Antworten zu gelangen. In diesem Bereich sind deterritorialisierende Kräfte am Werk. So funktioniert einfach der Diskurs. Man grenzt sich von etwas ab, damit man überhaupt etwas entwickeln kann was nicht heißt, dass bestimmte Sachen schlecht sind. Ich habe zum Beispiel auch nichts gegen die Soziale Arbeit – ich bestreite mein Lebensunterhalt auch dadurch, dass ich bestimmten Menschen in bestimmten schwierigen Lebenssituationen mittels sozialarbeiterischer Methoden zu helfen versuche, obwohl ich sie manchmal angreife und gegen bestimmte Aspekte polemisiere. Es geht dabei um die Techniken, die angegriffen werden; inwiefern jemand pathologisiert und zum Opfer gemacht wird. Die zentrale Frage ist nach wie vor, inwiefern man in der Sozialen Arbeit eine unterstützende Rolle spielen kann. Wir haben jetzt z.B. eine sehr große Unterstützung von der Kunstszene in Wien für die Refugee-Bewegung, aber es war von Anfang an klar, wer was macht, wie was gemacht wird, wer spricht etc. Die ganze Reflexion, die sich seit den 90er Jahren entwickelt hat zeigt da eine Wirkung in der Realität. Es lässt sich jedenfalls beobachten, dass eine gewisse Bewegung, eine Bewusstwerdung, ein Prozess der Hinterfragung existent ist, auch wenn dabei viele Fehler gemacht werden. Aber es war von Anfang an klar: Eine bestimmte Anzahl der politischen und geschulten Menschen hat dabei gesagt: „Wir sind UnterstützerInnen, aber die SprecherInnen-Positionen und Anliegen, die habt ihr. Wir machen das, weil wir uns mit euch solidarisieren, weil eure Sache unsere Sache ist, aber ihr seid diejenigen, die in die Öffentlichkeit kommen.“ Ich habe das Gefühl, das funktioniert, obwohl sich die Konstellation der Gruppe im Allianz bedingt durch die Fluktuation ständig ändert.

Warum hat das Feld der Kunst- und Kulturproduktion so eine Schlüsselfunktion im politischen Anti-Rassismus oder in politischen Kämpfen? Warum ist das eine der Techniken, die sehr wichtig erscheint?

Es geht um Öffentlichkeit, und Kunst und Kultur können u.a. als Laboratorien betrachtet werden, aus denen dieser Öffentlichkeit in gewisser Art und Weise Struktur erteilt wird. In dieser Öffentlichkeit wird nicht über alles geredet und es ist nicht alles ein Thema. Das heißt, dass etwas zum Thema zu machen und dadurch das weitere strategische Potential zu stärken eine politische Vorgangsweise ist, die auch mit Kunst- und Kulturmitteln geführt und vorangetrieben werden kann. Es ist nicht das Gleiche, über Opfer zu reden und Bilder von Opfern zu zeigen wie über Akteurinnen und Akteure zu sprechen. AkteurInnen in den Bildern oder im Gegensatz dazu deren selbstproduzierte Projekte in die Öffentlichkeit zu bringen – das ist ein Unterschied und v.a. ein langwieriger Prozess, der nicht von heute auf morgen passiert. Bei der Refugee-Bewegung habe ich das sehen können, und zwar in einem eminent politischen Feld, wo sie bis heute von vielen Leuten, die mit der Akademie der bildenden Künste in Verbindung stehen, unterstützt werden. Allerdings in dem Moment, wo die Refugees die Aula der Akademie für sich beanspruchten, kam es zu einer weiteren Klärung der Situation. Es zeigte sich, dass es einzelne Menschen gibt, die von der Akademie kommen und ihre Ressourcen in einem Prozess der Solidarisierung zur Verfügung stellen, nicht aber, dass ihre Ankerinstitution, die so stark auf ihrer libertären Ruf pocht, etwas mit den Überzähligen anfangen kann. Auch die Akademie der bildenden Künste ist nichts anderes als eine Institution, die wie andere strukturtragende und strukturerhaltende Institutionen funktioniert. Die Libertinage hat ihre Grenzen dort, wo es darum geht „den normalen Betrieb“ zu erhalten.

Aber da gibt es eben diese Diskussion, dieses Themen-Setzen, Texte-Schreiben, Texte-Rezipieren, gemeinsame Seminare, Lesezirkel etc. Das ist alles Kultur, Kulturproduktion, Kulturreproduktion, Kunst, die in verschiedenen Zusammenhängen zu dem Thema ausdiskutiert wird. Deswegen denke ich, dass für den politischen Anti-Rassismus, der sich Gleichheit als eine Kategorie, die für alle gilt, auf die Fahnen geschrieben hat, dieser Kampf und die Auseinandersetzung um die Themen und Inhalte der Wörter und die Wörter selbst sehr zentral ist. Aber das ist nur ein Teil davon und nicht die ganze Bandbreite. Es passiert auch, dass man sich in diesen Auseinandersetzungen verliert, dass jemand zu einer Künstlerin oder zu einem Künstler wird, die/der sich mit dem politisch Korrekten und dem Kampf um politische Correctness beschäftigt. Politische Correctness ist eine wichtige Methode, aber sie ist Teil eines viel breiteren Zusammenhangs, und darf auch nicht so eng genommen werden. Es bringt uns nicht sehr viel, wenn wir bestimmte Wörter nicht sagen dürfen, aber wenn trotzdem das ganze Ungleichheitswerk, das eigentlich existent ist, weiter besteht. Das betrifft jetzt aber nur eine kleine Sparte; wir reden hier nicht von einer Unmenge an Menschen, die sich damit beschäftigen, aber von einer bestimmten Anzahl, die sich doch als einflussreich erwiesen haben. Die Diskussionen, das lässt sich mit Sicherheit bemerken, laufen heute tatsächlich anders als Anfang der 90er Jahre. Derzeit wird nicht mehr so leichtfertig das Wort „Kultur“ in den Mund genommen, nicht mehr so leichtfertig das Wort „Identität“ in den Mund genommen und jetzt wird nicht mehr so leichtfertig die „Zwischen-zwei-Stühlen-Identitäts-Zerrissenheit“ beschworen, oder die Kopftuchdiskussion. Es gibt viele Diskussionen, die angegriffen wurden, in die interveniert wurde, und die in eine ganz bestimmte Richtung vorangetrieben wurden.

In deinen Beispielen beziehst du dich auf Wien – gibt es in Wien, oder auch in anderen Städten, ein Zusammenspiel zwischen der Etablierung dieser Diskurse im Kunst- und Kulturfeld seit den 90ern und der Selbstorganisation im MigrantInnen-Bereich, oder auch in anderen Feldern der Zivilgesellschaft?

Ja, in Wien, und in Linz könnte man auch sagen. Es gibt so kleine Ableger in Innsbruck; in der Stadt Salzburg kenne ich mich aber überhaupt nicht aus, da müsst ihr mir was sagen. Das ist die Beobachtung, die ich aus und in Wien mache, und vieles entsteht dort auch. Solche Organe wie die Kulturrisse , wie MALMOE, wie Bildpunkt oder an.schläge waren und sind dort, was nicht unwesentlich ist. Wien hat wie jede Stadt ihre eigenen Freundeskreise bzw. Szenen, innerhalb derer man sich kennt. All das spielt eine Rolle und natürlich spielt da auch die Auseinandersetzung mit der rechten Regierung eine wesentliche Rolle, also 1999/2000. Innerhalb der Szene wurden zu dieser Zeit auch große Kämpfe geführt. Das war ein Kampf zwischen einer Position für ein besseres Österreich und einer anti-nationalen Position, der da ausgefochten wurde, wodurch die Leute auch zusammengebracht, aber auch getrennt wurden. Man weiß, auf welcher Seite jemand steht und wie das funktioniert. Aber das ist, glaube ich, in jeder Stadt so, also wahrscheinlich auch in Salzburg.

Der Begriff “Selbstorganisation im MigrantInnen-Bereich” lässt mich sofort an den Chor des 29. November denken, in dem du involviert bist und den du mitgestaltest. Inwiefern ist dieser Chor als eine künstlerische Intervention zu betrachten und inwieweit wird dort der Aspekt der Selbstorganisation realisiert?

Der Hor 29. Novembar war eigentlich als eine kurzfristige künstlerische Intervention in der Öffentlichkeit gedacht. Die erste Aktion wurde von Aleksandar Nikolic und Saša Miletic gestartet, um des 29. Novembers 1969 zu gedenken und diesen Tag an die Öffentlichkeit zu bringen. Am 29.11.1969 wurde in Wien der erste „Gastarbeiterverein“ unter dem Name Mladi radnik – der junge Arbeiter gegründet. Wir sind am 29. November 2009, also 40 Jahre später als Andenken an diesen Tag, zum ersten Mal in die Öffentlichkeit getreten.

Der Chor war angelehnt an den altgriechischen Chor, durch den das Volk spricht, also der Chor ist die Stimme des Volkes, die öffentliche Meinung. Es war auch so, dass nicht einzelne KünstlerInnen intervenierten, sondern das Ganze als Kollektiv gedacht war. Unmittelbar danach hat sich herausgestellt, dass es doch mehr Energie gibt als nur für diese erste Aktion. Aus verschiedenen Gründen, u.a. war es offenbar der richtige Moment, an dem sich die Leute getroffen haben.

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Foto: Rania Moslam

Am Anfang war ein Großteil der Leute aus den verschiedenen ex-jugoslawischen Republiken. Das hängt, im positiven Sinne, mit dem „nostalgischen” Moment zusammen und dem ganzen Ethnisierungswahn, der hier und dort extrem vorangetrieben wurde. Das hat die Leute zusammengebracht und sie haben zu singen angefangen, also Arbeiter- und Partisanenlieder. Man darf nicht vergessen, dass Arbeiter- und Partisanenlieder Teil des hegemonialen Diskurses in Jugoslawien waren, wo einige dieser Leute aufgewachsen waren. Hier in Österreich aber war keine Rede mehr von einer kulturelle oder sonstige Hegemonie, sondern die meisten, die dabei waren und sind, befinden sich in einer minoritären Position – in einem öffentlichen Raum aufzutreten und auch die eigene Geschichte der Gruppe hier zu ergründen, das war so die Grundidee. Es war in einer gewissen Weise eine Selbsthistorisierung, die bei der ersten Aktion stattgefunden hat und die sich heuer im August bei einer öffentlichen Probe des Chors im Augarten wiederholt hat. Es wurde des „Balkan-Woodstock“ gedacht: Am 14. August 1973 hatten sich spontan 3000 bis 4000 Leute aus Jugoslawien im Augarten getroffen und dort gefeiert. Es gab einen Aufschrei in der bürgerlichen Presse und von da an wurde dieses Treffen „Balkan-Woodstock“ genannt. Dieser Akt von Raumnahme war ein großes Problem für die Wiener Regierung und so wurden die Freizeit zelebrierende Menschen schließlich für das nächste Wochenende unter die Donaubrücke verwiesen. Natürlich kann auch diese Versammlung unter die Reichsbrücke weiter gedacht werden: In gewisser Sinne war das einer der Vorläufer der gegenwertigen Spektakel „Donauinselfest“. Um die Erinnerung mal in diese Richtung zu lenken: Der Chor hat das gemacht.

Vor zwei Jahren gab es eine Safari-Tour, bei der der Chor an fünf verschiedenen öffentlichen Orten gesungen hat, die etwas mit der „GastarbeiterInnen“-Geschichte zu tun hatten, also mit dieser verborgenen Geschichte, die nicht Teil der offiziellen Erzählung ist. Wichtig ist uns auch die Solidarisierung mit Demos. Bei einer der ersten Aktionen haben wir bei der Besetzung der Akademie der bildenden Künste 2009 gesungen; und wir waren praktisch bei jedem Mayday dabei, sowie bei den Votivkirchenflüchtlingen, die von Traiskirchen in Richtung Wien aufgebrochen sind. Wir machen auch Interventionen im Konzertbereich, z.B. Auftritte im Ostclub oder auch bei den Wiener Festwochen, wenn wir eingeladen werden. Dafür gibt es auch Geld. Wir sagen nicht von vornherein Nein zu Geld. Es gibt sozusagen eine politische Linie, eine „Straßen-und-Intervention-im-öffentlichen-Raum-Linie”, und daneben gibt es eben auch Konzerte und Kooperationen, z.B. für das Projekt New Bohemian Gastarbeiter Oper von Alexander Nikolić, oder eine Kooperation mit Künstlergruppe KJDT beim dem Projekt von Heiner Müller Wolokolamsker Chaussee XI.

Lange Zeit waren wir eine lose Organisation, seit letztem Jahr sind wir ein Verein. Es ist wirklich ein gelungenes Projekt, mit wöchentlichen Treffen und Proben im Integrationshaus. Vor der Probe gibt es auch noch Zeit, um ein Plenum zu machen, um Sachen zu besprechen, wie gerade eben die Vorbereitungen zum vierten Geburtstag, der am 29. November 2013 stattfindet. Es wird im AU – einem selbstorganisierten Klub mit einer Galerie von jungen KünstlerInnen, hauptsächlich aus Bosnien stammend – ein Konzert geben und eine selbsthistorisierende Ausstellung von Fotos, die während dieser Zeit entstanden sind. In meiner Funktion habe ich immer ein bisschen darauf geschaut, dass der Werdegang des Kollektivs dokumentiert wird, weil es oft sehr gute Projekte gegeben hat, die überhaupt keine Spuren hinterlassen haben. Insofern gibt es relativ gutes Material über den Chor.

Letztes Jahr waren wir sehr stark involviert in die Wienwoche; wir haben verschiedene Aktionen gemacht, z.B. „I am from Austria“ auf Romanes gesungen, was symbolisch gedacht war: Was passiert, wenn in einer Sprache, die für alle anderen nicht staatlich gebundenen Sprachen steht, eine solche heimlichen Hymne eines Staates gesungen wird? Wir haben auch ein Lied über Abschiebungen, „Der Grund“, entlang der Gesprächsprotokolle zwischen Asylwerber und Beamten des Innenministeriums gemacht und es öffentlich vor dem Innenministerium vorgetragen. Es ist eine Mischung aus Singen und dem Herstellen des Kollektivs durch das Singen, wodurch sich Energien kumulieren, die ungeahnt sind. Dabei geht es eigentlich um den energetischen Moment, weniger um den perfekt-musikalischen Moment, was sich wiederum auf der persönlichen Ebene auswirkt, aber auch wenn man auftritt. Ich würde schon sagen, dass es sich um ein politisches Projekt handelt, oder um ein künstlerisches Projekt, das sich auf der Linie des Politisch-Künstlerisch-Kulturellen bewegt. Die radikalste Ebene dabei ist einer egalitäre, jeder, ausnahmslos jeder, der mitsingen will, kann ein Mittglied des Chores werden.

Wer sind die AkteurInnen des Chor des 29. November? Aus welchem Hintergrund kommen die Leute, die sich in dem Chor engagieren?

Das ist sehr verschieden. Die Fluktuation, das ständige Kommen und Gehen, ist ein integrale Bestandteil des Projektes. Es gibt Leute, die von Anfang an regelmäßig kommen; es gibt Leute, die alle sechs Monate mal vorbeischauen; und es gibt Blöcke, die kommen und dann gehen sie wieder und dann kommen wieder neue. Seit neuestem dirigiert eine Frau, weil der vorherige Dirigent nach Amsterdam ausgewandert ist. Die neue Dirigentin kommt aus Zagreb, schreibt ihre Dissertation in Wien, und ist musikalisch gut ausgebildet, insofern wird das, was das Singen betrifft, ein Vorteil sein, aber es macht natürlich auch etwas mit dem Kollektiv. Ansonsten funktioniert es so, dass es bestimmte VerantwortungsträgerInnen gibt, die bestimmte Aufgaben übernehmen. Zu den Chorproben kommen in letzter Zeit jedes Mal so zwischen 15 und 25 Menschen, mit einem derzeitigen Überschuss an Frauen. Das ist interessant, denn es gab einmal eine Zeit, in der es einen Überschuss an Männern gab. Am Anfang waren noch mehr mit einem jugoslawischen Hintergrund dabei, das ist jetzt nicht mehr der Fall und hat sich inzwischen sehr diversifiziert, obwohl wir auch am Anfang Leute aus Italien, Spanien, Bulgarien etc. gehabt haben.

Es gibt einen politischen Kern, der in Richtung politische Aktionen denkt, und dann gibt es noch einen weiteren Kreis an Menschen, die einfach Freude am Singen haben, in Verbindung mit Partisanen- und Arbeiterkampfliedern, aber auch sonstigen Protestliedern oder „Gastarbeiterliedern“: Derzeit wird zum Beispiel Cem Karacas „Es kamen Menschen an“ geprobt. Die hegemoniale Rolle, die manche der Lieder in Jugoslawien eingenommen haben, ist uns natürlich nicht entgangen, weswegen wir sie auch verfremden, z.B. indem wir in die Lieder eingreifen, die Sprachen vermischen. Einige Lieder singen wir auf Spanisch und auf Serbokroatisch; wir haben eine Zeitlang international in sechs Sprachen gesungen. Sprachen sind ganz wichtig. Wir haben entdeckt, dass man eine Sprache nicht verstehen muss, um sie singen zu können. Das sind solche Experimente, die da laufen, die sich ergeben, und dann entsteht daraus eine Choreographie, die sich entwickelt und auch wieder vergeht. Dann möchte man wieder was Neues, abhängig von den Leuten, die gerade dabei sind, und abhängig von den Situationen, die bewältigt werden müssen.

Es ist erstaunlich, dass es das Projekt nach wie vor gibt, weil wie gesagt am 29. November der vierte Geburtstag gefeiert wird. Es wird ein Konzert geben und auch eine Aufnahme auf CD, obwohl wir eher ein Straßenchor sind, was nur auf der Straße oder in Konzerthallen wirkt, wo wir das Publikum direkt vor uns haben und die Atmosphäre einatmen können. Am Anfang haben wir es mit einer Studioaufnahme versucht, das hat fürchterlich geklungen. Aber es gibt eben doch Überlegungen in diese Richtung, um den Chor auch breiter präsentieren zu können.

Herzlichen Dank für das Interview!

 

Leider sind in den PDF-Versionen einige Sonderzeichen nicht richtig umgewandelt. Wir entschuldigen uns dafür!

Elke Zobl, Laila Huber ( 2014): „Die Frage ist ganz einfach: Wer spricht in der Kunst …“. Ein Interview mit Ljubomir Bratić von Laila Huber und Elke Zobl. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 04 , https://www.p-art-icipate.net/die-frage-ist-ganz-einfach-wer-spricht-in-der-kunst/