„Strategien für Zwischenräume. Neue Formate des Ver_Lernens in der Migrationsgesellschaft“

Exkursion zu den Aktionstagen von trafo.K in Wien

Eines schönen, sonnigen Tages im Juni machten wir (Dilara Akarcesme, Veronika Aqra, Laila Huber, Elke Zobl) uns auf den Weg von Salzburg nach Wien, um die Aktionstage im Rahmen des Projektes „Strategien für Zwischenräume. Neue Formate des Ver_Lernens in der Migrationsgesellschaft“ von trafo.K, dem Wiener Büro für Kunstvermittlung und kritische Wissensproduktion, zu besuchen*1 *(1). Im Rahmen des Projektes beschäftigte sich trafo K. ein Jahr lang damit, wie wir Bildung, Kultur und Gesellschaft neu denken können, was Strategien sind, um vorherrschende Wissensformen zu unterlaufen und wie Formate des Lernens neue Perspektiven auf Geschichte, Stadt, Sprache und Kunst eröffnen können. Die drei Aktionstage vom 14.-16. Juni 2016 boten die Gelegenheit, verschiedene Formate und Handlungsformen auszuprobieren. Als wir uns früh morgens in den Zug Richtung Wien setzten, waren wir alle sehr gespannt auf einen ereignisreichen Tag, an dem wir Einblicke in Strategien des Ver_Lernens bekommen sollten.

Im Forschungszentrum für historische Minderheiten angekommen, betrachteten wir erst einmal den Ausstellungsraum, in dem die Ergebnisse der Arbeit mit den Jugendlichen präsentiert wurden. Diese hatten im Rahmen von Workshops mit künstlerischen Strategien und Methoden der Aktionsforschung in kollaborativen Prozessen Lern- und Ausstellungsformate zu den Themen Geschichte, Kunst, Stadt und Sprache erarbeitet. Anschließend erzählten uns Regina Wonisch, Vida Bakondy und Arif Akkılıç mehr über das Projekt „Migration sammeln. Geschichte und Geschichten einer Stadt“.*2 *(2) Im Vorraum des Forschungszentrums konnten wir uns die Exponate der Ausstellung „Geschichte in Arbeit/Tarih Inşada/Istorija u nastajanju“ ansehen, die am 04.12.2015 im Wien Museum gezeigt worden war und nach fünf thematischen Gesichtspunkten geordnet war: Objekt und Geschichte, Zuschreibung und Kritik, Subjekt und Regulierung, Netzwerk und historische Spur sowie Repräsentation und Selbsthistorisierung. Interessant fand ich hierbei insbesondere, dass die Auswahl der Objekte für Diskussionen sorgte, da sich die Frage stellte, was alles ein Objekt der Migration sein kann. Auf institutioneller Seite gab es hierüber wohl klarer definierte Vorstellungen im Sinne von klassisch musealen Objekten, jedoch wird insbesondere bei Alltagsgegenständen deren Relevanz als Objekt der Migration erst durch die mit dem Objekt verknüpfte Erinnerung und Geschichte erkennbar. Das heißt, dass in diesem Kontext vor allem die bisher unsichtbaren bzw. unhörbaren Geschichten und Erzählungen dem Objekt seine Bedeutung geben. Zudem wurde ein Fokus der Ausstellung auf die Bedeutung der Selbstrepräsentation von MigrantInnen als auch auf die strukturelle Ebene der Migrationsgeschichte gelegt, die sich unter anderem in gesetzlichen Regulierungen und Verordnungen zeigt. Auch wenn sich die Ausstellung vorrangig auf historische Objekte der Arbeitsmigration der letzten fünfzig Jahre konzentriert, so wird doch ersichtlich, dass die fünf Gesichtspunkte, nach denen die Ausstellung geordnet wurde, bis zum heutigen Tage von Relevanz sind. Den Anstoß für dieses Projekt gab die 2012 von Ljubomir Bratić und Arif Akkılıç initiierte Kampagne „Für ein Archiv der Migration, jetzt!“.*3 *(3) Im Rahmen dieser Kampagne und darüber hinaus wurde darauf verwiesen, dass es für eine Subjektivierung und Autonomie der Migration unerlässlich ist, Sammeltätigkeiten mit Ausrichtung auf Migration aufzunehmen:

„Es geht um die tatkräftige Anerkennung der Tatsache, dass Österreich eine Einwanderungsgesellschaft ist, und es geht darum, den Menschen, die bisher als Zweite-Klasse-BürgerInnen galten, eine – und zwar ihre – Geschichte zuzugestehen. Es geht um eine Geschichte der MigrantInnen, die sich auf dem Weg zwischen zwei oder mehreren Nationalstaaten abspielt; eine Geschichte, die ihnen bisher ungeahnte Handlungspotenziale als Bestandteil der bestehenden Wirklichkeit zugesteht; eine Geschichte, die sie und ihre Organisationen als Beitrag zur Entwicklung und Demokratisierung der Gesellschaft anerkennt; eine Geschichte, die als ein integraler Bestandteil der großen nationalstaatlichen – aber auch einer anderen europäischen und weltgeschichtlichen – Entwicklung gelten soll; eine Geschichte, die ihnen Kontinuitäten in der Entwicklung, aber auch Brüche zugesteht usw.“ (Bratić 2013a: o.S.) star (*1)

Somit ist das Projekt „Migration sammeln“ als ein Aufbruch in die richtige Richtung zu sehen, dem hoffentlich noch viele weitere Schritte folgen werden.

Auf eine andere Weise mit dem Thema Geschichte befasste sich der anschließende performative Stadtrundgang mit Tomash Schoiswohl. Ausgestattet mit einem Leiterwagen, einer selbstbemalten Flagge, einer selbstgebauten lebensgroßen Kaffeehaus-Kulisse aus Pappkarton und vielen anderen mehr oder weniger handlichen Materialien machten wir uns auf den Weg zum Matzleinsdorfer Platz und wieder retour. An verschiedenen Stationen gab uns Tomash Schoiswohl Einblicke in die „Tiefengeschichte“ der besuchten Orte. Der von ihm geführte performative Stadtrundgang folgte dem Motto „Grabe, wo du stehst!“, wobei im Sinne der „Grabe, wo du stehst“-Bewegung der 1980er Jahre, die Geschichte des eigenen Stadtteils, der eigenen Arbeitsverhältnisse, der eigenen Lebenswelt von „einfachen Leuten“ selbst erforscht wird. Es handelt sich hierbei um eine radikal basisdemokratische Geschichtsarbeit, die das Potential besitzt, in kapitalistische Verhältnisse einzugreifen, die offen mit Medien und Quellen umgeht und Herrschaftskritik anstrebt, und insofern bestehende Machtverhältnisse thematisiert. Katharina Morawek und Tomash Schoiswohl (2010) argumentieren, dass eine solche kritische und gegenhegemonial verstandene Geschichtsarbeit im Sinne einer Weiterführung der Geschichtswerkstätten unter dem Begriff der Geschichtsbaustelle als „Interventionsprojekt in urbane Räume und deren Narrationen“ zu verstehen ist:

„Bezug nehmend auf das historische Modell der Geschichtswerkstätte, das in sozialen Bewegungen entwickelt wurde, schlagen wir das Bild der Geschichtsbaustelle vor, um Bildung als einen Prozess politischen Handelns betrachten zu können, welcher gleichzeitig Intervention in, Arbeit an und Produktion von „Geschichte“ bedeutet.“ (Morawek/Schoiswohl 2010: 48)star (*3)

Besonderes Highlight dieses performativen Stadtrundgangs war ‑ neben den vielen Einblicken in die mikropolitische Tiefengeschichte der einzelnen Orte ‑ ein Besuch in Tomash‘ Atelier, wo wir mit Saft und Kuchen verköstigt wurden, ein wenig ausrasten und weitere Arbeiten des Künstlers besichtigen konnten.

Den Abschluss dieses erlebnisreichen Tages bildete eine Gesprächsrunde mit María do Mar Castro Varela, Alisha M. B. Heinemann und Nora Sternfeld zum Thema „Mit dem Lehrplan streiten“, wobei es darum ging, die asymmetrische Ignoranz in Bezug auf die Einteilung der Welt in Nord und Süd aus einer postkolonialen Perspektive zu hinterfragen, da wir unsere Betrachtungsweise der Welt erlernt haben und somit auch wieder ver-lernen können. Alisha Heinemann stellte in diesem Kontext insbesondere interessante Bezüge zur praktischen Arbeit im Bereich des DAF und DAZ-Unterrichts her und zeigte auf, inwiefern der DAF/DAZ-Unterricht als eine Disziplinierungsmaßnahme für MigrantInnen fungiert.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass dies für mich ein besonders aufregender Tag, da ich die Gelegenheit bekam, einige der KünstlerInnen, VermittlerInnen und/oder WissenschaftlerInnen, von denen ich bisher nur gelesen und gehört hatte, in persona zu erleben. Zudem hat mir dieser Tag viele Anreize für eine praktische Beschäftigung mit kritischer Wissensproduktion geboten, und natürlich auch viele Fragen aufgeworfen, mit denen ich mich weiter beschäftigen werde.

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Bratić, Ljubomir (2013a): „Ein Ort namens ‚Archiv der Migration‘“. In: Kulturrisse. 04/2013. Online unter: http://kulturrisse.at/ausgaben/Archiv%20der%20Migration%2C%20jetzt/oppositionen/ein-ort-namens-201earchiv-der-migration201c (Stand: 27.07.2016).

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Bratić, Ljubomir (2013b): „Auf dem Weg zum Archiv“. In: Kulturrisse. 04/2013. Online unter: http://kulturrisse.at/ausgaben/Archiv%20der%20Migration%2C%20jetzt/einrisse/auf-dem-weg-zum-archiv (Stand: 27.07.2016).

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Morawek, Katharina / Schoiswohl, Tomash (2010): Von der Geschichtswerkstatt zur Geschichtsbaustelle. Historische Bildungsprozesse in urbanen Räumen. In: Thuswald, Marion [Hrsg.]: Urbanes Lernen: Bildung und Intervention im öffentlichen Raum / Marion Thuswald. Wien: Löcker, 2010.

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Heinemann, Alisha M. B. (O.J.): „Der Deutschkurs im Kontext von Flucht und Asyl. Hegemoniekritische Analyse des Lernens und Lehrens in Deutschkursen für Geflüchtete in den Migrationsgesellschaften Deutschland und Österreich“. Online unter: http://www.alishaheinemann.eu/deutschkurse-im-kontext-von-flucht-und-asyl/ (Stand: 27.07.2016).

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Über das Projekt „Migration sammeln“: http://www.migrationsammeln.info/inhalt/%C3%BCber-das-projekt (Stand: 27.07.2016).

Und natürlich freuten wir uns auch sehr darauf, unsere Teamkollegin Elke Smodics bei dieser Gelegenheit zu treffen!

Die MA 17, Abteilung für Integration und Diversität, hat in Kooperation mit dem Wien Museum das Projekt Migration sammeln in Auftrag gegeben. Mit der Durchführung des Sammelprojekts wurden die Initiative Minderheiten Wien, das Forschungszentrum für historische Minderheiten und der Arbeitskreis Archiv der Migration beauftragt. Das Projekt startete im Februar 2015 und wurde für die Dauer von eineinhalb Jahren von dem Projektteam bestehend aus Arif Akkılıç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratić und Regina Wonisch getragen. Siehe: http://www.migrationsammeln.info/inhalt/%C3%BCber-das-projekt (Stand: 27.07.16).

Veronika Aqra ( 2016): „Strategien für Zwischenräume. Neue Formate des Ver_Lernens in der Migrationsgesellschaft“. Exkursion zu den Aktionstagen von trafo.K in Wien. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/strategien-fur-zwischenraume-neue-formate-des-ver_lernens-in-der-migrationsgesellschaft/