Salzburg – München – Zürich

Drei Fallstudien zu drei Orten, die exemplarisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede künstlerischer Interventionen aufzeigen

Einleitung

Im Rahmen der Lehrveranstaltung Making Art ‑ Taking Part! Kritische kulturelle Produktion und Vermittlung (Leitung: Elke Zobl) setzten sich die drei Studentinnen Veronika Aqra, Verena Höller und Stefanie Niesner im Sommersemester 2016 mit der Frage nach der Bedeutung künstlerischer Interventionen für die Herstellung von Öffentlichkeit(en) auseinander. Die Lehrveranstaltung war an das zweijährige Forschungsprojekt Making Art ‑ Taking Part! Künstlerische Interventionen von und mit Jugendlichen zur Herstellung partizipativer Öffentlichkeiten gekoppelt, im Zuge dessen in Zusammenarbeit mit Schüler*innen, Lehrer*innen und Künstler*innen der NMS Liefering (Stadt Salzburg) und dem BORG Mittersill (Land Salzburg) künstlerische Interventionen entwickelt und umgesetzt wurden. Die im Folgenden von uns Studentinnen jeweils erarbeiteten Fallstudien spiegeln die Diversität künstlerischer Interventionen wider, gehen teils von völlig verschiedenen Ansatzpunkten aus, haben jedoch trotzdem einige Aspekte gemein. Die hier vorgestellten Projekte verdeutlichen die Vielfalt und Komplexität künstlerischer Interventionen. Ein besonderer Schwerpunkt wurde hierbei auf den Aspekt der Partizipationsmöglichkeit gelegt, der kulturellen und künstlerischen Interventionen innewohnt. Gemeinsam ist ihnen dabei vor allem das aktivierende oder aktivistische Moment:

„Im Gegensatz zur Kunst im öffentlichen Raum agieren diese künstlerischen Interventionen häufig außerhalb legaler, staatlicher oder institutioneller Absicherung. Sie verknüpfen kulturelle mit politischen Strategien, indem sie künstlerische Praxen aus dem Kunstfeld heraus in ein anderes ‚Feld’ überführen bzw. dazwischentreten und eingreifen. Sie können so Perspektiven aufzeigen und Veränderungen initiieren.” (von Borries et. al 2012: 100)star (*1)

Als wichtige Charakteristika künstlerischer Interventionen gelten demnach: das gesellschaftskritische Moment, das Eingreifen in den Status Quo, das Aufzeigen von Versäumnissen und das Anregen von Veränderungen. Die folgenden Projekte zeigen unter anderem, was künstlerische Interventionen in dieser Hinsicht leisten können und was nicht.

Verena Höller untersucht in ihrer Fallstudie, wie künstlerische Interventionen den Fokus auf die Versäumnisse offizieller Gedächtnispolitik und der Salzburger Erinnerungskultur in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit lenken können und so einen längst überfälligen Diskurs, z. B. über den Umgang mit Relikten und Artefakten aus dem Nationalsozialismus im Stadtraum von Salzburg, initiieren können.

Veronika Aqra arbeitet in ihrer Fallstudie heraus, wie das kritische Kartierungsprojekt mapping.postkolonial.net der Münchner Initiative [muc] münchen postkolonial in die Wahrnehmung des öffentlichen Raums interveniert, indem es sich auf post/koloniale Spurensuche im Münchner Stadtraum begibt und illustriert, dass sich post/koloniale Spuren und Ablagerungen nach wie vor im öffentlichen Raum finden lassen.

Stefanie Niesner analysiert in ihrer Fallstudie das Projekt Die ganze Welt in Zürich der Shedhalle Zürich. Ausgehend von der Tatsache, dass nahezu einem Viertel der BewohnerInnen Zürichs Mitbestimmungsrechte und Partizipationsmöglichkeiten verwehrt bleiben, weil sie keine Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen, setzt sich dieses Projekt mit dem Konzept einer „Urban Citizenship”, also „Stadtbürger*innenschaft”, auseinander.

Fallstudie 1: Salzburg
Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik zur NS-Vergangenheit –
Beispiele für künstlerische Interventionen in der Stadt Salzburg

von Verena Höller

„Erinnerung ist Repräsentation und damit zugleich Vermittlung und Verarbeitung“, liest man auf der Homepage des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Universität Klagenfurt zum Thema der Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik.*2 *(2)

Salzburgs Geschichte reicht bis in die Römerzeit zurück. Man wandelt daher in der Stadt fast überall auf historischen Pfaden. Der traditionsreichen Geschichte Salzburgs wird gerne und viel gedacht, Gedenksteine und Tafeln finden sich hierzu an fast jeder Straßenecke. Welche berühmten Dichter, Musiker und Künstler lebten in dieser Stadt?*1 *(1) Kaum vorbei kommt man an dem alles überstrahlenden Komponisten Mozart. Doch auch der berühmten Autoren, die hier einige Lebensjahre verbrachten, wird intensiv gedacht, etwa Thomas Mann, Thomas Bernhard, Theodor Herzl und nicht zuletzt natürlich Stefan Zweig. Blickt man auf den Umgang der Stadt mit ihrer Geschichte, gestaltet sich dieser aber doch recht einseitig. Betrachtet man insbesondere die jüngere Stadtgeschichte – Salzburg in der NS-Zeit – so wird man im alltäglichen Stadtbild abseits der Stolpersteine und einiger weiterer Gedenktafeln kaum auf Hinweise auf dieses Kapitel stoßen. Es ist also bis dato ein klares Defizit in der Erinnerungskultur auszumachen. Orte des Verbrechens sind nicht gekennzeichnet, Profiteure des NS-Regimes fungieren bis heute als Namensgeber von Straßen und Plätzen, wurden mit Ehrenzeichen und -titeln der Stadt bzw. Universität Salzburg gewürdigt. Jüngstes Zeichen eines sich nur langsam verändernden Diskurses ist etwa das universitäre Projekt Tabula Honorum und die daraus resultierende Aberkennung einiger Ehrentitel. Erinnerungskultur geht über Gedenktafeln hinaus, ist „kollektiv geteiltes Wissen“, ist „Geschichte im Gedächtnis“.*3 *(3) Essentieller Teil dieser Erinnerungskultur sind Erinnerungsorte und genau hier setzen zahlreiche künstlerische Interventionen in der Stadt Salzburg an, machen auf ein mangelndes Bewusstsein und Erinnern an Orte der NS-Verbrechen in der Stadt aufmerksam.

Es gibt zahlreiche erwähnenswerte Beispiele für künstlerische Interventionen in der Stadt Salzburg. So sorgte der Salzburger Künstler Bernhard Gwiggner erst kürzlich für eine erneute Anregung der Diskussion über einen der wichtigsten Bildhauer des Nationalsozialismus und Lieblingskünstler von Hitler, Josef Thorak, dessen Skulpturen von Paracelsus und Kopernikus bis heute unkommentiert im Kurpark zu sehen sind. Die temporäre Intervention wurde in Form der Skulptur WoThora realisiert, die dem Werk von Thorak im Mai 2016 unter dem Titel GegenSetzung entgegengestellt wurde und an den während der NS-Diktatur im Schweizer Exil lebenden Künstler Fritz Wotruba erinnern soll, der dort einen kubischen Stil der Bildhauerei entwickelte und somit in starkem Kontrast zum NS-Künstler stand. Gwiggner setzte der massiven Steinskulptur Thoraks eine in ihrem Ausmaß gleich große, aber vergänglichere Version aus Lack, Spachtelmasse und Styropor im Stile Wotrubas gegenüber. Allein schon ihre Form ist ein stiller Protest, galt diese doch während des NS-Regimes als „entartet“. Zudem wird auf die Kontinuität in Thoraks Karriere angespielt, die sich eben in Salzburg nach dem Krieg – wie so oft – fast nahtlos fortsetzte. Von großer Brisanz war hier die Gleichzeitigkeit, denn während im Jahr 1950 in der Galerie Welz eine Wotruba-Ausstellung gezeigt wurde, fand ebenso eine große Ausstellung Thoraks statt; ausgerichtet von der Stadt Salzburg.*4 *(4) Gwiggner verweist durch seine Intervention auf verschiedenen Ebenen auf den äußerst problematischen Umgang mit Profiteuren und Befürwortern der NS-Diktatur, mit „braunen Künstlern“, in der Nachkriegszeit. Im Fokus der künstlerischen Intervention steht ebenso sehr die Frage: Was tun mit Relikten und Artefakten aus dem Nationalsozialismus im Stadtraum von Salzburg? Ausgangspunkt für die jahrelange Beschäftigung des Künstlers mit dieser Thematik waren die zwei sehr dominanten Skulpturen von Kopernikus und Paracelsus im Kurpark. Diese bestimmen wesentlich das Bild des Parks und stehen somit symbolisch für weitere Artefakte dieser Zeit, die unkommentiert das Alltagsbild der Stadt gestalten, Teil des öffentlichen Bildes sind. Gleichzeitig jedoch fehlt der Kontext, die negative Beladung dieser Werke in der öffentlichen Wahrnehmung völlig. Gwiggner versucht die Öffentlichkeit durch seine mobilen und temporären Interventionen für diese Relikte der NS-Zeit zu sensibilisieren, einen Diskurs anzuregen.*5 *(5) So war der Künstler selbst über den Zeitraum der Intervention mehrmals bei den Skulpturen anzutreffen, um mit den Menschen in einen direkten Dialog zu treten, aufzuklären und zu vermitteln. Von Seiten der Stadt wurde die Intervention geduldet, wohl vor allem aufgrund ihres temporären Charakters und aufgrund des Umstandes, dass die Paracelsus-Statue selbst nicht direkt Teil der Intervention war; also nicht „beschädigt“ wurde. Zwar löste Gwiggners Intervention im Kurpark tatsächlich Debatten über eine Entfernung der Statue selbst bzw. deren Kontextualisierung in Form einer entsprechenden Tafel aus, langfristig verlagerte sich der Diskurs jedoch in eine andere Richtung. So blieben bislang nicht nur Thoraks Werke unkommentiert, der Bildhauer selbst wurde vielmehr mit einem von ihm noch zu Lebzeiten gestalteten Ehrengrab im Friedhof von St. Peter gewürdigt, zudem trägt seit 1963 eine Straße im Salzburger Stadtteil Aigen den Namen des Künstlers. Neben dem Lieblingsbildhauer Hitlers fungieren zahlreiche weitere Personen mit nachweislicher NS-Vergangenheit als Namensgeber von Salzburger Straßen und werden in dieser Form geehrt, sind also in der öffentlichen Wahrnehmung präsent. So regte Gwiggner mit seiner künstlerischen Intervention erneut eine weitaus umfassendere Debatte an, die eng mit diesem unhinterfragten Umgang mit NS-Relikten verknüpft ist. Unter den kritischen Stimmen fand sich auch der deutsche Künstler Wolfram P. Kastner, der sich in seinen künstlerischen Interventionen bereits mehrmals mit der Salzburger Erinnerungskultur auseinandergesetzt und auf zahlreiche Versäumnisse der offiziellen Gedächtnispolitik hingewiesen hat.

Wolfram Kastner war es auch, der gemeinsam mit dem österreichischen Künstler Martin Krenn im Jahr 2001 im Rahmen der Internationalen Sommerakademie für bildende Kunst Salzburg in Kooperation mit der Galerie 5020 ein besonders eindrückliches Projekt künstlerischer Intervention(en) in der Stadt verwirklicht hat. Unter dem Titel Restitution/Rückgabe wurde gemeinsam mit Studierenden eine „Intervention zur Wahrnehmung von Raub und Verschleierung in der Festspielstadt Salzburg“ realisiert.*6 *(6) Zwar liegt dieses Projekt schon einige Zeit zurück, seit 2001 hat sich an der Brisanz dieses Themas jedoch nichts verändert. So ist wohl einem breiten Publikum bekannt, dass während der NS-Diktatur die Enteignung politisch Verfolgter unter dem Schlagwort der „Arisierung“ durchgeführt wurde. Staatlich sanktionierter Raub meist jüdischen Eigentums wurde in großem Umfang betrieben, von Kunstgegenständen bis hin zu ganzen Liegenschaften. Trotz vorhandener Akten kam es nach 1945 nur in wenigen Fällen zur tatsächlichen Restitution dieser enteigneten Güter. Stattdessen hüllte man sich in Schweigen, die Profiteure wurden vielfach geschützt. Bis heute hat sich daran kaum etwas verändert.

Zu dieser Thematik wurde in der Galerie 5020 eine Ausstellung konzipiert, in der nicht nur Dokumente gezeigt wurden, die die Enteignung belegen, sondern auch solche, aus denen eine verweigerte Rückgabe hervorgeht. Diese Ausstellung wurde bezeichnenderweise als Rückgabestelle deklariert und fungierte somit als eine Art offizielle Anlaufstelle. In Form einer künstlerischen Intervention im öffentlichen Raum machten die TeilnehmerInnen unter der Leitung von Kastner und Krenn auch außerhalb der Ausstellung auf das Ausmaß dieses bislang noch nicht aufgearbeiteten Skandals aufmerksam. So wurden enteignete Liegenschaften im Stadtzentrum durch die „Rückgabestelle Salzburg“ in Form von Schildern gekennzeichnet. Diese erweckten den Eindruck einer tatsächlich offiziellen, behördlichen Sicherstellung und waren zugleich unübersehbar. Enteigneter Besitz wurde durch diese Form der Intervention für alle PassantInnen gekennzeichnet und stach aus dem gewohnten Stadtbild hervor, irritierend und nicht ignorierbar. Auch Faltblätter wurden verteilt, um über diese künstlerische Intervention hinaus zu informieren. Die Rückgabestelle übergab außerdem demonstrativ ein „Sichergestellt“-Schild an die Behörden. Diese Aktion ist als eine symbolische Überreichung der Aufgabe der Aufarbeitung an die Politik bzw. Öffentlichkeit zu verstehen und somit zugleich als Aufforderung zu einem Diskurs, der über den begrenzten Rahmen des Projekts hinausgeht. Vor allem diese Intention einer langfristig veränderten Wahrnehmung, der Verbesserung und Anregung eines bestimmten Diskurses ist künstlerischen Interventionen inhärent, jedoch vielfach schwer zu erreichen.

Anhand des Projekts Rückgabe/Restitution zeigt sich zudem eindrücklich, wie völlig anders sich der Umgang mit künstlerischen Interventionen gestaltet, wenn diese tatsächlich dauerhaft ins Stadtbild eingreifen, eben um problematische Inhalte sichtbar zu machen. So wurden die „Sichergestellt“-Schilder abmontiert und zudem ein Strafverfahren mit dem Vorwurf der schweren Sachbeschädigung gegen den Künstler Wolfram Kastner eingeleitet. Dieses Strafverfahren bezog sich auf eine weitere künstlerische Intervention, die im Rahmen des breit angelegten Projektes 2001 umgesetzt wurde. Hintergrund der Intervention bildete die Gedenktafel von Theodor Herzl, die an dessen kurzen Aufenthalt in Salzburg erinnern soll. Dazu las man auf der Tafel folgendes Zitat: „In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu.“ Es fehlte jedoch der entscheidende Nachsatz: „Ich wäre auch gerne in dieser schönen Stadt geblieben, aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden.“*7 *(7) Diese wesentliche Ergänzung und notwendige Kontextualisierung wurde im Zuge des Projekts von Kastner und einigen Studierenden handschriftlich vorgenommen. So handelte es sich in juristischer Hinsicht zweifellos um Sachbeschädigung, jedoch um eine absolut notwendige im Sinne der Korrektur eines aus seinem Kontext gerissenen und somit verfälschten Zitats. Die Folge war nicht nur das Strafverfahren, sondern tatsächlich letztendlich auch die offizielle Richtigstellung der Gedenktafel in Form einer weiteren, jedoch kleineren Plakette.

Künstlerische Interventionen bedingen in der Regel einen Eingriff in den öffentlichen Raum, mögen diese auch nicht immer von dauerhafter Natur sein. Augenfällig übernimmt hier Kunst eine wichtige Funktion, weist auf Missstände hin, die nur zu gern von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden (wollen). Diese Interventionen sind meist unangenehm und sollen in ihrem Wesen auch irritieren, denn sie bergen die einzigartige Möglichkeit des Dialogs und der (positiven) Veränderung in sich. Eben dieser Anstoß eines längst überfälligen Diskurses durch künstlerische Interventionen, durch Kunst, wird in den überwiegenden Fällen von Seiten der öffentlichen Hand unterbunden. Im Falle der Gedenktafel von Herzl wurde zwar letztlich eine Korrektur vorgenommen, aber auch hier wurde der Künstler zuvor strafrechtlich belangt. Künstlerische Interventionen stellen also in Bezug auf die Erinnerungskultur ein wichtiges Korrektiv dar, können durchaus Veränderungen bewirken und langfristig zu einem Umdenken führen. ‑ Vorausgesetzt man hat einen langen Atem. Die Frage der generellen Sinnhaftigkeit oder Wirkungskraft von Tafeln und Plaketten als Form der Gedächtnispolitik muss hier außen vor gelassen werden. Wichtig wäre hier vor allem ein partizipativer Ansatz, der etwa in vielen weiteren Projekten von Martin Krenn aufgegriffen wird, um eben solche Erinnerungsorte abseits von Gedenktafeln mit kritischer Wahrnehmung zu füllen.

Fallstudie 2: München
MAPPING.POSTKOLONIAL.NET – Eine diskursive Intervention in den post/kolonialen öffentlichen Raum

von Veronika Aqra

Das Kartierungsprojekt mapping.postkolonial.net ist ein Teilprojekt der Münchner Initiative [muc] münchen postkolonial. Die Initiative betreibt zum einen eine Homepage, die der historischen und gegenwärtigen Präsenz post/kolonialer Realitäten Sichtbarkeit verleiht, indem dort Publikationen, Veranstaltungsankündigungen und weitere Informationen veröffentlicht werden, die sich mit post/kolonialen Realitäten auseinandersetzen. Zum anderen initiiert und realisiert [muc] münchen postkolonial eigene Projekte, um die weiterhin vermeintlich banale Alltäglichkeit kolonialistischer Weltbilder und post/kolonialer Verhältnisse zu verdeutlichen und folglich reflektier- und verhandelbar zu machen. Neben dem Kartierungsprojekt mapping.postkolonial.net werden auf der Homepage das Ausstellungsprojekt Decolonize München im Münchner Stadtmuseum genannt, das sich mit post/kolonialer Erinnerungskultur in München und anderswo auseinandersetzte, sowie die Realisierung eines postkolonialen Stadtplans von München.

Das Projekt mapping.postkolonial.net ist eine Kooperation der Initiative [muc] münchen postkolonial, des Labor k3000 *8 *(8)  und des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerechtigkeit e.V. Entwickelt und umgesetzt wurde und wird das Projekt von einem interdisziplinären Team, das aus der Sozialanthropologin Eva Bahl, der Politikwissenschaftlerin und Autorin Zara Pfeiffer, dem Historiker Simon Goeke, dem Künstler, Kurator und Dozent Peter Spillmann, dem interactive media developer Michael Vögeli sowie dem Historiker Philip Zölls besteht. Gefördert wurde das Projekt von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft.

Im Projekt geht es darum, die Präsenz der kolonialen Vergangenheit im Stadtraum München zu verdeutlichen, indem die Spuren des Kolonialismus sicht- und verhandelbar gemacht werden, die sich nach wie vor durch den gesamten Stadtraum ziehen. Gerade weil München auf den ersten Blick keine herausragende Rolle zu Zeiten des Kolonialismus gespielt hat, im Vergleich beispielsweise zur Hafenstadt Hamburg, ist die post/koloniale Spurensuche, auf die man sich durch das Projekt mapping.postkolonial.net begeben kann, so prägnant. Es vermittelt, dass Kolonialismus kein abgeschlossenes Kapitel der europäischen ‑ und auch deutschen*10 *(10) ‑ Vergangenheit darstellt, sondern kolonialistische Weltbilder und post/koloniale Verhältnisse immer noch den öffentlichen Raum prägen. Post/koloniale Ablagerungen und Spuren*9 *(9) lassen sich auch heute z.B. in Form von Straßennamen, historischen Orten oder aktuellen Migrationspolitiken, im öffentlichen Raum finden ‑ und das an vielen Orten Deutschlands. Das Projekt mapping.postkolonial.net visualisiert und diskursiviert die post/kolonialen Verschränkungen von Geschichte und Gegenwart durch eine konkrete Verortung und Sichtbarmachung am Beispiel Münchens.

Konkret bietet das Kartierungsprojekt drei verschiedene Zugänge, um sich mit dem post/kolonial geprägten Stadtraum Münchens auseinanderzusetzen:

Zum Ersten findet man auf der Homepage von mapping.postkolonial.net eine interaktive Karte von München, mittels derer man die Spuren der kolonialen Vergangenheit und post/kolonialen Gegenwart Münchens erkunden sowie verborgene Geschichten und theoretische Zusammenhänge aufdecken kann. Es handelt sich hierbei nicht um eine Stadtkarte Münchens im herkömmlichen Sinne, sondern um eine kritische künstlerische Kartierung des Münchner Stadtraums. Durch diese Herangehensweise wird dekonstruiert, was in gängigen Stadtplänen und Reiseführern abgebildet und geschildert wird und welche Ausschlüsse durch diese (re-)produziert werden. Denn für eine Auseinandersetzung mit post/kolonialen Einschreibungen in den Stadtraum ist der Begriff „Bildpolitik“ von zentraler Bedeutung. Mit diesem wird auf die enge Verbindung von Bildlichkeit und Politik hingewiesen, da gesellschaftliche Machtverhältnisse stets durch visuelle Medien reproduziert werden. Zugleich wird durch diese Verknüpfung von Bildlichkeit und Politik bzw. Macht das Spannungsfeld zwischen öffentlicher Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit deutlich. Wer die Macht hat, ist öffentlich sichtbar bzw. bestimmt, was sichtbar gemacht wird. Wer keine Macht hat, ist zur Unsichtbarkeit verdammt (Vgl. „Bildlichkeit und Politik“).star (*7) Bahl und Pfeiffer fassen diesen Umstand und die von „mapping.postkolonial.net“ verfolgte Intention, diesen aufzubrechen, mit den folgenden Worten zusammen:

„Diese Unsichtbarkeiten erzählen oft mehr über den gegenwärtigen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit als das vermeintlich Offensichtliche. […] Vielmehr geht es uns darum, ein hegemoniales Denken und eine Geschichtsschreibung zu dezentrieren, die zum einen zahlreiche Leerstellen und blinde Flecken aufweist, was deutsche Kolonialgeschichte angeht, und die zum anderen allzu oft weiße Männer und ihre ‚Heldentaten‘ in den Mittelpunkt stellt.“ (Bahl/Pfeiffer 2015: o.S.)star (*2)

Zum Zweiten werden auf der Homepage mapping.postkolonial.net thematische Stadtrundgänge vorgeschlagen, mithilfe derer man sich selbst mit einem Smartphone oder Tablet auf Spurensuche begeben kann. Man kann aber ebenso gut ohne vorgegebene Route seine Umgebung entdecken, indem man einzelnen Spuren folgt, die man selbst auswählt. Diese Stadtrundgänge können auf Anfrage von Gruppen und Schulklassen gebucht werden.

Zum Dritten ist die Homepage mapping.postkolonial.net als eine Art post/koloniales Archiv der Stadt München zu betrachten, in dem die verborgenen und verdrängten post/kolonialen Spuren, Ablagerungen, Erinnerungen und Geschichten lesbar und sichtbar gemacht werden, um somit die weiter bestehende Reproduktion von kolonialem Wissen zu unterlaufen. Nach Zara S. Pfeiffer ist mapping.postkolonial.net eine alternative Karte und ein alternatives Archiv der Wissensproduktion, das sich der kolonialen Wissensproduktion entgegenstellt:

„[…] Aus diesem Zusammenspiel entsteht eine post/koloniale Karte von München, die als Archiv die historischen Spuren und Erzählungen mit gegenwärtigen Fragen und Perspektiven verbindet. mapping.postkolonial.net ist damit eine Karte, die gleichermaßen versucht, das Archiv als Ort der Wissensproduktion sichtbar zu machen und dabei die Kontingenz des Vergangenen im Gegenwärtigen zu thematisieren. […] Ein solches Vorgehen bedeutet, die Eindimensionalität, Zufälligkeit und Brutalität der kolonialen Wissensproduktion in den Blick zu nehmen, die noch heute die Art und Weise, wie Wissen erzeugt, verwaltet und verbreitet wird, prägt, und sie mit widerständigen und dekolonisierenden Wissensprozessen zu provinzialisieren.“ (Pfeiffer 2013: o.S.)star (*4)

Das Gesamtprojekt kann meiner Meinung nach als künstlerische Intervention betrachtet werden, auch wenn es keinen direkten architektonischen oder auf andere Weise sichtbaren Eingriff im öffentlichen Raum darstellt. Es wird vielmehr versucht, eine Gegen-Öffentlichkeit herzustellen, indem die vorherrschende Wissensproduktion mit widerständigen und dekolonisierenden Wissensprozessen unterlaufen wird. Die bestehenden post/kolonialen Machtverhältnisse werden thematisiert und durch die Spurensuche nach post/kolonialen Ablagerungen im Stadtraum Münchens sicht- und verhandelbar gemacht.

Die Kulturwissenschaftlerin Elke Zobl und die Soziologin Rosa Reitsamer verweisen auf die Heterogenität künstlerischer Interventionen, betonen aber zudem die Intention künstlerischer Interventionen, in den gesellschaftlichen Status Quo einzugreifen bzw. historische gewachsene Machtverhältnisse als Ursachen sozialer Ungleichheiten zu thematisieren:

„Künstlerische Interventionen sind vielfältig, weil KünstlerInnen, KulturproduzentInnen und KunstvermittlerInnen – gemeinsam mit ihren KollaborateurInnen – unterschiedliche Strategien und Methoden der Umsetzung wählen. Trotz dieser Heterogenität teilen sie jedoch wesentliche Gemeinsamkeiten: Sie thematisieren historisch gewachsene Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten, wofür eine kritische Reflexion des gesellschaftlichen Status Quo Voraussetzung ist und greifen dabei Narrative und Bilder der individuellen und gesellschaftlich geteilten Erinnerung auf, um sie neu zusammenzusetzen. Feministische, queere und antirassistische künstlerische Interventionen arbeiten folglich an einer Imagination für eine andere, weniger stereotype und unterdrückende Zukunft, indem sie einen Raum für alternative Identitäten und gesellschaftliche Gegenentwürfe entwickeln“. (Zobl/Reitsamer 2014: o.S.)star (*6)

In diesem Sinne stellt das Projekt mapping.postkolonial.net eine künstlerische Intervention in die Symbolpolitiken der Stadt dar, da es sich um ein interdisziplinär ausgerichtetes Projekt handelt, im Rahmen dessen gesellschaftlich gewachsene Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten thematisiert und dekonstruiert werden. Narrative und Bilder der individuellen und gesellschaftlich geteilten Erinnerung werden neu zusammengesetzt, indem bisher verdrängte und/oder verborgene post/koloniale Spuren und Ablagerungen im öffentlichen Raum sicht- und verhandelbar gemacht werden. Vielleicht ist es sogar treffender nach Chantal Mouffe (2014)star (*3) von einer gegenhegemonialen Intervention zu sprechen. Denn künstlerische Interventionen sind nach Mouffe als gegenhegemoniale Interventionen aufzufassen, wenn sie zur Disartikulation des vorherrschenden „Common Sense“, zur Schaffung von agonistischen öffentlichen Räumen und zum Aufbau einer „Gegenhegemonie“ beitragen (Mouffe 2014: 145).star (*3) Sie subvertieren folglich die vorherrschende Hegemonie und leisten einen Beitrag zur öffentlichen Sichtbarmachung unterrepräsentierter Diskurse, wobei es nicht um die Herstellung eines Konsens, sondern vielmehr um die Schaffung agonistischer öffentlicher Räume geht.

Die Strahlkraft des Projektes zeigt sich meiner Meinung nach u.a. dadurch, dass man auch in anderen Städten Bayerns beginnt, sich mit den post/kolonialen Ablagerungen und Spuren im öffentlichen Raum zu beschäftigen, wie das Beispiel einer aktuell stattfindenden Lehrveranstaltung mit dem Titel ‘Kein Platz an der Sonne‘ – Deutscher (Post)Kolonialismus in Afrika. Grundzüge, Debatten und Methoden bei Michael Rösser an der Universität Regensburg verdeutlicht, in der man sich bezugnehmend auf das Projekt mapping.postkolonial.net mit Kolonialismus und Dekolonisierung in der bayrischen Provinz auseinandersetzt und auf Spurensuche im Stadtraum Regensburgs begibt.*11 *(11) In diesem Sinne stellt für mich das Projekt mapping.postkolonial.net ein Best Practice-Beispiel dar, welches Anstoß geben kann für eine tiefergehende Beschäftigung mit post/kolonialen (Raum-)Verhältnissen an vielen anderen Orten Deutschlands ‑ und auch Österreichs.

Fallstudie 3: Zürich
Die ganze Welt in Zürich: Ist eine Stadtbürger*innenschaft für Zürich denkbar?

von Stefanie Niesner

Die Schweiz gilt heute als eines der beliebtesten Einwanderungsländer in Europa. Hochqualifizierte Fachkräfte aus den umliegenden Staaten emigrieren und stärken die lokale Wirtschaft, Geflüchtete bringt ihre Suche nach Sicherheit in das kleine Alpenland, und historisch gesehen blieben zahlreiche italienische und portugiesische Gastarbeiter*innen hier. Trotz der vielfältigen kulturellen und sprachlichen Unterschiede dieser Einwanderergruppen ist ihnen jedoch eines gemein – ohne Schweizer Pass fehlt es ihnen auf vielen Ebenen an Mitbestimmungsrechten und Partizipationsmöglichkeiten, und das, obwohl die Immigrant*innen beinahe ein Viertel der ansässigen Bevölkerung ausmachen, besonders im beliebten Einwanderungsziel Zürich. Besonders deutlich wird diese Situation, wenn in jenem, grundsätzlich basisdemokratischen Staat über Belange abgestimmt wird, welche explizit auf diese Bevölkerungsgruppe abzielen – wie etwa die Masseneinwanderungs*12 *(12)– oder Durchsetzungsinitiative*13 *(13) – wobei dies die Frage aufwirft, wie demokratisch eine Demokratie ist, wenn ein Viertel der Bevölkerung von der Mitbestimmung ausgeschlossen wird.

Das Projekt Die ganze Welt in Zürich versteht sich als künstlerische Intervention in eben diese Thematik. Im Oktober 2015 startete die Shedhalle in Zürich, lokales Zentrum und Plattform für zeitgenössische Kunst und Think-Tank, das Projekt, um konkrete Möglichkeiten zu finden, direkt in die etablierte Schweizer Migrationspolitik zu intervenieren.*19 *(19) Dabei rückte ein Konzept in den Mittelpunkt, welches ausgehend von Thomas H. Marshalls Konzepten und Abhandlungen zum Begriff „Citizenship“ Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt und definiert wurde – die sogenannte Urban Citizenship (vgl. Marshall 1950 (2012)),star (*10) eine Stadtbürger*innenschaft, die parallel zur Staatsbürgerschaft verlaufen soll. Während mit der Staatsbürgerschaft fundamentale Rechte, wie etwa Freizügigkeit innerhalb der nationalstaatlichen Territorialgrenzen oder, im Falle der Schweiz, politische Eingriffsmöglichkeiten in die Verfassung gewährleistet werden, beschreibt die Urban Citizenship eine städtische beziehungsweise regionale Abgrenzung, welche eine Ausweitung der Mitspracherechte und Partizipationsmöglichkeiten auf urbaner Ebene, also in diesem Fall ausschließlich in Zürich, zur Folge hätte. Dieses Recht bezieht sich weder auf die Abstammung noch die Herkunft der einzelnen Person, sondern auf den Ort des Lebensmittelpunkts, den er*sie gewählt hat.

Katharina Morawek, kuratorische Leiterin und Geschäftsführerin der Shedhalle, entwickelte das Projektkonzept zusammen mit dem österreichischen Künstler Martin Krenn, welcher bereits zahlreiche Projekte im Zusammenhang mit Sozialer Kunst verwirklicht hat.*17 *(17) In Folge wurde ein interdisziplinäres Team mit Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammengestellt, das das Projekt im Detail entwickelte – zum Kernteam zählten, unter anderem Bah Sadou (Aktivist, Autonome Schule Zürich), Bea Schwager (Leiterin SPAZ), Dr. Kijan Malte Espahangizi (Zentrum „Geschichte des Wissens“, ETH/Universität Zürich UZH), Osman Osmani (Gewerkschaftssekretär für Migration, UNIA), Dr. Rohit Jain (Sozialanthropologe, UZH/Zürcher Hochschule der Künste ZHdK) und Tarek Naguib (Jurist, Zentrum für Sozialrecht/Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW). Gemeinsam mit diversen Entscheidungsträger*innen der Stadt Zürich, Politiker*innen, Aktivist*innen, Jurist*innen und Personen aus dem kulturellen Umfeld sollte ein Modell entwickelt werden, wie das Konzept der Urban Citizenship in Zürich umsetzbar wäre.

In zwei Formaten, den Hafengesprächen und den Hafenforen, wurde die Thematik bearbeitet. Das Bild des Hafens wurde bewusst gewählt, um damit einerseits eine sichere, neutrale Zone zu beschreiben, andererseits auch die Spielregeln der Treffen zu definieren. Es ging um Weltoffenheit, Mobilität und Sicherheit, darum, Zürich als sicheren Hafen für alle zu gestalten. Gestartet wurde das Projekt am 22. Oktober 2015 mit einer Schiffsfahrt, zu welcher politische Akteur*innen und Entscheidungsträger*innen eingeladen wurden. Dieses Ereignis paraphrasiert die bekannte Intervention des österreichischen Künstler*innenkollektivs Wochenklausur, die 1994 erfolgreich neue Perspektiven innerhalb der Zürcher Drogenpolitik schufen, in dem sie über eine Zeitspanne von acht Wochen hinweg solche Bootsfahrten und Gesprächsrunden mit Entscheidungsträger*innen organisierten.*14 *(14) Es folgten sieben Hafengespräche, welche bewusst unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten wurden, um für die Teilnehmenden einen geschützten Rahmen für eine umfassende Diskussion bieten zu können. sowie drei frei zugängliche Hafenforen in der Shedhalle in Zürich, in welchen die Ergebnisse der zuvor im geschützten Rahmen ausgehandelten Thematiken vorgestellt wurden. Das letzte Forum Wir alle sind Zürich wurde zum besonderen Erfolg – über 550 Interessierte erschienen, um über die Durchführbarkeit und Gestaltung der Urban Citizenship zu diskutieren.

Begleitet und abgeschlossen wurde das Projekt jeweils mit einer kleinen Ausstellung. Während der Hafengespräche und -foren wurden in der Shedhalle, dem räumlichen Abhaltungsort, Fotografien und Impressionen vergangener und aktueller Interventionen im Bereich der sozial engagierten Kunst gezeigt, und unter anderem an Litfaßsäulen angebracht. Besonders die gewählte Ausstellungsarchitektur trug dazu bei, einen offenen Raum für die Hafenforen zu schaffen, auf dem sich die Akteur*innen und das interessierte Publikum auf einer Ebene begegnen konnten ‑ und auch, um den Gedanken des Miteinanders, der Vernetzung und der Metapher einen sicheren Hafen zu schaffen, weiter zu transportieren.

Abschluss des Projektes bildet die finale Ausstellung Die ganze Welt in Zürich Vol. 2 beziehungsweise #Urbancitizenship – Stadt und Demokratie (der Name wurde zwischenzeitlich adaptiert) zwischen 2. Juni und 25. September 2016.*15 *(15) In diesem Rahmen werden die Ergebnisse des Projektes dem interessierten Publikum in künstlerisch aufgearbeiteter Form präsentiert. Das offizielle Ende soll schließlich ein im Herbst 2016 stattfindendes, viertes Hafenforum sein, in welchem die Ergebnisse des Projektes offiziell an die Stadt Zürich übergeben werden sollen.

Das Eingreifen in kontroverse Ausgangssituationen, wie die Schweizer Migrationspolitik eine darstellt, ist der Kern vieler Social Engaged Art-Projekte. Dabei können die Grenzen zwischen Kunst und Sozialarbeit oder Kunst und Politik schnell verschwimmen, wie es Martin Krenn auch in seinem Artikel beschreibt. Die Intervention sehe ich persönlich ganz basal in der Öffnung von neuen Diskussionsräumen für die Entscheidungsträger*innen der Stadt.

Noch ist offen, ob es tatsächlich zu einer Umsetzung dieses zukunftsweisenden Konzepts einer Stadtbürger*innenschaft in Zürich kommt, und wenn ja, wie diese aussehen wird. Doch eines wird deutlich ‑ obgleich in der Schweiz die Ambivalenz zwischen progressiven und auch quergedachten Projekten*16 *(16) gegenüber der reaktionären Bewahrung nationaler Identität und Traditionen immer sichtbarer wird, gibt es in diesem Land Platz für neue Ideen. Warum nicht auch für ein Urban Citizenship? In diesem Sinne: Ein demokratisches „Ja!“ für ein pluralistisches, neues Demokratieverständnis!

Zusammenfassende Schlussfolgerungen zu den drei Fallstudien – Gemeinsamkeiten und Differenzen

Die hier vorgestellten Fallstudien haben intervenierenden Charakter auf verschiedenen Ebenen und weisen teils Gemeinsamkeiten und teils Differenzen auf, die wir abschließend zusammenfassen möchten.

Die Fallstudien zu „Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik zur NS-Vergangenheit“ von Verena Höller und zu „mapping.postkolonial.net“ von Veronika Aqra beschäftigen sich mit künstlerischen Interventionen, die als Korrektive der Erinnerungskultur verstanden werden können, durch die unterrepräsentierte Diskurse sichtbar gemacht werden. In den beiden Fallstudien von Verena Höller und Veronika Aqra wird das Spannungsfeld zwischen öffentlicher Sichtbarkeit und Macht erkennbar, in welches die künstlerischen Interventionen durch die Initiierung längst überfälliger öffentlicher Diskurse eingreifen möchten. Zugleich lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Un/Sichtbarkeit im öffentlichen Raum und den Möglichkeiten politischer Teilhabe erkennen, was am Beispiel der Idee einer “Urban Citizenship”/Stadtbürger*innenschaft verhandelt wird. Die Fallstudie von Stefanie Niesner zu „Die ganze Welt in Zürich“ setzt sich mit einer Intervention in die Realpolitik auseinander, mit dem Ziel Staatsbürgerschaft zu hinterfragen und StadtbürgerInnenschaft zu imaginieren und umzusetzen. Auch hier geht es um den Anstoß eines als notwendig erachteten Diskurses. Jedoch unterscheidet sich dieses Projekt von den anderen im partizipativen Ansatz, den es verfolgt. Hier ist der Grad der Partizipation zentral, wohingegen der partizipative Ansatz bei den anderen vorgestellten Projekten ausbaufähig erscheint. Ein Unterscheidungsmerkmal stellt zudem die Bedeutung des öffentlichen Raumes für die vorgestellten Projekte dar. Während die von Stefanie Niesner und Verena Höller vorgestellten Projekte direkt im öffentlichen Raum umgesetzt wurden und als konkrete Eingriffe im öffentlichen Raum sichtbar waren ‑ sei es in Form der Hafengespräche oder durch die Anbringung von Plaketten, ist das von Veronika Aqra vorgestellte Projekt vielmehr als eine Intervention in die Symbolpolitik der Stadt sowie als eine mediale Intervention in virtuelle Öffentlichkeiten zu verstehen. Der öffentliche Raum ist keiner konkret sichtbaren Veränderung in Form eines architektonischen oder sonstigen Eingriffes unterworfen, die diskursive Auseinandersetzung steht im Zentrum der Intervention.

An diesen drei Fallstudien lässt sich exemplarisch die Heterogenität künstlerischer Interventionen veranschaulichen. Trotz ihrer Vielfältigkeit lassen sich zugleich aber Gemeinsamkeiten künstlerischer Interventionen herausarbeiten, die auch an den hier vorgestellten Beispielen zu erkennen sind. So werden zur Umsetzung künstlerischer Interventionen zwar unterschiedliche Strategien und Methoden gewählt, es ist ihnen jedoch gemein, dass sie historisch gewachsene Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten thematisieren und eine kritische Reflexion des gesellschaftlichen Status Quo anstreben.

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von Borries, Friedrich/Wegner, Friederike/Wenzel, Anna-Lena (2012): Ästhetische und politische Interventionen im urbanen Raum. In: Doreen Hartmann, Inga Lemke u. Jessica Nitsche, Hg., Interventionen. Grenzüberschreitungen in Ästhetik, Politik und Ökonomie, München.

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Bahl, Eva/Pfeiffer, Zara S. (2015): mapping.postkolonial.net. Eine Spurensuche an den Rändern der Stadt und ihrer Geschichte. In: In: ZAG. Antirassistische Zeitschrift. 70/2015. S.20-22.

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Mouffe, Chantal (2014): Agonistische Politik und künstlerische Praktiken (Kap. 5). In: Dies.: Agonistik. Die Welt politisch denken. 1. Auf. Berlin: Suhrkamp, S. 145.

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Pfeiffer, Zara S. (2013): GESPENSTER/GE/SCHICHTEN. In: kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik. 04/2013. Online unter: http://kulturrisse.at/ausgaben/Archiv%20der%20Migration%2C%20jetzt/oppositionen/gespenster-ge-schichten (Stand: 05.07.2016).

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Zimmerer, Jürgen: „Wer A sagt, muss auch N sagen“. In: taz.de. Online unter: http://www.taz.de/!5306461/ (Stand:05.07.2016).

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Zobl, Elke / Reitsamer, Rosa (2014): Intervene! Künstlerische Interventionen. Kollaborative und selbstorganisierte Praxen // Fokus: Antirassistische, feministische und queere Perspektiven. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 04. Online unter: https://www.p-art-icipate.net/intervene-kunstlerische-interventionen/ (Stand: 05.07.2016)

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„Bildlichkeit und Politik“. In: Glossar der Bild-Philosophie. Online unter: http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Bildpolitik (Stand: 05.07.2016).

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„Der Genozid an den Herero und Nama“. In. „mapping.postkolonial.net”. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/der-genozid-an-den-herero-und-nama (Stand: 05.07.2016).

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“Swakopmunder Straße”. In: „mapping.postkolonial.net“. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/swakopmunder-strasse (Stand: 05.07.2016).

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Marshall, Thomas H. (1950): Citizenship and Social Class. And Other Essays, Cambridge 1950. In: Smith, Michael Peter/MacQuarie, Michael (Hg.) (2012): Remaking Urban Citizenship. Organizations, Institutions, and the Right to the City, New Brunswick(USA)/London(UK).

Seit 2004 werden von der Stadt Salzburg Stadtspaziergänge angeboten, bei denen man den Spuren bedeutender Salzburgerinnen folgen kann. Nähere Infos unter: https://www.stadt-salzburg.at/internet/leben_in_salzburg/frauen/frauen_stadtspaziergaenge.htm

Vgl. „Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik“, http://www.uni-klu.ac.at/frieden/inhalt/442.htm (20.06.2016).

Vgl. Michael Braun, „Erinnerungskultur“, http://www.kas.de/wf/de/71.7680/ (20.06.2016).

Vgl. http://www.ikufo.de/rueckgabe/intro.html (29.6.2016).

Das Labor k3000 ist eine Plattform für transnationale Netzwerk- und Rechercheprojekte, Ausstellungen, Video und Web-Produktionen.

Die Begriffe Ablagerungen und Spuren kommen in der Selbstbeschreibung des Projektes des Öfteren vor, eben um auf die bis heute andauernde Einschreibung des Kolonialismus in den öffentlichen Raum zu verweisen. Die kolonialen Ablagerungen und Spuren sind auch gegenwärtig noch präsent und keineswegs verschwunden, wie beispielsweise an Streitgesprächen über kolonialrassistische Bezeichnungen in Kinderbüchern, Kolonialstilmöbeln oder der Bezeichnung einer bekannten Supermarktkette, der Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler, deutlich wird. Allein an der öffentlichen Wahrnehmung und einem öffentlichen Diskurs über diese omnipräsenten Ablagerungen und Spuren mangelt es.

Die deutsche Kolonialvergangenheit wird an dieser Stelle gesondert hervorgehoben, da die eigene kolonialistische Verstrickung und Beteiligung in Deutschland nach wie vor gerne ignoriert bzw. minimiert wird. Ein aktuelles Beispiel hierfür stellt die Debatte um die Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika bzw. heutigen Namibia von 1904 bis 1908 dar. Insbesondere die offizielle Anerkennung des Armenien-Genozids durch den Deutschen Bundestag im Juni 2016 veranschaulicht die Doppelmoral der deutschen Politik. So wichtig die Anerkennung des Armenien-Genozids ist, wirkt sie vom Deutschen Bundestag doch scheinheilig, da eine Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama sowie eine öffentliche Entschuldigung für die damals begangenen Verbrechen nach wie vor ausstehen. Siehe: Jürgen Zimmerer: „Wer A sagt, muss auch N sagen“. In: taz.de. Online unter: http://www.taz.de/!5306461/ (Stand:05.07.2016).

Das Kartierungsprojekt „mapping.postkolonial.net“ beschäftigt sich auch mit den verborgenen Spuren, die an den Genozid an den Herero und Nama im Stadtraum München erinnern. Siehe: „Der Genozid an den Herero und Nama“. In. „mapping.postkolonial.net”. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/der-genozid-an-den-herero-und-nama (Stand: 05.07.2016). Ein Beispiel einer kolonialen Ablagerung ist die Swakopmunder Straße: Swakopmund ist eine Stadt im Westen von Namibia, in der sich zur Zeit der Kolonie Deutsch-Südwestafrika ein Konzentrationslager befand, in dem Herero und Nama unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Siehe: „Swakopmunder Straße”. In: „mapping.postkolonial.net“. Online unter: http://mapping.postkolonial.net/article/swakopmunder-strasse (Stand: 05.07.2016).

Rösser, Michael: „Übung 33221a ‚Kein Platz an der Sonne‘ – Deutscher (Post)Kolonialismus in Afrika. Grundzüge, Debatten, Methoden. Online unter: https://elearning.uni-regensburg.de/pluginfile.php/1009147/course/overviewfiles/Semesterplan%20-%20%C3%9Cbung%20Kein%20Platz%20an%20der%20Sonne%20SoSe%202016.pdf?forcedownload=1 (Stand:05.07.2016).

Dabei handelte es sich um eine Volksinitiative mit dem Titel “Gegen Masseneinwanderung”, welche im Jahr 2014 zur Abstimmung gebracht und angenommen wurde. Die Einwanderung soll durch Höchstgrenzen für Ausländer*innen und Asylwerber*innen künftig eingedämmt werden. Mehr Informationen: https://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis413.html (16.07.2016).

Die Durchsetzungsinitiative (Durchsetzung der „Ausschaffung“ krimineller Ausländer) hingegen sollte eine weitere Verschärfung gegenüber der Masseneinwanderungtinitiative darstellen. Sie wurde 2015 zur Abstimmung gebracht und abgelehnt. Hierbei wurde gefordert, Ausländer*innen, die sich bestimmter Straftaten schuldig gemacht hätten, ohne Ausnahme in das (vermeintliche) Herkunftsland abzuschieben, eine Härtefallregelung per richterlichem Ermessen wäre nicht mehr möglich gewesen. Mehr Informationen: https://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis433.html (16.07.2016).

Mehr Informationen: http://www.wochenklausur.at/projekte/02p_kurz_dt.htm (02.07.2016).

Beispielsweise die mutigen Statements bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität oder die (zwar gescheiterte) Kampagne für eine Volksabstimmung für das Bedingungslose Grundeinkommen 2016.

Veronika Aqra, Verena Höller, Stefanie Niesner ( 2016): Salzburg – München – Zürich. Drei Fallstudien zu drei Orten, die exemplarisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede künstlerischer Interventionen aufzeigen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/salzburg-munchen-zurich/