Von Wissenssystemen und Experimentierräumen

In einem seiner Essays zu Literatur zitiert Jorge Luis Borges aus einer ‚chinesischen Enzyklopädie‘ folgendes Ordnungssystem für Tiere: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“ (Borges 1966, zit. n. Foucault 1974: 17)star (*1)

Michel Foucault bezieht sich auf Borges‘ Text in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge (1966), seiner diskursanalytischen Arbeit zur Herausbildung moderner Wissenssysteme. Damit verweist der Philosoph nicht nur auf diskursive Konstruktionen von Nomenklaturen und Ordnungssystemen, sondern auch auf die Irritation, die das unmittelbare Nebeneinander dieser Tierklassen hervorruft (vgl. Foucault 1974: 18).star (*2) Er verdeutlicht, dass ‚Wissen‘ an spezifische Kontexte gebunden ist, in denen gesellschaftliche und kulturelle Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen; dabei sind aber immer auch andere Ordnungen möglich: Mit Fabeltieren, herrenlosen Hunden und Tieren, die von weitem wie Fliegen aussehen, stehen Kategorien nebeneinander, die unter den Bedingungen tradierter Klassifikationsschemata kaum miteinander in Beziehung gesetzt werden. In diesem Nebeneinander entsteht ein (diskursiver) Raum, der sie dennoch miteinander in Berührung bringt und so die Entwicklung neuer Perspektiven auf konventionalisierte Ordnungen sowie ein anderes, widerständiges ‚Wissen‘ zulässt.

Wissenschaftlichen Konventionen entsprechend sind verschiedene Ordnungs- und Wissenssysteme institutionell oftmals voneinander getrennt, und zwar sowohl räumlich als auch epistemisch. Das Doktoratskolleg Die Künste und ihre öffentliche Wirkung: Konzepte – Transfer – Resonanz, angesiedelt am interuniversitären Forschungsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst, einer Kooperation zwischen der Paris Lodron Universität und der Universität Mozarteum Salzburg, versucht – ebenso wie die vorliegende Ausgabe des eJournals p/art/icipate –, diesen Trennungen entgegenzutreten: Die sieben Doktorandinnen arbeiten nicht nur ausgehend von sehr verschiedenen Forschungsperspektiven nebeneinander, sondern auch mithilfe unterschiedlicher methodischer Zugriffe miteinander. In ihren Dissertationsprojekten, die an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst angesiedelt sind, befassen sie sich mit Phänomenen, Konzepten und Prozessen der Wechselwirkung zwischen den Künsten und ihren Öffentlichkeiten. Dabei bewegen sich die Zugänge zwischen Kultur-, Literatur-, und Musikwissenschaft, Stadtforschung, forschender Kunst und künstlerischer Forschung. Somit wird ein Raum geschaffen, in dem verschiedene Wissenssysteme, deren Genese und Historizität, aber auch deren Repräsentationen reflektiert werden. Die Arbeit im Doktoratskolleg knüpft an einen erweiterten Wissensbegriff an, der auch ‚ästhetisches Wissen‘ einbezieht: Dabei wird davon ausgegangen, dass künstlerische Mittel (der Darstellung, der Forschung usw.) neue Perspektiven auf (alte) Wissensbestände ermöglichen und vermeintlich starre (Macht-)Verhältnisse veränderbar sind. Dass diese Wissensbestände nicht nur ihre jeweiligen Nomenklaturen und Ordnungen ausbilden, sondern auch bestimmte Darstellungsweisen privilegieren, hat Joseph Vogl anhand seiner Poetologie des Wissens gezeigt (Vogl 2011: 54f).star (*3) In Nachbarschaft mit neuen Wissens- und Ordnungssystemen begegnen einander im Doktoratskolleg daher auch unterschiedliche Repräsentationsweisen.

Während Foucault an Borges‘ ‚chinesischer Enzyklopädie‘ sowohl die Unmöglichkeit der Nachbarschaft dieser Tiergruppen als auch die Unmöglichkeit eines Raumes beschreibt, in dem sie nebeneinanderstehen können (vgl. Foucault 1974: 19),star (*2) versucht das Doktoratskolleg einen offenen Experimentierraum für die Begegnung zwischen Wissens- und Ordnungssystemen – konkret zwischen Wissenschaft und Kunst und ihren Repräsentationsformen – zu schaffen. Dieser Raum wurde im Rahmen einer Ringvorlesung der Doktorandinnen im Sommersemester 2017 am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Dabei wurden Formate wie die Performance Lecture, künstlerisch-wissenschaftliche Dialogformate oder Raumerkundungen ausgetestet. Wenngleich schriftliche Formate in einem eJournal auf Grund technischer Einschränkungen weniger Spielraum lassen, soll auch dieses als Experimentierraum fungieren, in dem Heterogenes nebeneinandersteht und gegebenenfalls verschiedene Repräsentationsweisen abseits konventionalisierter wissenschaftlicher Formate ausprobiert werden können.

Erweiterte Reflexionsräume und Experiment!

Im Anschluss an die öffentliche Ringvorlesung, die auch die Basis mehrerer Beiträge der Doktorandinnen in diesem eJournal bildet, greifen wir die Idee eines offenen Raumes für die vorliegende Ausgabe von p/art/icipate auf: Ausgabe Nummer 8, herausgegeben vom Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion des Schwerpunkts Wissenschaft und Kunst in Kooperation mit dem Doktoratskolleg, bietet eine Plattform für Beiträge, die sich schwerpunktmäßig mit teils nicht konventionalisierten und (im Sinne des Doktoratskollegs) experimentellen Repräsentationsweisen und Erkenntnismethoden auseinandersetzen. Damit ist die Bezeichnung der Rubrik Open Space durchaus wörtlich als offener Raum zu verstehen: Sie steht unterschiedlichen Perspektiven, Zugängen und kunst- bzw. forschungspraktischen Herangehensweisen offen und soll nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Offenheit der Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst veranschaulichen, an denen Vermischungen, Verschiebungen und Überlappungen produktiv werden können.

Ein Wissensbegriff, der doxa (das Meinen und Glauben), phronesis (praktische Kenntnisse und private Einsichten) sowie aisthesis (reine Sinnenswahrnehmung) ausgrenzt (vgl. Vogl 2011: 51),star (*3) wird im Doktoratskolleg also einer kontinuierlichen Reflexion unterzogen. Aus dieser Perspektive ist auch der Titel der achten Ausgabe von p/art/icipate zu verstehen: Experiment! meint weniger die konventionalisierte Methode der Naturwissenschaften (‚Experiment‘ als Nomen), sondern verweist vielmehr auf die Tätigkeit des Experimentierens und enthält zugleich auch die Aufforderung dazu (‚experiment‘ als englisches Verb). Experiment! stellt damit die gedankliche Klammer für die verschiedenen Vorgangsweisen und die Prozesshaftigkeit von Erkenntnisgewinn und Wissensproduktion dar. In dieser Bedeutung möchte das vorliegende eJournal Experimentierräume als Open Space ermöglichen.

So be- und hinterfragt Wolfgang Gratzer in seinem Beitrag das Konzept der ‚experimentellen Kunst‘: Unter Rückgriff auf die Etymologie des Begriffs ‚Experiment‘ und seiner Bedeutung als wissenschaftlichen Praxis skizziert er dessen Diffusion in das Feld künstlerischer Praxis und diskutiert anschließend vier Thesen, die in die begriffliche Alternative der ‚uncertainty based arts‘ münden.

Dass experimentelle Kunst, genauer: experimentelle Musik auch vermittelt werden muss und dabei adäquate Formate verlangt, ist das Thema von Katharina Anzengrubers Beitrag. Sie resümiert erste Erkenntnisse aus ihrer Unterrichtspraxis, in der sie für den Musikunterricht eine Vielfalt an Methoden und teils unkonventionellen Zugängen entwickelt, die – weitab vom Format des Frontalunterrichts – ergebnisoffenes Arbeiten und eigenständiges Sammeln von musikalischen Erfahrungen durch die SchülerInnen erlauben.

Auch Magdalena Marschütz widmet sich musikalischen Aktivitäten und stellt diese in den Kontext aktueller Phänomene der Fluchtmigration, wobei sie Zugänge der Musik- und Migrationswissenschaft verknüpft. Sie entwickelt in ihrem Beitrag Lesarten eines Interviews mit einem syrischen Musiker zu gesellschaftlichen Zuschreibungen wie ‚refugee‘ oder dem transformatorischen Potenzial von Musik.

Zuschreibungen beschäftigen auch Bettina Egger und Johanna Öttl: Ihrem Beitrag liegt die Frage zugrunde, wie neue Kunst- und Kulturprodukte in bestehende Nomenklaturen eingeordnet werden. Für die Graphic Novel diskutieren sie, welche Klassifikationskriterien für diese neue Gattung herangezogen werden – beispielsweise Kriterien der Materialität oder Zuschreibungen wie ‚high‘ und ‚low‘.

Die folgenden Beiträge verknüpfen Begriffsdiskussionen mit räumlichen Erfahrungen und Strukturen sowie verschiedenen Prozessen der Herstellung von Öffentlichkeiten: Zunächst widmet sich Xenia Kopf dem Raum-Begriff und der Frage, wie er aus kulturwissenschaftlicher Sicht verstanden werden kann. Anhand der Kulturgeschichte und der gegenwärtigen künstlerischen Nutzungen des KunstQuartiers Salzburg erkundet sie die Rolle von Kunst und Kultur in der Produktion und Gestaltung städtischer Räume.

Romana Hagyo untersucht anschließend, wie die Trennung privater und öffentlicher Räume diskursiv und räumlich (re-)produziert wird. Sie schlägt vor, künstlerische Praxis als eine Möglichkeit der Intervention in diese Zuschreibungen zu verstehen und diskutiert anhand ihrer eigenen künstlerischen Projekte deren Chancen und Grenzen. Brigitte Kovacs lädt die LeserInnen schließlich zur Erkundung des noch kaum definierten und sich stetig in Bewegung befindlichen Feldes der Walking Art ein: Sie gibt Einblicke in ihre künstlerische Forschungspraxis, die sich dem Gehen als Gegenstand und Ausdrucksform von Kunst widmet, und reflektiert dabei auch ihre performative Annäherung an das Feld der Walking Art, das sie nicht nur beschreibt, sondern zugleich auch mitgestaltet.

Von der Theorie zur Praxis und zurück

Die Beschäftigung mit künstlerischer Forschung setzt sich in der Rubrik Practice fort. Für ihre Annäherung an künstlerische Ansätze, die sich als ,forschend‘ verstehen, erprobt Daniela Hahn die Form des Selbstinterviews. Sie befragt damit ihre eigene Position in Bezug auf die heterogenen Debatten um das Thema und eröffnet durch assoziativ angelegte und an Beispielen orientierte Zugänge eine anregende Diskussion zu Forschung in der Kunst.

Auch Elke Bippus und Brigitte Kovacs erörtern Fragen der künstlerischen Forschung, konkret im Kontext des von Bippus entwickelten Konzepts des ‚Feldes‘, das sie als Modell der performativen Wirklichkeitserfassung und Wissensbildung zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis versteht und Kovacs in der eigenen künstlerischen Forschung fruchtbar macht.

Mit (gegen-)kultureller Praxis hingegen beschäftigt sich Xenia Kopf in ihrem Beitrag über den autonomen Raum Rog in Ljubljana. Im Gespräch mit Rog-AktivistInnen zeichnet sie dessen bewegte Geschichte und schwierige Kämpfe im Spannungsfeld von emanzipatorischen Politiken, künstlerischer Produktion und stadtplanerischer Vereinnahmung nach.

Dilara Akarçeşme gibt persönliche Einblicke in die als experimenteller Raum des Lernens und Verlernens konzipierte Night School der Wiener Festwochen, die an den Schnittstellen von wissenschaftlichem Diskurs, Kunst und Alltagskultur und von marginalisierten und rebellischen Positionen aus in weiße Wissensregime intervenierte.

In den Notes berichtet Xenia Kopf von der 2016 an der Wiener Angewandten durchgeführten International Autumn School zur Materialität kultureller Praktiken in sozialräumlichen Kontexten. Michael Hieslmair und Michael Zinganel geben Einblick in ihr Forschungsprojekt über sozialräumliche Transformationen entlang der paneuropäischen Straßenverkehrs-Korridore nach dem Mauerfall und der zunehmenden Öffnung europäischer Binnengrenzen. Romana Hagyo schreibt über ihre Beteiligung am Kunstprojekt Walking through … Thessaloniki/Vienna, bei dem Praktiken des Gehens die Basis der Auseinandersetzung mit der Stadt Thessaloniki, der eigenen Position als Besucherin und jener der BewohnerInnen diente. Vom Chorprojekt One Peace berichten Magdalena Marschütz und Rosemarie Demelmair. Gegründet im Sommer 2015 an der Universität Mozarteum Salzburg, stellt es einen musikalisch-kulturellen Interaktionsraum von Geflüchteten und Studierenden dar.

Empfehlungen zu neuen Publikationen und PhD-Studien an den Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst sind in der Rubrik Recommended zu finden.

Außerdem blickt die vorliegende Ausgabe von p/art/icipate auch auf die W&K-Activities im vergangenen Studienjahr zurück. Berichtet wird von der Exkursion des Dokoratskollegs nach Ljubljana, wo sich die Kollegiatinnen abseits touristischer Pfade auf die Suche nach Experimentierräumen und (wissenschaftlicher) Erkenntnis begaben, von dem interdisziplinären Symposium über künstlerisch-kulturellen Befragungen von Grenzen und Grenzräumen, von der im Rahmen einer Lehrveranstaltung entwickelten und umgesetzten Ausstellung Salzburg pARTicipate!, von einer Lehrveranstaltung zu Kunstmanagement und Textgestaltung für KünstlerInnen im internationalen Kontext , von der Lehrveranstaltung Speaking and Writing about Art in English, in der Studierende ein eigenes Projekte entwickelt haben, und von den Veranstaltungen des W&K-Forums des Schwerpunkts Wissenschaft und Kunst, die dem kontroversiellen Diskurs rund um kultur- und gesellschaftspolitische Fragestellungen in der Stadt Salzburg eine Plattform zu bieten.

Unser herzlicher Dank gilt den AutorInnen dieser Ausgabe für die vielfältigen Beiträge, Wolfgang Gratzer und Elisabeth Klaus (Leitung Doktoratskolleg) für ihre inhaltliche Beratung sowie den DissertationsbetreuerInnen für den Review der OpenSpace-Beiträge. Besonderen Dank auch an Roswitha Gabriel für ihr umfassendes Lektorat und Content Management sowie an Elke Zobl (Leiterin) und Siglinde Lang (Senior Scientist) vom Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion, die die Kooperation ermöglicht haben.

Wir wünschen inspirierende Erkundungen der Experimentierräume und eine anregende Lektüre!

Xenia Kopf, Anita Moser und Johanna Öttl

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Borges, Jorge Luis (1966): Die analytische Sprache John Wilkins. In: Ders. (1966): Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München: Hanser, S. 212. Zit. n. Foucault 1974, S. 17.

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Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt: Suhrkamp.

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Vogl, Joseph (2011): Poetologie des Wissens. In Maye, Harun/Scholz, Leander (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. München: Fink, S. 49–71.

Xenia Kopf, Anita Moser, Johanna Öttl ( 2017): Von Wissenssystemen und Experimentierräumen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/von-wissenssystemen-und-experimentierraumen/