Ansichtssache

Ein Tag auf der dOCUMENTA (13)

Diese maßgebenden Ausstellung für zeitgenössische Kunst entführte mich in heterogene, teils undefinierbare Gefühlswelten und beeindruckte nebenbei durch ihre erstklassige Organisation. Diese wunderbare Erfahrung möchte ich mit euch, liebe Leserinnen und Leser, teilen und lade auf diese Reise durch die am dOCUMENTA-Gelände zur Landschaft gewordene künstlerische Gesellschaftkritik ein.

Donnerstag, 9. September 13.21 Uhr: Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, Sonnenschein
Der Zug fährt in den Kasseler Bahnhof ein. Meine Aufregung ist groß, da ich nicht weiß, was mich in der dOCUMENTA-Stadt erwarten wird. Ich betrete unbekannten Boden, weiß aber sofort, hier bin ich richtig, denn der sonnengelbe Pfeil mit der Aufschrift „Zur dOCUMENTA“ ist unübersehbar. Das Leitsystem lotst mich vorerst in die Ankunftshalle, wo ich sofort einen Informationsschalter des mit dOCUMENTA-Brandings versehenen Kasseler Tourismusmarketings entdecke. Nachdem ich weder eine Unterkunft noch ein Ticket für die Kunstausstellung und schon gar keinen Plan von der Stadt habe, soll dies meine erste Anlaufstelle sein.
Ich trete ein und werde höflich empfangen. Die freundliche Dame folgt der Schilderung meiner Situation, hebt daraufhin den Hörer ihres Telefons ab, wählt eine Nummer, wechselt einige Worte mit der Person am anderen Ende der Leitung. Nach dem Telefonat meint sie, heute sei wohl mein Glückstag, denn sie habe für mich eine nette und preiswerte Privatunterkunft bei einer älteren Dame gefunden, die idealerweise zwischen Bahnhof und dOCUMENTA-Gelände liege.
Beruhigt, da mit Dach über dem Kopf, löchere ich die freundliche Dame mit Fragen zur Kunstausstellung: Wer wo ausstellt? Wie ich mich am besten zwischen den Ausstellungsorten bewegen kann? Wie viel Zeit ich in etwa benötigen werde? Was besonders zu empfehlen wäre et cetera pp? Geduldig und kompetent gibt sie mir auf all meine Fragen Auskunft. Zum Schluss des Gesprächs erhalte ich noch einen Stadtplan, wo die Dame mir meine Unterkunft einzeichnet, eine Übersicht der Schauplätze inkl. der AusstellerInnen sowie eine Broschüre mit allgemeinen Informationen zur dOCUMENTA mit einem Tagesprogramm. Bestens ausgestattet bedanke ich mich und bahne mir den Weg zu meiner Unterkunft.

Donnerstag, 9. September 13.49 Uhr: Wilhelmshöher Allee, ein paar Wolken ziehen auf
Neugierig aber zielstrebig marschiere ich zu meiner Herberge, während die ersten Eindrücke der grünen dOCUMENTA-Stadt auf mich wirken: „Überall Kultur“.

Plakat: Überall Kultur

Donnerstag, 9. September 14.13 Uhr: Unterkunft, immer mehr Wolken ziehen auf
Ich klingle und die sympathische Stimme einer älteren Dame begrüßt mich. Meine Vermieterin öffnet mir die Tür und zeigt mir die Wohnung, in der ich mich einquartieren darf. Dabei tauschen wir ein paar Nettigkeiten aus und finden sogar eine Gemeinsamkeit – die Freude am Reisen. Auf der diesjährigen dOCUMENTA sei sie jedoch noch nicht gewesen, sie bevorzuge den antik-klassischen Kunststil, erzählt sie und vertraut mir den Wohnungsschlüssel an. „Viel Vergnügen!“ wünscht sie mir noch und verschwindet.

Donnerstag, 9. September 14.36 Uhr: Wilhelmshöher Allee, bewölkt
Nachdem ich mein Gepäck abgestellt und mich auf den Weg zum ersten Hauptschauplatz begeben habe, wird meine Aufregung immer größer. Der Hauptbahnhof wird auserkoren, da er nicht weit von meiner Unterkunft entfernt liegt. Je näher ich dem Ausstellungsgelände komme, desto ungeduldiger werde ich; was wird mich dort erwarten?

Donnerstag, 9. September 14.51 Uhr: Hauptbahnhof, leichter Regen
Ticket erworben. Rucksack abgegeben.

Donnerstag, 9. September 15.03 Uhr: Hauptbahnhof – Nordflügel, noch immer leichter Regen
Nun stelle ich mich an der Warteschlange des fabrikähnlichen Nordflügels an. Nach kurzer Zeit betrete ich den Nordflügel und finde mich in einem white cube wieder, in welchem Bilder, Skulpturen, Bücher und andere Dinge an für die übliche Lesart einer Ausstellung ungewöhnlichen Positionen zu finden sind; ja sogar leicht versteckt. Somit ist Aufmerksamkeit beim Vorantasten durch die venue gefordert. Der Weg setzt sich, diesem Prinzip folgend über mehrere Stockwerke fort, wobei es auch komplett abgedunkelte Räume zu entdecken gibt, wo Videos abgespielt werden: Man sieht Berge und Palmen – irgendwie wirken sie beruhigend auf mich. Die letzten Stufen führen in ein scheinbar baufälliges Dachgeschoß. Auch hier liegen Schätze verborgen. Die vom amerikanischen Medienkünstler Michael Portnoy konzipierte Ausstellung überzeugt mich und hinterlässt einen tiefen Eindruck.

Julia Jung ( 2012): Ansichtssache. Ein Tag auf der dOCUMENTA (13). In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 01 , https://www.p-art-icipate.net/ansichtssache/