Politischer Antirassismus und Kunstinterventionen

Im ersten Teil werden überblicksartig die sozialen, politischen und ökonomischen Hintergründen von Migrationsbewegungen beschrieben. Daran anschließend stehen das Praxisdenken des politischen Antirassismus und ausgewählte Interventionstechniken, die für diese Art des Denkens und Handelns charakteristisch sind, zur Diskussion. Diese Techniken sind „Normalität begreifen“, „alternative Modelle entwickeln“, „Historisierung als Strategie“, „Allianzenbildung“, „(Self)Empowerment“ und „Konfliktinszenierung“. Ausgehend von dieser Perspektive wirft der letzte Teil einen kursorischen Blick auf Interventionen im Kultur- und Kunstfeld. Der Text hat einen programmatischen Charakter, weshalb auf eine längere Exploration der Kunstbeispiele verzichtet wird.*7 *(7)

Was heißt Migration?

Migrieren heißt sich im „sozialen Raum“ (Schroer 2006)star (*9) zu bewegen. Der vorhandene soziale Raum ist kein leerer, sondern einer, der bereits in diverse Orte aufgeteilt ist. Der Ort, der für die Fortbewegung von Menschen von zentraler Bedeutung ist, wird Nationalstaat genannt. Das gegenwärtig vorherrschende wirtschaftliche Paradigma heißt Kapitalismus – sein Motor ist die Produktion von ökonomischem Mehrwert. Mehrwert – das, was dem Eigentümer / der Eigentümerin der Produktionsmittel in Form von Geld bleibt – wird geschaffen, indem die Produktion bestimmter Waren möglichst billig gestaltet wird. (Marx 1962)star (*6) Wie? Durch die Beschaffung billiger Rohstoffe und billiger Arbeitskräfte. Billige Arbeitskraft! Das ist der allerwichtigste Begriff, wenn von Migration die Rede ist, weil es bei der Migration größerer Gruppen von Menschen immer darum geht, die materiellen Lebensbedingungen zu sichern. Die materiellen Lebensbedingungen bedeuten, genug zum Essen zu haben, leistbaren Wohnraum zu bewohnen und die (Er-)Öffnung einer Zukunftsperspektive. Einerseits gibt es also das Interesse, Arbeitskräfte möglichst billig einzusetzen*1 *(1), andererseits gibt es das Interesse zu überleben. Diese zwei Interessen treffen sich und folglich kommt es zu Bewegungen größerer Gruppen von Menschen von einem Ort zu einem anderen. Nicht weil sie es so wollen, sondern weil das System eine solche Möglichkeit für die Vermehrung des ökonomischen Mehrwertes notwendig macht. Wenn also von Migration die Rede ist, dann ist implizit oder explizit auch immer die Rede von Kapitalismus und Nationalstaat. Der soziale Mechanismus „Nationalstaat“ steht also nicht nur für Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, sondern hat auch die Funktion, das laufende Geschäft der Wirtschaft zu erhalten und zu perpetuieren. Einer dieser Schalthebel, der zur Perpetuierung dieses Systems eingesetzt werden, ist der Einsatz von billig gehaltenen Arbeitskräften. Billig wird Arbeitskraft, indem Menschen gezwungen werden, für niedrige Löhne, häufig in Kombination mit schlechten Arbeitsbedingungen, zu arbeiten. Dieser Bezwingungsprozess funktioniert, indem die materielle Basis der Menschen eingeengt wird: Alle sind gezwungen zu verkaufen und zu kaufen, um zu leben. Was ist aber, wenn es kein Geld gibt, um etwas zu kaufen oder wenn es nichts zu kaufen gibt? Dann machen sich Menschen, wohlgemerkt größere Gruppen von Menschen – denn hier ist nicht die Rede von wenigen, die sich das Reisen leisten können – auf den Weg. Dieser Weg führt von einem Ort zum nächsten, von einem Ort, an dem es einen Mangel an materiell lebensnotwendigen Gütern gibt, zum nächsten, an dem diese Versorgung – aus welchen Gründen auch immer – gewährleistet wird. Diese Skizze ist eine vereinfachte, aber durchaus treffende Beschreibung der Anfangssituation jedweder Migration, weil sie die Suche nach besseren Lebensbedingungen beschreibt. In diesem Prozess gibt es mehrere Akteurspositionen: Erstens die Position der weltweiten Wirtschaft; zweitens die Position der in den Nationalstaaten (sowohl in den Absender- als auch den Aufnahmeländern) verankerten Wirtschaft und der historisch gewachsenen Interessensvertretungen; drittens die Position von Menschen, die gezwungen sind, den Ort, den sie ihre Heimat nennen, zu verlassen. Das tun sie nicht gerne, aber wenn sie es tun, dann werden sie aufgrund ihrer Zahl zu einem eigenständigen Bewegungsfaktor, der die Weltverhältnisse verändert. Diese Eigenständigkeit beschreibt die „Autonomie“ der Migration (Moulier Boutang 2002).star (*7)

Nomos heißt auf Altgriechisch Gesetz. Nomos heißt aber auch Veränderung, was bedeutet, dass etwas Altes durch etwas Neues ersetzt werden kann. Migration ist eine Kraft, die – wie Nationalstaaten und die weltweit agierende Wirtschaft – neue Verhältnisse entstehen lassen kann. Bei dem, was politischer Antirassismus (Bratic 2012)star (*3) genannt wird, geht es darum, den Subjektpositionen der MigrantInnen in der Öffentlichkeit zur Anerkennung zu verhelfen.

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Bourdieu, Pierre (2013) Politik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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Bourdieu, Pierre (1993) Sozialer Sinn. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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Bratić, Ljubomir (2012) Politischer Antirassismus. Wien: Löcker

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GEMMI (2005) 1000 Jahre Haft, Wien, Eigenverlag. Verfügbar unter: http://no-racism.net/upload/424899865.pdf (18.01.2014)

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Marx, Karl (1962) Kapital. Band I. Berlin: Dietz. Verfügbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me23/me23_000.htm (20.01.2014)

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Moulier Boutang, Yann (2002) Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration. In: subtropen / Jungle World Nr. 28, 5. Verfügbar unter: http://jungle-world.com/artikel/2002/14/24171.html (18.01.2014)

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Ranciére, Jacques (2002) Das Unvernehmen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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Schroer, Markus (2006) Räume, Orte, Grenzen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Wallerstein, Immanuel (2002) Utopistik. Wien: Promedia

1964 wurde der Anwerbevertrag zwischen Österreich und der Türkei und 1966 zwischen Österreich und Jugoslawien unterzeichnet. Wie befinden uns im Jahr 2014, also in einem Jubiläumsjahr: 50 Jahre nach der offiziellen Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei. Allerdings scheint ein halbes Jahrhundert Migration nach Österreich für die offiziellen Stellen in Österreich nicht sehr inspirierend zu sein, um mit den üblichen Feierlichkeiten an das Jubiläum zu erinnern.

Praxis wird hier im Sinne von Bourdieus „Praxeologie“ (Bourdieu 2003) gedacht. Diese ist folglich unumkehrbar, dringlich und zeitlich bedingt. Sie erfolgt durch Leiblichkeit und sie ist distanzlos. Ein Beispiel aus der antirassistischen Praxis sind die Protestmaßnahmen gegen Abschiebungen oder die in Jahren 2000 und 2001 erfolgten Aktionen bei Gerichtsprozessen gegen 127 Personen, die während der „Aktion Spring“ (GEMMI 2005) verhaftet wurden.

Unter Politik wird hier die gesellschaftliche Ebene der Verwaltung, der Parteien und Interessensvertretungen, also alles das, was Jacques Ranciére (2002) Polizei nennt, verstanden.

Leider sind in den PDF-Versionen einige Sonderzeichen nicht richtig umgewandelt. Wir entschuldigen uns dafür!

Ljubomir Bratić ( 2014): Politischer Antirassismus und Kunstinterventionen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 04 , https://www.p-art-icipate.net/politischer-antirassismus-und-kunstinterventionen/