Das Projekt SISI: Ein „Spekulatives Institut für Soziale Interventionen“
Auf der Suche nach neuen Räumen der Gemeinschaft im städtischen und digitalen Raum.
Jan Phillip Ley und Theresa Muhl im Gespräch mit Anita Thanhofer
Jan Phillip Ley und Theresa Muhl sind Gründungsmitglieder des SISI, des Spekulativen Instituts für Soziale Interventionen. Das Projekt wurde im Rahmen der Vienna Design Week ins Leben gerufen und dort erstmalig umgesetzt. Im 9. Wiener Stadtbezirk wollten Ley und Muhl sowohl analoge als auch digitale Räume gestalten. Im Gespräch mit Anita Thanhofer verraten die beiden, welche Räume sich konkret eröffnet haben und wie bei der Umsetzung eines solchen Projektes Theorie und Praxis auseinanderklaffen können.
Was kann man sich unter dem Projekt SISI vorstellen?
JPL: SISI ist ein Projekt, das in einer ersten Auflage 2019 im Rahmen der Vienna Design Week in der Rubrik Stadtarbeit stattgefunden hat. Wir und vier weitere Gruppen wurden dazu eingeladen, im 9. Wiener Gemeindebezirk ein Projekt umzusetzen, das im Stadtraum stattfindet und mit den und für die dortigen Bewohner:innen funktioniert. SISI steht für Spekulatives Institut für Soziale Interventionen. Am Anfang stand die Frage: „Wem gehört die Stadt?“ Das ist eine alte Frage, die jetzt auch im digitalen Kontext neu diskutiert wird. Wir haben wahrgenommen, dass es für viele in Städten lebende Menschen immer schwieriger wird, sich im öffentlichen Raum frei auszuleben. Wir leben in Stadtgemeinschaften, in denen viele verschiedene Menschen aufeinandertreffen. Gleichzeitig existieren Reglementierungen, Bürokratie, Regeln und Gesetze, die nicht nur vom Staat oder von der jeweiligen Stadt ausgehen, sondern auch von Menschengruppen untereinander ausgehandelt werden. Diese Beobachtungen haben wir als Ausgangspunkt genommen und uns gefragt, ob es nicht ein Tool gäbe, das einen anderen Zugang zum öffentlichen Raum erlaubt. Dafür haben wir SISI als analog-digitales Werkzeug entwickelt, mit dem Menschen im Digitalen eigene Regeln für den öffentlichen Raum entwickeln können. Dazu wurden im Stadtraum Aufkleber mit kleinen QR-Codes platziert, über die man – nach dem Scannen und der Eingabe eines Passwortes, das nur auf dem jeweiligen Aufkleber zu finden war, – ein digitales Forum betreten konnte, in dem man Posts in Form von Wort, Fotos, Videos oder Audio machen und kommentieren konnte. Der Mechanismus des Passworts führte zu einer direkten Verknüpfung von digitalem und analogem Raum. So konnte der jeweilige digitale Raum nur nach Eingabe des Passworts betreten werden. Das Passwort kannte man wiederum nur, wenn man physisch vor Ort war. So entstand eine durchaus befruchtende Wechselbeziehung, die uns viel über unser Verhalten im jeweiligen Medium lehren kann. Unsere Verhaltensweisen im öffentlichen und im digitalen Raum weisen zwar schon jetzt gewisse Parallelen auf: So findet in beiden Kommunikation statt, im Digitalen scheint sie oftmals aber ungebunden und folgenlos; es gilt ein gewisses Bewusstsein für analoge und digitale Prozesse zu entwickeln, um daraus authentische Kulturtechniken entwickeln zu können. Das ist ein wesentlicher Aspekt unserer Idee und hat uns dazu gebracht, analoge und digitale Felder zusammenzuführen.
Könnt ihr euch selbst und euren Hintergrund ein wenig beschreiben?
JPL: Was meine Profession angeht, bezeichne ich mich eigentlich immer unterschiedlich, je nachdem, mit wem ich rede (lacht). Ich würde sagen, dass ich freier Medienkünstler bin, wobei ich mich als Raumdenker und Raummacher begreife. Das Raum-Denken ist dabei die theoretische Grundlage, das Raum-Machen hingegen die praktische Umsetzung. Diese beiden Ebenen sind Grundlage meiner Arbeit zum öffentlichen Raum und zum Thema Stadt. Dazu entwickle ich meist interaktive Installationen, Objekte und Systeme, die oft einen wahrnehmungsspezifischen Ansatz haben. Ich glaube, räumliche Wahrnehmung ist etwas, das alle Menschen miteinander verbindet. Deswegen ist das ein recht niederschwelliger Zugang, um Gespräche und Diskussionen in verschiedensten Bereichen anzustoßen.
TM: Als ausgebildete Innenarchitektin habe ich mich stark mit der Wahrnehmung von Räumen und der Theorie des Raumes befasst. Zurzeit setze ich mich besonders mit dem öffentlichen Raum auseinander. Ich beschäftige mich mit performativem Urbanismus, mit Interventionen im öffentlichen Raum und in diesem Kontext mit der Vermittlung von unterschiedlichen Themen sowie zwischen verschiedenen Menschen – zum Teil durch spielerische Interventionen. Vor SISI beispielsweise habe ich das urbane Minigolf Lochtopia mitentworfen. Dabei ging es um Aneignung im öffentlichen Raum. Die Grundfragen waren, wem der Stadtraum gehört, wie man ihn sich aneignen kann, wie man ihn benutzen kann und ob man das überhaupt darf. Für mich ist sehr wichtig, theoretische Fragen mit in die Praxis hineinzunehmen. Dafür eignet sich ein spielerischer Zugang, da es darüber gelingt, komplexe Themen niederschwelliger zu gestalten.
Gab es theoretische Bezugspunkte für die Entwicklung des Projekts?
JPL: Da ist der Begriff der Gemeinschaft, mit dem wir uns im Rahmen unserer Arbeit intensiv auseinandersetzen, und jener der Gesellschaft, der Ersterem zwar ähnlich ist, aber nicht das Gleiche meint. Wir stellen uns die Frage, inwieweit die Verwendung des Begriffs Gesellschaft überhaupt noch sinnvoll ist, ob kollektive Identität – was eine Umschreibung von Gesellschaft sein kann – in einer Welt, die so divers ist, überhaupt existiert oder ob Gemeinschaft ein Begriff ist, der näher am Menschen und dadurch auch leichter zu diskutieren ist. Ich finde in diesem Kontext den deutschen Soziologen Hartmut Rosa wichtig. Er befasst sich viel mit dem Thema Resonanzen. Rosa beschreibt das Paradoxon, dass eine Empathie-Leere bestehe, obwohl Empathie eigentlich die Grundlage eines gemeinschaftlichen Umgangs miteinander sein sollte. Wichtig ist, dass man lernt, aufeinander einzugehen, um aufeinander reagieren zu können und auch miteinander resonieren zu können – eben ein empathischer Umgang miteinander. Mit Umgang meine ich ganz grundlegende Verhaltensweisen, worauf eine offene Gemeinschaft basieren muss. Hinzu kommt die Frage, inwiefern das Digitale ein empathisches Miteinander unterstützt oder dem entgegenwirkt. Byung-Chul Han hat viel über diese spannende Frage geschrieben. Er fragt, inwiefern Gemeinschaften in der digitalen Zeit überhaupt existieren würden. Daraufhin führt er den Begriff des Schwarms ein, als zufällige Ansammlung von Menschen, die genauso schnell wieder verschwinden, wie sie auftauchen. Ich würde das als eine flashmobartige Gesellschaft beschreiben.
TM: Uns beschäftigt also die grundlegende Frage, die man sich in einer Welt stellt, in der so viel Individualismus herrscht: Inwiefern kann hier eine Gemeinschaft überhaupt existent sein und wie wichtig ist sie? Inwiefern vermisst man diese Gemeinschaft in Zeiten wie diesen, in denen coronabedingt alles in den digitalen Raum übergeht? In der gegenwärtigen Situation merkt man besonders, wie wichtig Zusammensein und physisches Miteinander sind.
JPL: Speziell für mich ist auch die Frage interessant, welche Rolle bei solchen Fragen das Digitale spielt. Felix Stalder hat den Begriff der Digitalität geprägt, den ich sehr interessant finde. Damit versucht er, einen Gegenbegriff zu sehr technischen Begriffen wie Digitalisierung oder digitale Transformation zu etablieren. Beim Begriff der Digitalität geht es eher darum, wie im Digitalen Kultur und Gemeinschaft entstehen können. Welche Rituale brauchen wir dafür? Welche Gesprächskultur brauchen wir dafür? Das sind für mich sehr spannende Fragen, mit denen wir auch im Rahmen von SISI experimentiert haben.
Was bedeutet Vermittlungsarbeit für euch als Grundhaltung innerhalb des Projektes SISI?
JPL: Als Künstler:in entdeckt man immer Themenfelder, die einen besonders interessieren, die man selbst als relevant erachtet und die auch den jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs prägen oder geprägt haben. Meistens ist der erste Zugang ein sehr persönlicher, weil die erste Verarbeitung von Themen einfach sehr unterschiedlich und persönlich ist. Wenn es aber darum geht, im weiteren Schritt partizipative oder kollaborative, offene Formate zu entwickeln, widerspricht die Herangehensweise dem anfänglich individuellen Zugang. Wo man am Ende landet, sollte das Gegenteil davon sein, wo man am Anfang gestartet ist. Deswegen ist es schon die Krux, abhängig von der Zielgruppe oder den Zielgruppen, Formate zu schaffen, die diese Erfahrung vermitteln können. Das war uns auch bei SISI wichtig. Wir haben stets klar formuliert, dass wir uns nicht als Expert:innen sehen, die Expertisen vielmehr vor Ort bei den Bewohner*innen liegen. Wir waren in diesem ‚Grätzel‘ – also im 9. Bezirk in Wien – fremd. Wir sind für zehn Tage dorthin gekommen und wir waren diejenigen, die am wenigsten Ahnung vom Leben dort hatten.
TM: Der Hauptpunkt in dem Projekt war es deshalb, mit den Menschen zusammen Erfahrungen zu machen und Wissen zu generieren. Natürlich gab es ein grundlegendes Konzept: Wir veranstalteten zu unterschiedlichen Themen Stadtspaziergänge, zu denen wir jeweils Expert:innen eingeladen hatten. Dementsprechend legten wir im Vorfeld auch bestimmte thematische Schwerpunkte fest, wie z.B. Nutzungsalternativen von Leerständen, Sprache und Kommunikation im öffentlichen Raum, Orte der Gemeinschaft, Stadt und Verkehr oder Stadt und Natur. Einen Rahmen zu schaffen, war für uns schon zentral. Wie gesagt sahen wir uns aber nicht als Expert:innen. Die Idee war vielmehr, dass alle Teilnehmenden, uns eingeschlossen, im Laufe dieses Spazierganges in einen Diskurs kommen und durch die Erfahrung anderer neues Wissen generieren. Eigentlich waren unsere Stadtspaziergänge eine Art gegenseitige Wissensvermittlung.
JPL: Jede:r konnte mitmachen und das Ziel war immer, dass wir einen neuen Raum erzeugen. Neue Räume haben wir NRC, Neue Räume der Commons, genannt. Das Key Feature am Ende des Projektes war eine Art offenes digitales Forum, das Leute zu einem bestimmten Thema an einem bestimmten Ort in der Stadt gegründet haben. Wie zu Beginn bereits kurz angesprochen, konnten sie nach dem Einloggen Inhalte teilen und sich zu verschiedensten Themen austauschen. So entstanden Orte, an denen man seine Lieblingsmusik teilen und hören konnte, ein NRC wurde zum digitalen Dating-Room, ein anderer wiederum zum Archiv kommentierter Wahlplakate und viele mehr.
TM: Es gab natürlich Situationen, in denen der Aspekt der gegenseitigen Wissensvermittlung stärker war. Einmal hat uns zum Beispiel eine Schulklasse besucht. Einerseits haben uns die Schüler:innen zugehört, aber andererseits gab es auch Situationen, in denen sie uns etwas aufgezeigt haben und wir auf sie gehört haben. Das war total schön, als sich die zwei Seiten von Wissenden und Zuhörenden vermischt und aufgelöst haben. Bei den Spaziergängen mit den Expert:innen war es hingegen so, dass wir eher die Vermittler:innen zwischen den Expert:innen und den Spaziergangsteilnehmenden waren. Wir haben die Plattform aufgemacht und versucht, Gruppen zusammenzuführen. Ich will nicht zu viel über die Dinge reden, die in diesen zehn Tagen schwierig waren, sondern eher über die guten, aber es war ein Problem, dass wir neu waren, dass wir sozusagen von außen hinzugekommen sind und dass wir nicht einmal in Wien leben. Wir hatten keine Community, auf die wir zurückgreifen hätten können. All das hat die dortige Umsetzung unseres Projekts erschwert.
Welche Rolle spielt Kommunikation im Projekt SISI? Ihr habt eingangs erklärt, dass das Projekt ein Hybridprojekt ist und sowohl aus einem analogen als auch einem digitalen Raum besteht. Insofern stellt sich mir die Frage der Kommunikation innerhalb des digitalen Raumes. Hat sie in der Umsetzung in Wien stattgefunden? Und wie hat sie stattgefunden?
JPL: Vielleicht spreche ich erstmal über den Ablauf hinter den Kulissen. Ein Projekt von diesem Ausmaß machen ja nicht zwei Leute allein. Da steht ein interdisziplinäres Team, bestehend aus verschiedenen Künstler:innen, Webdesigner:innen, Theoretiker:innen usw. dahinter.
TM: Ein kleines Team. Es wirkt jetzt sehr groß.
JPL: Ja, es waren wechselweise sechs bis acht Personen. Schon in der Zusammenarbeit im Team spielte die Kommunikation eine große Rolle. Wie kommuniziert man so eine Projektidee? Wie kommuniziert man den Ablauf verschiedener Phasen des Projekts intern, im Team? Wie macht man das, wenn sich die Leute an verschiedenen Orten befinden? Kommunikation war in allen Projektphasen enorm wichtig. Ein Kommunikationstool, das wir nutzten, war unsere Website, sisi-project.org. Die Website ist grundsätzlich der Dreh- und Angelpunkt des Projektes, weil SISI eben auch ein digitales Projekt ist. Die Repräsentation im digitalen Raum ist daher zentral. Wir versuchen auf dieser Website klar zu kommunizieren, einfach und für jedermann verständlich. Darüber hinaus versuchen wir mittels visueller Anteile viele Leute anzusprechen und mitzunehmen. Das ist wichtig. Ich habe allerdings grundsätzlich die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwierig ist, komplexe Themen auf Website-taugliche Inhalte herunterzubrechen. Das Beste ist deshalb immer noch, auch vor Ort zu sein, mit den Leuten direkt zu reden und auch im gemeinsamen Tun zu lernen. Deswegen bespielten wir im Rahmen der Vienna Design Week zehn Tage lang einen Leerstand als eine Art Institutszentrale. Wir hatten auch eine Institutseröffnungsfeier, zu der aber niemand gekommen ist, außer Freund:innen. Das Thema war aber Gemeinschaft, und man kann Gemeinschaft nicht allein machen. Daher stellte sich uns die Frage, wie wir es schaffen könnten, so zu kommunizieren, dass wir die Leute vor Ort erreichen und mitnehmen.
TM: Als wir vor Ort, in unserer Institutszentrale waren, einem leerstehenden Ladenlokal mit einem großen Fenster, über das wir mit den Leuten kommunizieren wollten, war das schwierig. Wir waren ja nur für kurze Zeit dort – eher wie eine kleine Zecke, die sich zehn Tage lang im Leerstand einnistete und dann auch wieder weg war. Es existiert extrem viel Leerstand, aber ich glaube, die Menschen nehmen das gar nicht so wahr. Sie gingen an uns vorbei. Ich glaube, wir hätten einfach mehr Zeit gebraucht, um dort richtig anzukommen, sodass unser Ladenlokal tatsächlich mit den Bewohner:innen kommuniziert hätte. Wir versuchten natürlich, in einen Dialog zu treten und auf uns aufmerksam zu machen: über Mundpropaganda, über Zettelchen, die wir aufhängten oder über das Verteilen von Flyern. Als Teil der Vienna Design Week hatten wir zwar prinzipiell schon eine Plattform, es war für uns allerdings total schwierig, sie gut zu nutzen, weil wir nicht in der Festivalzentrale waren, sondern ganz emanzipiert gesagt haben: „Nein. Wir wollen das nicht. Wir wollen allein und eigenständig sein.“ Wir wollten im Stadtraum sein. Dort haben wir aber gemerkt, dass man Gemeinschaft nicht allein machen kann. Man braucht die Grundlage einer Community, um alles ins Laufen zu bringen.
JPL: Wenn man Community-Arbeit machen will, dann braucht man natürlich eine Community. Es gibt auch nicht nur eine Community in einem Grätzel. Es gibt dort immer viele Communitys und viele Interessen. Dazu kommt, dass ein Werkzeug wie unseres nicht alle bedienen können. Auch haben wir in der Umsetzung gemerkt, dass die Sprache, die wir verwendet haben, sehr auf Inszenierung abzielte und dadurch auch gewisse Schwellen aufgebaut hat. Wir haben also überlegt: „Wie schaffen wir es, in den zehn Tagen dennoch Kontakt zu den Communitys aufzubauen?“ Wir wollten sie quasi von unserer Idee überzeugen oder ihnen unser Tool in die Hand geben, sodass sie es sich eigenständig aneignen und für ihre Zwecke verwenden können.
TM: Es war ein ganz wichtiger Wendepunkt in der ganzen Umsetzung unseres Projektes, als wir wirklich vor Ort waren und mit der Frage konfrontiert waren: „Wir sind jetzt in diesem Stadtraum, aber wie kommen wir an die Leute heran?“ Wir haben uns dann wirklich lokal an einzelne Communitys gewandt, Leute angeschrieben und eingeladen. Auf diese Weise hat sich schließlich doch etwas entwickelt.
Mit wem und in welcher Weise habt ihr die konkrete Umsetzung des Projekts SISI im Rahmen der Vienna Design Week gestaltet?
TM: Es gab einmal das ‚Dahinter‘ und einmal das ‚Davor‘. Hinter den Kulissen gab es uns beide, Jan Phillip und mich, und eine Grafikdesignerin, die die digitale Kommunikation und auch viel Print gemacht hat. Dann war ein Politikwissenschaftler mit an Bord, der sich zum Beispiel mit dem Thema des ‚Nudging‘ beschäftigt hat. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, inwiefern mich der Stadtraum, oder die Gestaltung des Stadtraums in meinen Entscheidungen beeinflussen kann. Darüber hinaus haben wir mit Leuten aus dem Bereich der Szenografie und der Bühne gearbeitet, die – wie ich auch – eher in Richtung performativen Urbanismus arbeiten. Auch aus dem Feld der Psychologie hatten wir Mitarbeitende. Besonders wichtig waren für dieses Projekt aber auch jene Menschen, die – sozusagen in der Umsetzung – von außen kommen. Einige Menschen sind ganz interessiert in das Ladenlokal gekommen und haben dort Informationen eingeholt. Andere Personen aus dem internen Bereich haben wir direkt angeworben. Das waren Freund:innen oder Bekannte, die wir zu Spaziergängen eingeladen haben. Dann gab es die Communitys, die wir versucht haben, mit ins Boot zu holen, zum Beispiel die Grünen aus dem 9. Bezirk. Über sie konnten wir unser Ladenlokal kostenlos nutzen. Das Problem lag aber darin, dass wir uns ursprünglich keiner Partei zuwenden wollten. Dann war es aber so, dass wir mit Momo Kreutz zusammengekommen sind, der Bezirksvorsteherin der Grünen im 9. Bezirk. Das war letztlich schon sehr bereichernd, weil sie uns mit der Gruppe der Lokalen Agenda und anderen lokalen Schlüsselfiguren in Kontakt bringen konnte. Das war für uns und das Projekt enorm wichtig.
JPL: Im Idealfall sind Partizipationsprozesse für mich dann erfolgreich, wenn wirklich alle, die interessiert sind, gemeinsam Dinge entwickeln, erarbeiten und weitergeben können. Das braucht allerdings viel Arbeit und viel Zeit. Es muss einem auch bewusst sein, dass man scheinbar immer, wenn man etwas Digitales macht, bestimmte Menschengruppen von Anfang an ausschließt, weil bei bestimmten Personengruppen die Schwellen im Umgang mit digitalen Medien sehr hoch sind. Das ist auch der Grund, warum es immer Sinn macht, digitale Aktionen und Projekte auch mit einer analogen Komponente zu verbinden.
Welche Räume sind für das Projekt SISI entstanden?
JPL: So einige Räume sind entstanden. Das Thema war, wie bereits angesprochen, Gemeinschaft, und wir haben nach neuen Räumen der Gemeinschaft gesucht. Wir haben bewusst von neuen Räumen gesprochen, denn es gibt ja in jeder Stadt immer schon gewisse Orte, die allgemein als Gemeinschaftsräume verstanden werden: öffentliche Plätze, Parks, mittlerweile vielleicht sogar Einkaufszentren. Uns interessierte daran aber, dass das immer Räume sind, die für eine bestimmte Menschengruppe gemacht sind, auch so funktionieren und bestimmte Leute inkludieren. Bei Inklusion passiert immer gleichzeitig, dass exkludiert wird. Bestimmte Personengruppen werden also ausgeschlossen. Wir leben schließlich nicht in Städten, in denen nur Mauern sind. Menschen können sich hierzulande frei bewegen und deshalb vermischen sich die Personengruppen auch. Und verschiedene Personengruppen mit ganz verschiedenen Interessen nutzen die jeweils selben Räume. Da kommt es natürlich zu Konflikten und das ist auch gut, weil sich auf diese Weise Meinungen und auch Räume weiterentwickeln können. Da haben wir angesetzt und wollten durch die Erweiterung in das Digitale konkrete physische Räume in der Stadt Wien, im Konkreten im 9. Bezirk, neu beleuchten.
TM: Es sind teilweise sehr persönliche Räume entstanden, die sich bestimmten Themen gewidmet haben. Es gab zum Beispiel einen Angstraum. Das war ein Raum, in dem sich das Gefühl der Angst irgendwie widergespiegelt hat. Das wiederum sollte dazu anstoßen, dass Menschen über ihre eigenen Erfahrungen in öffentlichen Räumen sprechen und dass sie sagen, welche Räume ihnen Angst machen. Und was zum Beispiel die Komponenten dafür sind, dass ein Raum diese Emotion vermittelt: dass es vielleicht dunkel ist, oder dass dort einfach nicht so viele Menschen sind; dass er vielleicht unterirdisch ist; dass sich dort bestimmte Menschengruppen aufhalten, denen man abends vielleicht nicht so gerne begegnen möchte.
JPL: Genau. Der Austausch darüber kann vielleicht schon dazu führen, dass man vielleicht weniger Angst davor hat, diese Räume zu nutzen. Es gab im Allgemeinen viele Räume, in denen persönliche Geschichten geteilt werden konnten. Zum Beispiel gab es einen, in dem verschiedene Geschichten und Erfahrungen aus der Straßenbahn erzählt werden konnten. Ebenso eröffnete sich wie bereits gesagt ein Dating-Room, in dem Leute sich ein Profil anlegen konnten, um sich zu daten. Es gab den Komplex der Leerstände. Leute konnten einfach neue Räume der Commons an bestimmten Leerständen verorten und gemeinsam überlegen, was mit dem Raum gemacht werden könnte, wie eine Gruppe ihn nutzen könnte oder wie eine neue Gemeinschaft durch die Nutzung dieser Räume entstehen könnte.
TM: Dann haben wir einen Raum bei der Festivalzentrale der Vienna Design Week eröffnet, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, zu artikulieren, was ihr Lieblingsteil der Design Week war. Das war sozusagen ein Raum des Diskurses. Außerdem haben wir gemeinsam mit den Schüler:innen, die wir bereits angesprochen haben, einen Raum für Schüler:nnen erstellt. Sie haben selbst festgelegt, wer Teil dieses Raumes ist, wer ihn betreten darf und wer nicht. Das ist in einer recht politischen Diskussion ausgeartet und war augenöffnend, weil wir gemerkt haben, dass diese Schüler:innen das Bedürfnis hatten, zu sprechen und gehört zu werden – auch politisch.
JPL: Das war zur Zeit der Wahlen. Die Schüler:innen waren etwa 14 bis 15 Jahre alt. Sie hatten also noch kein Wahlrecht inne, hatten aber eine stark ausgeprägt politische Meinung. Was macht man mit dieser Meinung? Das war in diesem Fall ein Thema. Man verbreitet seine Meinung auf Facebook und ist sich nicht über die Folgen bewusst, die diese Meinungsäußerung vielleicht haben kann. Denn es betrifft einen ja nicht wirklich physisch, wenn verschiedene Reaktionen kommen. Dann macht man den Computer eben aus. Aber was passiert eigentlich, wenn man das mit dem physischen Raum in Verbindung bringt? Was passiert, wenn diese Meinungsäußerung tatsächliche Auswirkungen auf den Raum und auf die Menschen hat? Das mit den Schüler:innen zu diskutieren, fanden wir sehr spannend und hat sofort funktioniert.
Welche Rolle spielte in diesen Räumen das Experimentieren? Oder das Ausprobieren von Neuem? Oder künstlerische, kulturelle Praktiken?
JPL: Ich glaube, da müssen wir noch einmal betonen, dass SISI in Wien ein Erstversuch war. Es war ein experimentelles Projekt, basierend auf einer Idee, die wir einfach mal in den Raum geworfen und ausprobiert haben. Das ist oft so. Da braucht es jetzt wieder Zeit, um Konzepte anzupassen, sodass die Leute in das Projekt involviert werden wollen und sich Ideen aneignen.
TM: Ich glaube, in der Wunschvorstellung ist es so, wie Jan Phillip das gerade beschrieben hat. Es kommt aber auch darauf an, welche Personen Teil eines Projekts sind oder werden wollen. Nicht jede:r hat eine künstlerische Idee, wie sie:er sich ein bestimmtes Thema aneignet. Wir haben verschiedene Tools zur Verfügung gestellt. Wir haben zum Beispiel gesagt, dass das Erstellen von Fotos ein Weg sein kann, sich Themen anzueignen. Eine andere Möglichkeit waren Voice-Memos, die man hochladen hätte können. Das heißt, man hätte auch Sound aufnehmen können. Man hätte auch selbst Audioaufnahmen oder Videos machen oder eine Fotoreihe erstellen können. Aber das war gar nicht das Ziel. Der Raum war offen, sodass diese Praktiken Optionen darstellten, aber nicht verpflichtend oder gar notwendig waren.
JPL: Beteiligung und Interaktion sind in diesem ersten Versuch in Wien nur teilweise passiert. Einige Gründe dafür haben wir bereits genannt. Ein weiterer besteht darin, dass Tools oft viele Schritte und Regeln haben, die man erstmal durchschreiten muss. Da braucht es schon ein großes Interesse, dass die Leute von Anfang bis Ende dabei sind.
TM: Ich glaube, man kann sagen, dass es in den Räumen selbst wenig künstlerische Beteiligung gab. Aber in der Findung der Räume hat sich für uns herauskristallisiert, dass wir selbst immer kreativer wurden, was neue Räume angeht. Unsere Grafikerin hat zum Beispiel mit einem Freund einen Raum aufgemacht, wo man in einen kleinen Tunnel geht und sich danach in ein Tier verwandelt. Das war ein spielerischer Zugang, den öffentlichen Raum anders zu nutzen. Diese Verspieltheit hineinzubringen war schön.
JPL: Ich glaube, es ist wichtig, dass man Fragen spielerisch angeht. Es gab zum Beispiel den Raum Public Playlist. Das war ein Raum von Zaha Hadid in einem Gebäude am Donaukanal, das jetzt das Schicksal hat, ein Leerstand zu sein. Dort wurde ein Raum eingerichtet, wo Leute ihre Lieblingsmusik teilen und sich treffen konnten, um gemeinsam dieses Leerstandsareal neu zu beleben. Das ist genau dieses Spielerische, Künstlerische, Experimentelle, das für einige gut funktioniert. Andere brauchen eine klare Funktion, eine Funktionalität und einen funktionalen Mehrwert. Im besten Fall ergibt sich die Nutzung aus dem Prozess und aus den Menschen heraus, wir als Künstler:innen wollen nur den Anstoß geben.
Ihr habt euch im Rahmen des Projekts SISI dazu entschieden, den digitalen Raum für euch aufzumachen bzw. ihn einzubeziehen. Wo, glaubt ihr, liegen Potenziale, wo Herausforderungen und Schwächen?
JPL: Es gibt zwei Aspekte, die ich in diesem Kontext erwähnen möchte. Das ist einerseits die fehlende Haptik. Die Wahrnehmung im digitalen Raum ist im Vergleich zum konkreten Raum – zum Stadtraum zum Beispiel – einfach eine andere, weil unser Körper und unsere Sinne ganz anders involviert sind. Aber das sind Prozesse, die wir mit zunehmender Digitalisierung lernen müssen. Der zweite Aspekt ist der der sozialen Praktiken. Ein Leben, beispielsweise in der Stadt, ist immer etwas Soziales. Wir sind soziale Wesen und auch die Art und Weise, wie wir miteinander interagieren und kommunizieren, ist ein sozialer Prozess. Die sozialen Praktiken, die wir in der Stadt oder auf dem Land schon gelernt haben und die wir immer wieder aufs Neue lernen müssen, weil wir neuen Menschen begegnen oder weil sich Strukturen ändern, müssen wir auch im digitalen Raum verstehen lernen. Ich glaube, daran müssen wir noch schwer arbeiten. Das war einer der Kernpunkte, weswegen wir bei SISI diesen Mechanismus entwickelt haben, dass die digitalen Räume nicht für sich selbst existieren können, die konkreten Räume aber auch nicht. Eigentlich ist es der Versuch einer Verbindung genau dieser beiden Aspekte, die ich gerade beschrieben habe. Ich finde es gegenwärtig, im Zuge der Corona-Pandemie, sehr spannend zu beobachten, ob wir diese sozialen Praktiken in dieser Zeit ein bisschen mehr verstehen lernen.
TM: Was mich an der Umsetzung und an der Verbindung des digitalen Raumes mit dem öffentlichen Raum gestört hat, ist der Umstand, dass die QR-Codes, die wir verwendeten, nicht funktionierten. Das war oder ist kein gutes Instrument. Man nutzt sie, man hat das Gefühl, dass im öffentlichen Raum so viele existieren, aber ich komme nicht auf die Idee, mir so einen QR-Code zu scannen. Wenn ich mir das vorstelle, auch für SISI, das im September vielleicht noch einmal stattfindet, möchte ich aus der gestalterischen Rolle heraus eher etwas Physisches im Raum haben, das mir ein Tor in die Digitalität im Raum eröffnet. Wie so eine kleine Inszenierung im öffentlichen Raum, wo ich wirklich sitze und in den digitalen Raum wechsle. Ich habe das Gefühl, dass so etwas den Zugang für Menschen erleichtern könnte, die ihn per se nicht haben. Das konnte ich während der Umsetzung von SISI in Wien konkret beobachten. Kinder kamen mit ihren Eltern vorbei, die schon Probleme damit hatten, überhaupt zu verstehen, wie sie in einen digitalen Raum hineinkommen und wie der Scan von QR-Codes funktioniert. Weil wir gerade über das Spielerische gesprochen haben: Ich denke mir, dass man das zukünftig noch mehr implementieren könnte.
Gibt es in eurem Projekt Bezüge, die zu den aktuellen gesellschaftlich relevanten Fragen Klimawandel bzw. nachhaltige Entwicklung passen?
TM: Ich glaube, nicht direkt. Es gab aber auf jeden Fall Situationen, die sich damit in Verbindung setzen lassen. An einem Abend haben wir einen Live-Stream gemacht. Wir haben Freund:innen bzw. eine Band, die ein Konzert in Nantes in Frankreich gespielt hat, gebeten, einen Live-Stream für uns zu starten, sodass wir es in Wien live miterleben konnten, obwohl die Band nicht vor Ort war. Das war sehr schön. Wir mussten keine Ressourcen aufwenden, dass sie hierher fliegen, fahren oder was auch immer, und haben trotzdem ein Gefühl für ihre Musik bekommen. Das ist ein Punkt, der mir einfällt, wenn ich über das Reisen nachdenke.
JPL: Wie gesagt, war dieser direkte Bezug nicht gegeben, ich denke auch deshalb, weil nicht die Leute gekommen sind, die gesagt haben: „Das ist mein Thema.“ Das heißt aber nicht, dass es keine Relevanz hatte. Beim Begriff Nachhaltigkeit finde ich die soziale Komponente wichtig, also die soziale Nachhaltigkeit. Ich glaube, ohne das Ökologische kriegt man das nicht hin. Ich sehe aber ein Problem darin. Von der Bevölkerung wird aktuell viel gefordert. Die Leute gehen wieder auf die Straße, weil sie unzufrieden damit sind, wie mit dem Klima und mit den Ressourcen umgegangen wird. Die Politik kann aber nicht im Alleingang von oben herab Entscheidungen treffen. Jemand muss zwischen den Parteien vermitteln. Das meine ich mit sozialer Nachhaltigkeit. Über alles, was im Stadtraum passiert, muss viel mit den Leuten gesprochen werden. Die Leute müssen involviert werden, sodass auch eine Stadtgemeinschaft entstehen kann, die mit den Ressourcen verantwortlich umgeht. Das Ziel sollte sein, dass es gar keine harten Einschränkungen oder sogenannte Verbotsgesetze von Seiten der Politik braucht.
TM: Was aber auch ein großer Punkt ist, ist das Stadtplanerische und das Infrastrukturelle, die Stadtstruktur. In Wien ist es so, dass jedes Grätzel eine eigene Wirtschaft und Infrastruktur hat. Natürlich geht es da auch um das Thema Leerstand. Was kann ich dort tun? Was kann ich meinem Grätzel zurückgeben? Was kann dort passieren, damit ich die Leute dazu bringe, in meinen kleinen Einzelhandelsladen zu kommen und lokale Dinge zu konsumieren statt online einzukaufen? Es gibt das große Projekt Franz-Josefs-Bahnhof im 9. Bezirk, wo das Vienna Design Festival stattgefunden hat und wo die Hauptzentrale war. Dort soll ein riesengroßes Bauprojekt umgesetzt, ein Einkaufszentrum gebaut werden, in das neue Gebäude sollen Büros hineinkommen. Es wird angedacht, öffentliche Plätze auf Dachterrassen zu errichten. Das schließt bestimmte soziale Gruppen aus, weil genau um den Bahnhof herum Gruppen existent sind, die zum Beispiel in weniger gut angesehenen Schichten der Gesellschaft zu Hause sind. Das ist immer ein bisschen schwierig. Wir haben natürlich versucht, das anzusprechen und die Leute ein bisschen zu triggern, um zu fragen, was sie denn eigentlich davon halten. In anderen Gesprächen sind wir oft mit Themen wie Nachhaltigkeit oder Klimawandel in Berührung gekommen. Da scheint es viel Redebedarf zu geben.
Interview am 20.3.2020
Jan Phillip Ley,
Theresa Muhl,
Anita Thanhofer
(
2021):
Das Projekt SISI: Ein „Spekulatives Institut für Soziale Interventionen“.
Auf der Suche nach neuen Räumen der Gemeinschaft im städtischen und digitalen Raum.
Jan Phillip Ley und Theresa Muhl im Gespräch mit Anita Thanhofer
. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten
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