Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft
Ivana Pilić und Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.): Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien. Transcript, Bielefeld 2021
‚Thinking in Practice‘ ist einer der Grundsätze, die die Arbeit der Brunnenpassage Wien seit ihrer Gründung im Jahr 2007 als transkulturelles Labor und Ort partizipativer Kunstproduktion prägen, um in einer diversen Gesellschaft neue ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen. Diesem Leitsatz folgen auch die Herausgeberinnen Ivana Pilić und Anne Wiederhold-Daryanavard in ihrem Handbuch Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien, das bereits 2015 publiziert und nun im Frühjahr 2021 in zweiter, überarbeiteter und erweiterter Ausgabe neu erschienen ist. Das sehr fundierte, kritische und praxisnahe Handbuch dient als konkreter Leitfaden für Kunst- und Kulturinstitutionen und als Reflexionsmedium einer Gesellschaft, die sich selbst als divers und transkulturell erkennen – und dies auch in ihren künstlerischen Zugängen und Ausprägungen verankern muss. Gleichzeitig dient es mit seiner farbenfrohen Bebilderung, den Zitationen und Verweisen auch als Katalog der Brunnenpassage, der auch für eine fachfremde Leser:innenschaft zugänglich ist und Einblicke in die Kunstproduktionen und Veranstaltungen des Hauses gewährt.
Es versucht einen projektbezogenen Einblick in die Strukturen der Brunnenpassage zu geben und das Prinzip „Kunst und Kultur für alle“ anhand konkreter Handlungsstrategien zu reflektieren. Dabei sollen sowohl das Bewusstsein geschärft wie auch die Arbeitsweisen der eigenen Institution und darüber hinaus transformiert werden. Das bedeutet für die Herausgeberinnen zunächst, sich den gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu stellen und sich für eine Anerkennung der heterogenen Stadtgesellschaft stark zu machen. Das heißt auch, nicht nur kommerziell zu agieren, sondern die Zugänglichkeit und Barrierefreiheit in den Fokus zu stellen und die unmittelbare Teilhabe der Nachbar:innen in ihrer je eigenen Kontextualität und (kulturellen) Diversität zu fördern.
In einer immer konservativeren Politik- und Kulturlandschaft stellt die Brunnenpassage einen Ort der Teilhabe dar, der als Vorbild und Novum im österreichischen Kontext gesehen werden kann. Schon in der Einleitung erläutern die Herausgeberinnen die Politik(en) dieser auch politisch motivierten Institution und definieren ihre Arbeitsweisen und Methoden. Transkulturalität und Transdisziplinarität, Partizipation und Teilhabe sind dabei Konzepte, mit denen ihnen zufolge ein hybrides und damit auch – nach Homi K. Bhabha – ein dekoloniales Kuratieren in einer (post)migrantischen Gesellschaft funktionieren kann und vor deren Hintergrund zeitgenössische Kunstproduktionen als ästhetische Spiegelungen der heterogenen Gesellschaft verstanden werden können.
Das Handbuch ist in die vier thematischen Bereiche Thinking in Practice, Transformative Practice, Navigating Change und Promising Practice unterteilt, wobei die ersten drei in die Kontextualisierung und das künstlerische Konzept der Brunnenpassage einführen, das Prinzip ihrer strategischen Partner:innenschaften erläutern und Impulse für die Kulturpolitik liefern. Das vierte Kapitel stellt die Brunnenpassage anhand ihrer Projekte vor und erläutert in elf unterschiedlichen Beispielen ihre konkreten transkulturellen Handlungsstrategien. Neben künstlerischen Produktionen werden hier auch Projekte vorgestellt, die sich der Nachbarschaftsidee und der Öffnung hin zu neuen Dialoggruppen widmen: Das alljährliche Straßenfest am Brunnenmarkt oder das allmonatliche Frühstück in der Brunnenpassage sind Rituale, welche das Publikum erweitern und für eine diskriminierungs- und barrierefreie Zugänglichkeit sorgen.
Dabei wird ein besonderer Fokus auf das Prinzip der Mehrsprachigkeit gelegt: Sowohl auf Ebene des Teams wie auch auf Seiten der Künstler:innenschaft, im Marketing und auch bei Bewerbungsverfahren für ausgeschriebene Projekte sollen die Sprachbarrieren zugunsten einer Vielfalt und Offenheit reduziert werden. Ziel ist, ein genreübergreifendes, intergenerationales und transkulturelles Publikum zu generieren, das auch durch strategische und nachhaltige Kooperationen aufgebaut werden soll. Durch gezielte Kooperationspartner:innen können außerdem Ressourcen geteilt und Infrastrukturen errichtet und erweitert werden.
Die Dialoggruppe ist hier ein wichtiger Begriff, den das Handbuch immer wieder aufgreift und der auch mit dem Prinzip des ‚story telling‘ verknüpft wird: Mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und sich gegenseitig die eigenen Geschichten zu erzählen ist Basis einer ästhetischen Aushandlung innerhalb einer diversen Gesellschaft. Das zeigt sich auch in den Projekten der Brunnenpassage: Sharing Stories. Dinge Sprechen (2014-2019) oder Not a Single Story. Kollektives Tagebuch (2016-2019) sind nur zwei von vielen Beispielen, die sich auf Grundlage gemeinsamer Kommunikationsformen einer kollektiven sozialen Praxis verschreiben, die sich auch in kuratorischen und künstlerischen Fragestellungen der Brunnenpassage widerspiegeln. Das Teilen von Geschichten bedeutet nicht zuletzt, sich gegenseitig eine Stimme zu geben und Raum für anderes zu öffnen.
In diesem Sinne dient das Handbuch nicht nur als Lektüre und als Leitfaden, sondern auch als ein multimediales Archiv, in welchem die Mitwirkenden in Form von Zitaten, in Bildern sowie durch QR-Codes (die auf Videos verweisen) zu Wort kommen und sichtbar gemacht werden. Mit seiner klaren Struktur und fundierten Sprache ist es aber auch ein wichtiger Beitrag sowohl für den Kulturbetrieb als auch für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Diskurs der Transkulturalität und bietet eine Möglichkeit, die Erkenntnisse und Erfahrungen, die aus der Arbeit hervorgehen, weiterzugeben.
Mit ihrer Publikation Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft leisten die Herausgeberinnen einen wichtigen politischen, sozialen und praxisnahen Beitrag für Kulturschaffende und Partizipierende und gewähren Einblicke in Kunstpraxen, die den Menschen in ihrer Vielheit gerecht werden und dementsprechend zukunftsweisend für Kultureinrichtungen und darüber hinaus sind.
Gwendolin Lehnerer ( 2021): Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/kunstpraxis-in-der-migrationsgesellschaft/