Gerechtigkeit im Kulturbetrieb braucht Gerechtigkeit in der Gesellschaft als Grundlage
Djordje Čenić im Gespräch mit Anita Moser
„Ich habe immer schon an der Geschichte meines Lebens gearbeitet“, sagt der in Salzburg lebende Filmemacher, Historiker und Musiker Djordje Čenić. Seine Erfahrungen als Migrant:innen- und Arbeiter:innenkind in Österreich sind zentraler Motor seiner künstlerischen Arbeit. Sie haben seine Perspektive auf Diversität und strukturelle Ungleichheit grundlegend geprägt, ebenso sein diesbezügliches Engagement, das er auch im D/Arts-Netzwerk ausübt. Im Gespräch mit Anita Moser erzählt Djordje Čenić über seine filmische Arbeit, seine Beobachtungen in Bezug auf Diversität in Salzburgs Kulturlandschaft und in welcher Rolle er dabei das Studio West sieht. Für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und im Kulturbetrieb komme man nicht umhin, das österreichische Bildungssystem zu überdenken, so sein Plädoyer.
Du bist in Salzburg als Filmemacher und Musiker tätig. Wie war dein Weg zum Beruf des Künstlers?
Ich bin ein Gastarbeiterkind und 1975 in Linz auf die Welt gekommen. Meine Eltern kamen im Laufe der ersten Hälfte der 1970er Jahre nach Linz und mein Vater begann damals als Schlosser in der VOEST, den größten Stahlwerken Österreichs, zu arbeiten. Meine Mutter fing 1975/76 als Schneiderin in der damaligen Firma Sembella Linz, einer großen Matratzenschneiderei, zu arbeiten an. Ich habe eine klassische Schulkarriere – Volksschule, Gymnasium – hinter mich gebracht. Ob sie allerdings so klassisch war, ist bei einem Ausländer:innenkind natürlich die Frage. In der Volksschule bin ich teilweise mit ärmeren Kindern in die Klasse gegangen, aber auch mit ‚rich kids‘ aus den Einfamilienhaussiedlungen.
Damals merkte ich schon, dass es große Unterschiede gibt: Das waren völlig andere Leben und Strukturen, eigentlich Parallelwelten, in denen wir uns befanden, und trotzdem konnten wir uns treffen, verständigen und anfreunden. Im Gymnasium ging ich mit ‚Jugokindern‘ in die Schule. Am Ende war ich der Einzige von uns, der das Gymnasium abgeschlossen hat. Schließlich bin ich auf der Geschichtswissenschaft in Salzburg gelandet und habe mein Diplomstudium als Historiker abgeschlossen.
Im Rahmen meiner Ausbildung zum Historiker hatte ich die Möglichkeit, den Video History-Kurs von Albert Lichtblau und Alois Pluschkowitz, eine Kooperation von Geschichts- und Kommunikationswissenschaft, zu belegen. In dem zweisemestrigen Kurs bekommt man in aller Kürze Theorie und Praxis des Dokumentarfilms vermittelt. Mit Albert Lichtblau hatte ich während des Studiums immer wieder zu tun, weil ich mich auf Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Nationalsozialismus spezialisierte. Unsere Interessen und Forschungsschwerpunkte haben sich sehr überschnitten. Während des Schreibens der Diplomarbeit fasste ich den Entschluss, Zivildienst zu machen – das heißt, ich war dann irgendwann österreichischer Staatsbürger – und leistete diesen im Rahmen des sogenannten Gedenkdienstes in Moskau ab. Es war eine sehr interessante und fordernde Aufgabe: Moskau, dieser irre Moloch, war nicht einfach. Russland als Land war nicht einfach. Mein damaliger Vorgesetzter Ilja Altman, eine Ikone der Holocaust-Forschung, war nicht einfach. Wir hatten leider große Probleme miteinander. Ich habe aber – auch von ihm – sehr viel gelernt und mitnehmen können.
Zurück aus Moskau realisierte ich 2003 meinen ersten Dokumentarfilm Romski Bal – Low-Budget mit ungefähr 2.000 Euro, die wir zur Verfügung hatten. Es geht darin um das größte Blasmusikfestival in Serbien – eine Veranstaltung, die von Roma-Orchestern getragen wird. Sie sprechen dort selbst von den „schwarzen Orchestern“, das sind die Roma-Orchester aus dem Süden Serbiens, und den „weißen Orchestern“, das sind die „serbischen Orchester“ aus Mittel- und Nordserbien. Der damalige Kameramann ist ein Kollege, mit dem ich immer noch sehr viel zusammenarbeite. Der Film wurde auf ein paar Festivals gezeigt und war ein guter Einstieg in das Thema Dokumentarfilm.
„Diese meine Geschichte, diese Geschichte meiner Familie im Zeichen der Migration, ist mir unglaublich wichtig und ich will sie erzählen und unter die Leute bringen.“
Was ist dir in deiner künstlerischen Arbeit besonders wichtig?
Ich habe immer schon an der Geschichte meines Lebens gearbeitet. Von Anfang an habe ich gemerkt, dass etwas anders ist bei mir. Das waren meine Herkunft und die damit verbundene soziale Klasse. Je älter ich wurde, desto wichtiger wurde es mir, das zu kommunizieren.
Von der ersten Klasse Volksschule bis einschließlich der ersten Klasse Gymnasium bin ich mehrere Stunden in der Woche in den muttersprachlichen Zusatzunterricht gegangen. Dabei ging es weniger um Sprachvermittlung als darum, uns im Sinne des Titoismus zu indoktrinieren. Für mich spannend und verwirrend war, dass im damaligen Jugoslawien von der Arbeiter:innen-Selbstverwaltung geredet wurde, und wir in Linz in Elendsquartieren auf der Wiener Straße, umgeben von Schimmel und Mäusen und ohne WC und Bad – also in wirklich prekären Verhältnissen – lebten. Wie kann es sein, dass es in einem Land wie Österreich so völlig ungleiche Schichten und unterschiedliche Lebenskonzepte parallel zueinander gibt? Diese Frage hat mich schon immer eher fasziniert als traurig gemacht.
Der 2016 herausgekommene Film Unten beschreibt am besten meine Tätigkeit als Dokumentarfilmer. Gemeinsam mit dem Kollegen Hermann Peseckas, dem bekanntesten unabhängigen Filmemacher aus Salzburg, fing ich 2009 an, an dem Buch zu dem Film zu schreiben. Als wir den Film schließlich 2016 herausbrachten, hatten wir damit – für mich relativ überraschend – großen Erfolg. Ich wusste nicht, wen dieser Film interessiert, wie er beim Publikum ankommt. Ich hatte wenig Selbstbewusstsein in diese Richtung, aber die Zweifel haben sich zerstreut, als wir zu zahlreichen Festivals eingeladen wurden und dort auch sehr schöne Preise gewonnen haben.
30 Jahre vor dem Film Unten gab es einen Film von Goran Rebić, in dem er die Geschichte seines Vaters, ebenfalls ein Gastarbeiter, aber aus Serbien – wir hingegen sind Serb:innen aus Kroatien – verarbeitet hat. Aus der Perspektive von ‚Betroffenen‘ gab es sonst nicht viel. Natürlich wurde irgendwann auch in Österreich begonnen, die Geschichte der Gastarbeiter:innen wissenschaftlich aufzuarbeiten. Aber in einem unabhängigen künstlerischen Rahmen gab es in Österreich nichts bis 2016, als wir dieses mehr oder weniger dokumentarfilmische Standardwerk schufen. Das ist auch der Grund, dass sehr viel Nachfrage bestand, der Film erfolgreich war und viele Leute ins Kino gegangen sind. Ich werde immer noch von verschiedenen NGOs und Kultureinrichtungen angesprochen, Unten zu zeigen. Diese Anerkennung hat mich sehr positiv gestimmt.
Ich arbeite jetzt an derselben Geschichte – es ist aber keine Fortsetzung, sondern die gleiche Geschichte anders erzählt. In Unten habe ich das Publikum an der Hand genommen und mit einer Kommentarstimme alles genau erzählt. Es war mir sehr wichtig, mich zu erklären. Mittlerweile habe ich mich weiterentwickelt, künstlerisch und filmisch. Der damalige video-history-like-Ansatz war gut und auch wichtig. Jetzt ist mein Anspruch ein anderer. Ich will dieselbe Geschichte erzählen, ich will dieselbe Geschichte nur anders erzählen. Was mir dabei auffällt: Diese meine Geschichte, diese Geschichte meiner Familie im Zeichen der Migration, ist mir unglaublich wichtig und ich will sie erzählen und unter die Leute bringen. Wenn alles gut geht, werde ich 2022 zu produzieren anfangen. Der Arbeitstitel ist Unten 2. Schauen wir mal, was dabei herauskommt. Das weiß man bei Dokumentarfilmen oft nicht.
„Als Arbeiter:innenkind, als Migrant:innenkind hat man es in Österreich sehr schwer. Wir reden da von Rassismen, von Klassismus, natürlich auch von Sexismus.“
Du bist auch in D/Arts involviert. Warum ist dieser Zusammenschluss wichtig und was kann er bewirken – im Kulturbereich und darüber hinaus?
Ich finde, dass sich die Gesellschaft – ich rede von Österreich – im Kunst- und Kulturbereich so abbilden sollte, wie sie in realitas ist. Das passiert noch nicht. Jede Initiative ist wichtig, die für Gerechtigkeit in diesem Bereich sorgt. Als Arbeiter:innenkind, als Migrant:innenkind hat man es in Österreich sehr schwer. Wir reden da von Rassismen, von Klassismus, natürlich auch von Sexismus. Es ist schwierig, in gewisse Bereiche reinzukommen – zum Beispiel in die Forschung, in die Lehre, auf die Universitäten. Ich bin vielleicht ein Role Model dafür, wie man es schaffen kann, im Kunstbetrieb Fuß zu fassen und Anerkennung zu bekommen.
D/Arts finde ich gut, weil es ein von Beginn an durchdachtes, gutes Konzept hat, das unter anderem in den Veranstaltungen sehr viele Künstler und Künstlerinnen einschließt. Natürlich ist das nur ein Anfang. Wir müssen schauen, dass das Thema Diversität im Kultur- und Kunstbereich eine breite Aufmerksamkeit bekommt. Man muss vermeiden, nur in der eigenen Bubble zu bleiben. Das kenne ich auch aus der Praxis: Wenn wir im Studio West in Salzburg, einer Vereinigung unabhängiger FilmemacherInnen, wo ich Vereinsobmann bin, Filme zeigen, merke ich immer wieder, dass zwar hundert Leute zu einer Veranstaltung kommen, aber es sind hundert Leute, die ich beim Namen kenne. Diesen Menschen brauche ich eigentlich nicht erzählen, wieso Gerechtigkeit, humanistische Leitbilder, ein vorurteilsfreies Leben wichtig sind.
Wichtig ist, diese Themen Menschen näherzubringen, die interessiert sind, sich aber bei gewissen Fragen vielleicht nicht auskennen oder damit wenig anfangen können, das heißt, mit diesen Menschen zu diskutieren, sie an der Hand zu nehmen, zum Diskurs einzuladen. D/Arts ist eine Initiative, die ich gern unterstütze, weil ich glaube, dass sie diesen Ansatz in sich trägt.
Was verstehst du unter dem Begriff der Diversität. Gibt es bestimmte Konzepte oder theoretische Bezüge, auf die du zurückgreifst?
Nein, ich bin beim Thema Diversität weniger Theoretiker, sondern Praktiker. Mir ist es in meinem Leben sehr oft begegnet, dass ich abgestempelt wurde – und das tut oft weh. Das passiert überall, bei Freunden, Freundinnen, in der Schule, in der Arbeit. Mein Ansatz war immer: Ich ärgere mich nicht, sondern thematisiere das sofort und spreche die Menschen darauf an: „Das ist nicht okay, was du machst.“
Was tut man aber als 14-Jähriger, der in Österreich aufgewachsen ist, wenn einem die Lehrerin sagt, du wirst in Deutsch nie eine 1 bekommen, weil das nicht deine Muttersprache ist? Da kann man eigentlich nichts darauf sagen. Aber solche Erfahrungen haben mich zu dem gemacht, der ich bin, der sieht, dass es diese Diversität in der Gesellschaft gibt, aber dass man für ihre Anerkennung kämpfen muss, dass man alles dafür tun muss, andere Menschen mit ähnlichen Erfahrungen mitzunehmen und gerechte Bedingungen zu schaffen. Es muss nicht jede ‚Ausländerin‘ eine Künstlerin oder eine Kulturschaffende werden. Mir aber war es immer wichtig, ihre Geschichten darzustellen.
Kannst du dazu noch Beispiele nennen?
Wir hatten im Studio West die schöne Reihe Salzburg globale Stadt, in der wir Porträts über Menschen gemacht haben, die nicht in Österreich oder Salzburg geboren sind, hier aber schon lange Zeit leben, ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind, aber kaum Aufmerksamkeit bekommen. Wir haben diese Menschen integriert und Videoporträts über sie gemacht – zuerst in Salzburg Stadt, dann auch in Salzburg Land. Das war richtig schön, weil wir damit ein breiteres Publikum ansprechen und aus unserer Bubble rauskommen konnten. Bei den Veranstaltungen waren nicht die üblichen Studio-West-Besucher:innen, sondern zum Beispiel auch die Arbeitskolleg:innen unserer Protagonist:innen.
Das Konzept der globalen Stadt gibt es in ganz Europa. Dabei werden oft Role Models oder ‚erfolgreiche Ausländer:innen‘ porträtiert. Mein Ansatz war aber, alltägliche Menschen zu zeigen. Ich habe von der Schneiderin, zu der ich immer meine und die Sachen der ganzen Familie bringe und mit der ich gerne plaudere, ein Porträt gemacht. Es war interessant, dass ihre Kund:innen auf einmal bei unseren Studio-West-Veranstaltungen erschienen sind, teilweise zum ersten Mal etwas von Diversität gehört haben und wieso es wichtig ist, nicht in Österreich geborenen Menschen den Raum zu geben, den autochthone Österreicher:innen auch haben. Da ergaben sich spannende Diskussionen.
So kann ich – wenn es um Diversität geht – mit meinen Möglichkeiten und in dem Rahmen, den wir als Studio West bieten können, einen Beitrag leisten. Ich habe das Gefühl, dass sich die Gesellschaft öffnet, nicht zuletzt durch Initiativen wie D/Arts. In Wien gibt es diesbezüglich sicher mehr, in Salzburg weniger – aber wir im Studio West arbeiten daran und schauen, dass wir dieses Thema in die Stadt und ins Land bringen.
Und noch ein anderes Beispiel: Als ich ins Studio West gekommen bin, war Gendern ein Fremdwort. Es waren – man muss es so sagen – die weißen Männer, die dort saßen und sich nie mit dem Thema auseinandergesetzt hatten. Nachdem ich einen großen Teil des Schriftverkehrs übernommen hatte und irgendwann alles über mich lief, habe ich immer gegendert und Texte entsprechend korrigiert, die ich von außerhalb oder von meinen Kollegen – viele Kolleginnen hatten wir im Studio West nie – bekam. Mit der Zeit haben sie gemerkt, dass es etwas bringt, Menschen nicht nur mitzumeinen, sondern wirklich anzusprechen. Mittlerweile wird gegendert mit Gendersternchen oder anderen Möglichkeiten, die es gibt. Das ist ein schöner Erfolg, finde ich. Das ist nicht von heute auf morgen gegangen, aber im Laufe der Jahre konnte ich da etwas bewirken – und es ist spannend zu beobachten, dass man etwas bewirken kann.
Das stimmt mich positiv und darum bin ich gerne bei Projekten dabei, bei denen es nicht nur um die inhaltliche, sondern auch um die formale Ebene geht, also zum Beispiel um die Frage, an wen man sich mit einem Projekt richtet, wen man mitnimmt, wen man mitnehmen muss und auch wer nicht mitdarf. Darüber muss man nämlich auch reden: Wen wollen wir nicht dabeihaben? Ich merke immer wieder, wie viele Menschen es noch gibt, die sehr ‚anti Diversität‘ sind. Erschreckend eigentlich. Der Kampf ist erst am Anfang, das wird noch ein langer, langer, langer Weg, aber es tut sich was und das ist gut.
„Man muss schon sehr im Underground unterwegs sein, um diverse Geschichten mitzuerleben, oder man schreibt sie selbst.“
Du hast Salzburg angesprochen. Kannst du deine Wahrnehmung in Bezug auf Diversität in Salzburgs Kultureinrichtungen konkretisieren?
Du kennst die Rolle Salzburgs in der Hochkultur: Salzburg atmet Hochkultur, Salzburg ist Hochkultur. Diese ist wie eine Art Fassade, von der sehr viele Leute sehr gut leben, vor allem auch Kultureinrichtungen. Aber sehr viele Kultureinrichtungen leben durch die Festspiele wahrscheinlich nicht so gut, weil ein großer Teil der Ressourcen in diesen Bereich fließt.
In Bezug auf Diversität tut sich wenig. Salzburg ist noch immer in einem Dornröschenschlaf, es ist klein, es ist provinziell. Man muss schon sehr im Underground unterwegs sein, um diverse Geschichten mitzuerleben, oder man schreibt sie selbst. Man muss tief graben, um auf diese spannenden Geschichten zu stoßen, um die Menschen hinter diesen Geschichten kennenzulernen. Wenn man diesen Weg beharrlich geht, Interesse daran zeigt, kommt man darauf, dass es diese in Salzburg sehr wohl auch gibt. Aber ich würde es mir in einem größeren Umfang wünschen. Daran muss man arbeiten.
Darum finde ich es eine gute Idee, in Salzburg eine D/Arts-Veranstaltung und -Vernetzung anzugehen. Ich glaube auch, dass die Lehrveranstaltung bei Wissenschaft und Kunst von Ivana (Pilić, Anm.) und mir diesbezüglich einen Beitrag leisten kann. Es ist wichtig, Brücken zu bauen und zu schauen, dass man über diese Brücken auch gehen kann. Abhängig von dem Hintergrund, den die Studierenden mitbringen, wird es spannend sein, sie bekanntzumachen mit dieser ‚anderen‘ Welt, von der wir sprechen.
Das denke ich auch. Ähnlich wie der Kulturbetrieb sind die Universitäten ein recht abgeschlossener, wenig diverser Bereich. Mit meiner Geschichte als Arbeiter:innenkind und Quereinsteigerin, die spät auf die Universität kam, hatte ich immer wieder das Gefühl, ‚nicht hierher zu gehören‘.
Ich weiß genau, wovon du sprichst. Dieses Ich-gehöre-da-nicht-her hat auch etwas mit Selbstverständnis zu tun. Es ist etwas anderes, wenn man in einer bildungsbürgerlichen Familie geboren wurde, von Anfang gefördert wird und ‚eingeimpft‘ bekommt: „Dieser Platz in der Gesellschaft steht dir zu. Es ist alles möglich, Kind!“ Es muss nicht kämpfen – um die erste Gitarre oder das Studium oder was auch immer.
„Mein Ansatz war jedenfalls immer, nie die große Anklage zu produzieren, nie weinerlich zu werden.“
Als Filmemacher beschäftigst du dich mit dem Sichtbarmachen – von Geschichten, Menschen, Ereignissen … Wie siehst du das Verhältnis von Sichtbarkeit, Repräsentation und Entscheidungsmacht?
Ich wollte in meiner Arbeit immer möglichst unabhängig bleiben, meine eigenen Entscheidungen treffen und mir nicht reinreden lassen. Ein großes Problem bei vielen Projekten ist, dass man eine gute Idee hat, sich aber nicht um die Finanzierung kümmern will und diese in eine Produktionsfirma auslagert. Dann fängt die Produktionsfirma an mitzureden und ihren Film zu machen und nicht mehr deinen. Bei Filmschaffenden ist das ein großes Problem. Darum habe ich mich bei Unten dazu entschieden, die Rechte nicht an eine Produktionsfirma zu verkaufen, sondern alles selbst zu machen, was natürlich mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden ist. Man muss schauen, wie man an Gelder kommt und es sind viele Nachtschichten, die man mit Konzepten und vor allem mit Finanzierungsplänen verbringt.
Eine grundlegende Frage ist, wie gelingt es mir, in eine Position zu kommen, in der ich entscheiden kann, in welche Richtung mein Kunstwerk geht. Das hängt wieder mit dem Thema Selbstverständnis und Selbstbewusstsein zusammen. Traue ich mir zu, bestimmte Themen anzusprechen? Weiß ich, wohin diese Themen führen? Interessieren sie irgendjemanden? Besteht nicht das Risiko – wie in meinem Fall, wenn ich die Geschichte einer Gastarbeiter:innenfamilie aus Jugoslawien sichtbar mache –, dass das Publikum sagt: „Nette Geschichte, aber es gibt viele solche Geschichten und so schlimm war‘s eh nicht. Seid froh und dankbar, dass wir euch aufgenommen haben, begnügt euch mit dem, was ihr habt, und nehmt unseren Künstlern und Künstlerinnen nicht die Arbeit weg, ihr habt uns schon die Jobs im Niedriglohnsektor weggenommen.“ Ich scherze jetzt und überspitze das alles.
Mein Ansatz war jedenfalls immer, nie die große Anklage zu produzieren, nie weinerlich zu werden. Das Publikum sieht lieber Filme, die einen zum Schmunzeln bringen, die einen zum Lachen bringen, die einen zum Nachdenken bringen, als solche, die angreifen. Vielleicht bin ich damit den einfacheren Weg gegangen, weil man sich mit einem eher lustigen Zugang weniger rechtfertigen muss, und vielleicht nehme ich jetzt in Unten 2 den angriffigeren, brutaleren, direkteren Weg.
„Die einzige Möglichkeit für Gerechtigkeit im Kulturbetrieb zu sorgen, ist, Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu schaffen.“
Welche Maßnahmen sind deiner Meinung nach am wichtigsten, um im Kulturbetrieb Veränderungen in Richtung mehr Gerechtigkeit und Diversität in Gang zu setzen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde vorschlagen, beim Bildungssystem anzusetzen und dafür zu sorgen, dass wir selbstbewusste, selbständig denkende Kinder und Jugendliche in die Welt schicken, die sich voneinander nicht so sehr unterscheiden, wie es jetzt der Fall ist. Die einzige Möglichkeit, für Gerechtigkeit im Kulturbetrieb zu sorgen, ist, Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu schaffen. Ich glaube nicht, dass es anders gehen wird.
Wir müssen unser Bildungssystem überdenken und können dadurch hoffentlich einen Wandel in der Gesellschaft hervorrufen. Die Gesamtschule wäre ein Anfang, aber eben auch nur ein Anfang. Es gibt große Ängste, wenn zum Beispiel Flüchtlingskinder in den allgemeinen Klassen sind und nicht extra unterrichtet oder in die Sonderschule geschickt werden. Trotzdem ist es der richtige Weg. Und es gibt Vorbilder! Zum Beispiel Konzepte aus Schweden, wo es mittlerweile ein völlig anderes Schulsystem gibt. Dort bemüht man sich darum, die vermeintlich Schwächsten, die nicht in Schweden geboren wurden und nicht dieselben Startvorteile wie schwedische Kinder haben, mitzunehmen, aber auch die ‚Einheimischen‘, die fürchten, dass „unsere Kinder in so gemischten Klassen nichts lernen“, und die andere diskriminieren.
Schweden fehlt es nicht an Exzellenz in verschiedensten Bereichen – Kunst, Kultur, im universitären Bereich, in der Forschung –, obwohl dort den Noten abgeschworen wurde und Flüchtlingskinder oder ‚Ausländerkinder‘ in dieselbe Klasse gehen wie die schwedischen Kinder. Oft kommt das Argument der ‚Ausländerkriminalität‘ in Malmö. Dabei geht es aber nicht um ‚Ausländer‘, sondern um soziale Klassen, um Menschen, die keine anderen Möglichkeiten haben, zu Geld zu kommen, als Drogen zu verkaufen. Diese wird es immer geben, und wenn es nicht die Jugos oder die Afghanen oder wer auch immer sind, dann werden es die Schweden sein. Du brauchst diese ‚Reservearmee‘ des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist natürlich zu überdenken. Es ist leider schwierig, das Gute im Schlechten zu leben.
Wie schon gesagt, alle Initiativen für mehr Diversität im Kulturbereich sind vorerst gut. Aber im Großen und Ganzen werden wir unsere Ziele breiter, größer machen müssen, träumen und nach den Sternen greifen müssen, sonst wird sich nichts ändern. Dafür sitzt die Klasse, die jetzt an der Macht ist, zu bequem in ihren Sesseln.
Wie nimmst du die Diskussionen über Klasse und soziale Herkunft in Bezug auf Diversität in Kultureinrichtungen wahr? Spielt Klassismus darin eine Rolle?
Immer mehr. Ob der Begriff des Klassismus, der auf universitärer Ebene stark diskutiert wird, im Kulturbetrieb schon Fuß gefasst hat, wage ich aber zu bezweifeln. Das hängt auch wieder von den Akteuren und Akteurinnen ab und davon, wie sensibilisiert sie für das Thema sind.
Wo muss man konkret in einzelnen Institutionen – wie dem Landestheater oder Das Kino – ansetzen, um beispielsweise ein diverseres Publikum zu erreichen?
Thematisch, indem zum Beispiel – ich rede jetzt von meiner ‚Jugo‘-Bubble – jugoslawische Filmabende gemacht werden. Türkische Filmabende, Flüchtlingsfilmabende. Das Kino bietet sehr viel in diese Richtung und ist wirklich ein Lichtblick für die Kulturlandschaft in Salzburg, wo es nicht so viele Lichtblicke gibt.
Das Studio West zeigt die meisten Filme im Das Kino, und wenn wir Filme über Türk:innen, Afghan:innen zeigen, kommen diese auch und lernen Das Kino kennen. Wenn man die Menschen von Anfang an einbezieht und mitnimmt, dann gehen sie auch ins Kino. Sonst wäre meine Freundin, die türkische Schneiderin, wahrscheinlich eher nicht in Das Kino gekommen.
Auch gratis Eintritte können zu mehr Diversität beitragen, weil die Kosten für viele oft eine Zugangsschwelle zu Kunst und Kultur sind. Wichtig ist auch, mit Kindern ins Kino zu gehen, ihnen das Gefühl zu geben, dass ihre Kultur wertvoll ist. Dabei gehe ich von mir aus, weil ich so viel Negatives erlebt habe. Das Schönste ist für mich immer, wenn mir jemand das Gefühl gibt, meine Herkunftskultur zu kennen und zu schätzen – also wenn jemand zum Beispiel weiß, dass Ivo Andrić aus dem ehemaligen Jugoslawien ist und den Nobelpreis gewonnen hat – und wir nicht nur als diejenigen gesehen werden, die, sehr überspitzt gesagt, für die Österreicher:innen die Klos putzen.
Was bräuchte es in Bezug auf die in den Institutionen arbeitenden Akteuer:innen, die Leitung, die Mitarbeiter:innen?
Vorurteilsfrei und interessiert durchs Leben gehen und proaktiv gewisse Themen und Inhalte mit reinnehmen. Ich weiß nicht, ob man da mit Quoten etwas machen könnte. Meiner Erfahrung nach sind im Kulturbereich sehr viele Menschen, die von Haus aus offener sind als der Mainstream und mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenzuarbeiten.
Und im Bereich der Kulturpolitik?
Es bewerben sich viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund oder mit einem diversen Hintergrund um Förderungen. Natürlich sind es dann insgesamt weniger Menschen, die diese Gelder bekommen. Da bräuchte es mehr Informationen und Unterstützung. Auch wenn es in den Jurys Menschen geben würde, die Geschichten von Migrant:innen kennen und verstehen, würde das seinen Unterschied machen. Ich habe selten eine Jury erlebt – mir fällt im Filmbereich oder bei der Vergabe von Stipendien eigentlich gar keine ein – wo jemand mit migrantischem Hintergrund drin gewesen wäre. Wir bräuchten eine diversere Durchmischung der Gremien. Wird daran eigentlich gearbeitet?
Im Rahmen des seit Herbst 2020 auf Bundesebene laufenden ‚Fairness Prozess‘, in den auch die Kulturlandesrät:innen der Bundesländer und Interessenvertretungen involviert sind, ist Diversität ein Thema und beispielsweise im Zwischenbericht konkret festgehalten, dass die künstlerische und kulturelle Arbeit marginalisierter Gruppen in Zukunft mehr in den kulturpolitischen Fokus rücken soll, ebenso, dass Auswahlgremien die Diversität der Beteiligten als Kriterium bei der Bewertung berücksichtigen sollen.
Fallen dir gute Beispiele von Kultureinrichtungen, Initiativen aus dem Filmsektor oder einem anderen Bereich – in Österreich oder auch darüber hinaus – ein, an denen sich Veranstalter:innen orientieren könnten?
Zum Beispiel die Brunnenpassage in Wien. Sie ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie man Kultur und Kunst mit den Menschen vor Ort leben kann. Das Angebot der Brunnenpassage an die Bewohner:innen vom 16. Bezirk ist großartig. Dort kommen Menschen mit Kultur und Kunst in Verbindung, die sonst überhaupt keine Möglichkeit haben, so ein Angebot in Anspruch zu nehmen, geschweige denn selbst als Künstler oder Kulturschaffende aktiv zu werden. So eine Einrichtung fehlt in Salzburg, denke ich.
Reicht eine Brunnenpassage?
Jeder Stadtteil bräuchte eigentlich so eine Einrichtung, das wäre nur fair, um einen Ausgleich im Kulturbetrieb zu schaffen. Ich habe mein ganzes Leben darum gekämpft, dass ich es mir irgendwie leisten kann, Kunst zu machen. Wir stellen uns die Frage, wie es sich als Künstler:in lebt, wenn man beispielsweise keine Eigentumswohnung hat, nichts geerbt hat oder keine Unterstützung durch eine/n Partner:in hat.
Menschen zu porträtieren, die in einer ähnlichen Lage sind, ist unser nächstes Projekt im Studio West: In Schräge Vögel, arme Schweine geht es um Künstler und Künstlerinnen im Prekariat bzw. um solche, die aus dem Prekariat kommen und trotzdem Kunst schaffen und von ihrer Kunst leben können. Das sind spannende Geschichten und hängen natürlich mit Klassismus zusammen.
Nächstes Jahr werden wir auch gezielt etwas über Kulturförderungen im Filmbereich anbieten. Das ist ein riesiges Thema für junge Filmemacher und Filmemacherinnen, denn sehr viele werden von den Hürden abgeschreckt. Aber es ist gut, dass es in Österreich überhaupt noch eine Filmförderung gibt, in vielen europäischen Ländern ist das in dieser Form nicht mehr der Fall. Im Rahmen unserer Schule des Dokumentarfilms im Studio West versuchen wir den Leuten, nachdem sie ihr erstes Projekt, ihren ersten Film, ihre erste Kurzdoku gemacht haben, zu vermitteln, was der nächste Schritt sein könnte, zum Beispiel für ein nächstes Filmprojekt um eine Förderung bei der Stadt Salzburg oder beim Land Salzburg anzusuchen. Es gibt Leute, die wir dadurch beim Einwerben von Förderungen bereits unterstützen konnten.
Dabei geht es einfach auch darum, sie dabei zu unterstützen, ihre Ideen verwirklichen zu können. In Wirklichkeit geht es um die Träume. Es ist ja oft ein Traum, Künstler oder Künstlerin zu sein. Aber wann ist der Zeitpunkt, wo man sagen kann, ich bin Künstlerin, ich bin Künstler? Sich so nennen zu können, sich das zugestehen zu können und das nötige Selbstbewusstsein dafür zu haben, ist ein wichtiger Punkt. Aber wenn jemand von Anfang an – oft auch aus Kunstfeindlichkeit, Bildungs- und Wissenschaftsfeindlichkeit – gesagt bekommt, das, was du machst, ist nichts wert, ist es natürlich viel schwieriger. Man kann daran verzweifeln oder daran arbeiten, unsere Gesellschaft gerechter zu machen.
Djordje Čenić, Anita Moser ( 2022): Gerechtigkeit im Kulturbetrieb braucht Gerechtigkeit in der Gesellschaft als Grundlage. Djordje Čenić im Gespräch mit Anita Moser. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/gerechtigkeit-im-kulturbetrieb/