„Wenn sie sagen: ‚Ja kaufen‘, dann sagen wir: ‚Nein, nachdenken bitte‘ …“
Ein Interview von Elke Zobl und Laila Huber mit migrantas / Florencia Young und Marula di Como
Die Künstlerin Marula Di Como und die Grafikerin Florencia Young, Mitbegründerinnen des Kollektivs „migrantas“ waren mit dem Workshop „Piktogramme im Stadtraum: Anerkennung & Sichtbarkeit“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Künstlerische Interventionen. Kollaborative und selbstorganisierte Praxen. Fokus: Antirassistische und feministische Perspektiven“ zu Gast. Im Interview mit Elke Zobl und Laila Huber sprachen sie über die eigene Migrationserfahrung als Motivation zur Gründung von migrantas, über die Entwicklung ihrer Arbeit in den letzten Jahren, ihre Verortung in Kunst- und Migrationskontexten sowie über Visionen und Zukunftsperspektiven des Kollektivs.
Wir würden gerne aufbauend auf dem Interview „Eine visuelle Sprache der Migration“, das Rosa Reitsamer 2010 mit euch gemacht hat, erfahren, wie sich euer Kollektiv und eure Arbeit seit dem Beginn bis heute entwickelt haben und welche Veränderungen es dabei gegeben hat?
Florencia Young: Wie ist migrantas entstanden? Marula hat als Künstlerin zuvor schon in Buenos Aires mit Piktogrammen gearbeitet. Wir haben auch dort bei verschiedenen Projekten zusammengearbeitet. Und als ich dann nach Berlin kam, kam Marula einige Monate später zu mir und fragte, ob ich einige Zeichnungen in Piktogramme übersetzen könnte. Ich dachte, warum nicht. Natürlich waren die Zeichnungen über das Thema Migration. Einige Zeichnungen kamen meinen eigenen Gefühlen auch nahe. Dann bekam Marula eine Einladung als Künstlerin für ein Programm der Städtepartnerschaft von Berlin mit Buenos Aires. Sie dachte daran, die Piktogramme weiter zu entwickeln und dort zu zeigen. Am Ende reichte es nicht für die Teilnahme an diesem Projekt, aber wir hatten diese ganze Reihe an Piktogrammen und auch Kontakte in Buenos Aires, um diese in Berlin entstandenen Piktogramme in Buenos Aires zu zeigen. Das war zu einer Zeit, als nach der großen Wirtschaftskrise viele Leute das Land verlassen hatten, im Dezember 2003. Wir bekamen viel Resonanz. Für dieses Projekt hatten wir ein kleines Heftchen gedruckt mit unseren Piktogrammen und zurück in Berlin zeigten wir das einer Frau aus Peru, die mit Migranten arbeitete, und so nannten wir dann unser erstes Projekt „Proyecto Ausländer“. Sie sah die 13 Piktogramme und meinte: „Das ist interessant, aber es entspricht nicht der Realität.“ Ausländer zu sein ist ganz anders. Das war natürlich mit Papieren ganz anders als für jemanden, der aus einem Land kommt, wo Krieg herrscht, oder der keinen Aufenthaltstitel hat. Und da kam die Frage auf, wie sähen Piktogramme von jemandem, der nicht so wie wir ist, aus? Von anderen Migranten und Migrantinnen. Wir luden Estela Schindel, eine Soziologin, ein mit uns weiterzumachen, auch mit diesem Konzept von Workshops mit Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern und Kulturen. Und so hat migrantas 2004 angefangen.
Das heißt, ihr habt mit Workshops mit Migrantinnen begonnen und inzwischen macht ihr auch Workshops mit Jugendlichen, in Schulen usw. So hat es sich ja auch ziemlich weiter entwickelt?
Marula Di Como: Ja, wir haben am Anfang mit Frauen zusammengearbeitet, weil es diese Vereine gab, in denen sich die Frauen trafen, um über ihre Probleme zu reden, sich beraten zu lassen etc. Inzwischen bekamen wir viele E-Mails, die anfragten: Wir möchten was mit Kindern machen und können Sie das machen?
Florencia Young: Wir hatten die Möglichkeit, ein Projekt in drei Europa-Schulen zu machen, vielleicht ein bisschen anders fokussiert: darauf was es heißt, mit zwei Sprachen und in zwei Kulturen aufzuwachsen. Viele der Kinder sind in Deutschland geboren und ihre Eltern kamen aus dem Ausland. Und dann sind sie meistens Deutsche, also sie sind kein Migranten-Kind, sondern ein Kind mit Migrationshintergrund. Uns ging es um das Positive: Was kann ich als Kind, das in zwei Kulturen aufgewachsen ist, daran Positives finden? Wir haben das mit drei Europa-Schulen mit Spanisch-Deutsch, Türkisch-Deutsch und Italienisch-Deutsch gemacht.
Marula Di Como: Wir machten keine Piktogramme mit den Kindern, sondern arbeiteten mit ihnen an einer Animation. Die Kinder bauten selbst mit dem Programm eine kleine Geschichte …
Florencia Young: Wir arbeiteten mit Strichmännchen, mit dem Programm Stykz, das ist ganz einfach, so dass die Kinder das schnell lernen können. Es war uns wichtig, dass sie das Visuelle und auch den Inhalt selbst machen können.
Wenn es in den Workshops primär um eine grafische Umsetzung geht, wie viel Raum ist eigentlich für einen Dialog zwischen den Teilnehmer_innen und euch vorhanden? Ist das ein wesentlicher Aspekt?
Florencia Young: Wir nennen die Workshops horizontal organsiert, das heißt, wir selbst zeichnen auch, wir erzählen auch unsere Geschichten, wir sind auch Migrantinnen. Wir machen eine Runde, wo es darum geht, was wir erzählen wollenüber unsere Erfahrungen hier in diesem Land oder unsere Geschichte, oder was die anderen nicht über mich wissen.
Marula Di Como: Ja, was möchte ich mit der Gesellschaft teilen? Ich wohne in einem neuen Land und ich gehöre noch nicht hier her und was möchte ich den Leuten über mich sagen? Dieses Sagen ist diese Zeichnung.
Florencia Young: Wir machen diese Zeichnungen und dann versuchen wir, sie zu erklären. Manchmal nehmen wir das auch auf Audio auf. Jede_r erzählt eine Geschichte und die anderen hören zu oder jemand fragt etwas. Und dann machen wir wieder eine Runde, weil neue Ideen kommen oder gesehen wurden, oder wir geben auch vielleicht einen Inhalt vor, wenn sie die Zeichnungen erklären. Deswegen sind 15 Teilnehmerinnen super, denn wenn bei einer Gruppe von 25 alle in der Runde etwas erzählen, dann ist das manchmal etwas zu lang. […] Dann machen wir eine Einladung für die Ausstellung und wir nehmen alle Zeichnungen mit und machen daraus die Piktogramme.
Und die grafische Umsetzung macht ihr alleine, und zeigt sie dann noch einmal der Gruppe?
Florencia Young: Nein, deswegen machen wir immer die Einladung zu dieser Ausstellung. Bei diesen Ausstellungen sind immer die Original-Zeichnungen dabei. Und wir versuchen auch die Presse, Medien und Leute zu erreichen. Also nicht nur die Teilnehmer_innen, sondern auch die Öffentlichkeit. Wir suchen immer einen Ort, der ganz offen für die Leute ist.
Marula Di Como: Also, wo man freien Zutritt hat und man nicht zahlen muss, um die Ausstellung zu sehen. Parallel ist es eine urbane Aktion. Das heißt draußen ist z.B. eine Plakataktion, über die auch auf die Ausstellung verwiesen wird.
Diese urbanen Aktionen, würdet ihr das selbst auch als künstlerische Intervention beschreiben? Ist das ein Begriff, mit dem ihr etwas anfangen könnt?
Marula Di Como: Ich habe schon in Argentinien Plakataktionen gemacht, und auch Mail Art, also das ist eine 70er-Jahre-Kunst-Situation. Und am Anfang, als ich diese Einladung bekommen habe zu dieser Partnerschaft Berlin-Buenos Aires, da haben wir in Buenos Aires dies an Bushaltestellen gezeigt, aber in Berlin nicht. Denn da musste man zahlen und das war teuer.
Florencia Young: Aber die Frage, ob wir das künstlerische Intervention nennen: ja, warum nicht. Das ist auch eine künstlerische Intervention.
Und die Migrationsdiskurse, das ist ja auch etwas, wo ihr eingreift und mitmischt und etwas verändern wollt?
Florencia Young: Ja, genau. Was wir versuchen ist, diese Werbefläche, die mir sagt, wo ich eine tolle H&M Jacke kaufen kann, dazu zu bringen: Sag mir doch mal was anderes!
Marula Di Como: Das ist aber auch eine 70er-Jahre- Situation, denn Marina Abramović hat auch mit Werbeflächen gearbeitet. Die Frage ist: Wie kann ich draußen etwas sagen, wenn ich ein Künstler bin. Jetzt ist es für uns perfekt. Wenn sie sagen: „ja kaufen“, dann sagen wir: „Nein, nachdenken bitte“, wie für uns die Situation ist. Leider ist es nur temporär. Wir möchten etwas machen, das irgendwo bleiben kann. Aber das geht nur mit viel Geld.
Wie lange sind dann die Plakate durchschnittlich im öffentlichen Raum?
Marula Di Como: Zwei Wochen.
Florencia Young: Aber z.B. bei einem Projekt in Köln fand die Firma total einverstanden und sie meinten: Bitte lassen Sie mehr drucken und wenn ich Platz habe, dann nehme ich eure Plakate und hänge die dort auf. Das war 2008 und wir bekommen heute immer noch E-Mails von Leuten, die schreiben: Oh dieses Plakat, das ist toll, wo kann ich das kaufen?
Ich wollte zurück zur Frage, wie sich migrantas verändert hat. Wir waren z.B. in Friedrichshafen eingeladen, an einer Ausstellung, die „Neue Heimat zwischen den Welten“ hieß, teilzunehmen. Und dort haben wir eine Workshop-Station gebaut und Instruktionen dort gelassen, auch Audioaufnahmen von anderen Workshops. Das waren so 5 x 5 x 3 Meter und alles war vollgehängt mit Zeichnungen aus den Projekten, die wir bis dahin gemacht haben, und die Besucher_innen konnten dort selbst mitmachen. Es gab ganz präzise eine Frage: Was bedeutet „Heimat“? Das Museum hat uns dann regelmäßig die Zeichnungen geschickt und daraus sind ein paar neue Piktogramme entstanden. Wir sind immer offen vom Format her. Jetzt z.B. haben wir wieder einen Workshop, bei dem es um die Anerkennung von Diplomen geht, also ganz spezifisch um eine Frage oder ein Thema. Also wie würde ein Piktogramm über dieses Thema ausschauen?
Also mit jedem Projekt entwickelt sich das Konzept oder die Methode neu oder ein bisschen weiter?
Marula Di Como: Wenn wir um Geld anfragen müssen, dann müssen wir natürlich alles davor bestätigt haben, also die Idee, Umsetzung etc. Dann bekommen wir vielleicht das Geld. Aber wenn wir eine Einladung bekommen, dann sind die manchmal sehr offen, und das ist ok.
Florencia Young: Wir wollen das nicht immer ändern, aber wir versuchen folgendes: Wir haben ein Budget, was können wir mit diesem Budget machen. Solche Werbeflächen zu mieten kostet viel Geld und eine Tragtaschen-Aktion kostet vielleicht nur insgesamt 500 Euro, wenn man das druckt. Das ist auch etwas anderes, als wenn man sagt, ich will eine große Plakataktion auf der Straße.
Wie seht ihr die Arbeit von migrantas im Kunstkontext? Wird sie dort auch rezipiert? Du, Marula, bist ja Künstlerin, für dich ist das vielleicht ganz klar. Oder würdet ihr es eher als soziokulturelles Projekt sehen?
Marula Di Como: Weiß ich nicht … Ich habe keine Ahnung, was ein soziokulturelles Projekt ist. Und ich weiß nicht: Was ist Kunst? Denn mit dieser Frage ist für mich alles Kunst, absolut alles, was ich mache. Denn dieser Moment, wenn wir mit den Frauen arbeiten, was passiert da? Eine jede Frau ist für mich eine Künstlerin. Und was passiert draußen?
Florencia Young: Ich als Grafikdesignerin sehe das vielleicht ein bisschen pragmatischer. Für ein paar Einladungen, wie z.B. dieses Museum in Friedrichshafen, wo auch ganz renommierte Künstler_innen dabei waren, da hat das wie Kunst ausgesehen. Dann waren wir auch zu „Kunst und Migration“ eingeladen, da waren nur Künstler_innen und die vermarkten das als Kunst. Vielleicht ist es bei uns so, wie Marula auch meinte, wir verkaufen die Sachen nicht: Das mit Kunst und Vermarkten ist ein bisschen kompliziert. Wir verkaufen das nicht als Kunstobjekt. Aber unsere Aktionen könnte man als Kunst bezeichnen. Wir waren sehr glücklich über die Presseresonanz bei unserer letzten Aktion, z.B. hat das deutsche Art Magazin das als Tipp der Woche genommen, diese großen Bahnen auf der Straße, und so haben sie das als Kunst wahrgenommen. Die Interventionen sind also als Kunst präsent oder manifest.
2011 habt ihr den Hauptstadtpreis für Integration und Toleranz erhalten. Ist die Netzwerkarbeit mit Migrant_innen-Vereinen wichtig für euch? Also dass man jetzt nicht nur Workshops macht, sondern auch politische Arbeit wie die Netzwerkarbeit forciert?
Florencia Young: Das ist nicht unbedingt ein Punkt unserer Arbeit. Zuletzt konnten wir leider nicht zusagen, weil wir keine Zeit hatten, das war ein Netzwerk mit anderen Künstler_innen. Ich würde sagen, dass wir vielleicht leider ein bisschen alt geworden sind. Wir können diese Arbeit einfach nicht leisten, wir haben nicht so viel freie Zeit. Wenn wir das machen, dann muss es auch bezahlt werden, denn wir machen das auch parallel zu unserer normalen Arbeit und da bleibt nicht so viel Zeit übrig.
Und was nehmt ihr jetzt für euch aus diesen unterschiedlichen Projekten mit, als Projekterfahrung?
Florencia Young: Ich denke, warum wir weiter machen, ist nicht wegen dem Geld. Aber ich denke mit jedem Projekt treffen wir etwas, nicht bei allen Frauen, aber bei einigen schon, dass das Projekt geholfen hat, dass sie sich mit dem Piktogramm identifizieren, dass sie die Möglichkeit hatten, etwas zu erzählen. Wenn das passiert, wenn diese Frau zufrieden ist, das ist für uns ganz wichtig. Dann ist das der Punkt, wo wir sagen: Ja, wir sind auf dem richtigen Weg und das nehmen wir für uns mit. Das ist die Energie, mit der wir weitermachen können.
Marula Di Como: Wenn man diese Piktogramme bekommt, dann ist das von einer Zeichnung von einer Frau mit Migrationshintergrund, aber jemand vor Ort kann sich selbst damit identifizieren …
Welche Aussichten oder Visionen gibt es für eure zukünftige Arbeit? Welche Ideen gibt es? Oder Wunschprojekte?
Florencia Young: Wir feiern ja Jubiläum, zehn Jahre migrantas. Und was wollen wir? Es ist immer noch kompliziert. Manchmal wäre bei uns die Vision oder der Wunsch, dass wir mit unseren Piktogrammen ein bisschen weiter kommen könnten. Und es wird immer gefragt, wo kann man das kaufen; wie könnten wir unser Projekt organisieren, so dass wir das verkaufen könnten wie den [Berliner Souvenir-]Ampelmann, dass das ein Symbol von Migration und Deutschland und Berlin wäre? Aber auch an die soziale Ebene angepasst. Denn natürlich sind das unsere Piktogramme, wir gestalten sie, aber sie erzählen auch von den vielen Frauen, die mitgemacht haben. Also wenn wir das verkaufen würden, wie können wir dann unseren sozialen Bereich immer noch behalten, dieses Fair Trade sozusagen. Und manchmal überlegen wir, wie wir diese Art von Konstruktion oder Projekt entwickeln könnten, wie macht man das, dass ein Teil vom Gewinn in die Projekte fließt oder in die Vereine … Aber das erfordert auch wieder viel Zeit, Programm, Projekt, Geld, Investition usw.
Marula Di Como: Und wir möchten ein Lokal haben, wo unser ganzes Material ist und die Leute können dort von diesen Projekten etwas hören und auch eine Bibliothek mit künstlerischen Projekten … ja wir möchten dieses Gebäude …
Ein Archiv?
Florencia Young: Ja, denn wir haben zurzeit mehr als 700 Zeichnungen. Und jede Zeichnung ist ein Potential von Information.
Auch die Audioaufnahmen?
Marula Di Como: Ja, genau.
Florencia Young: Und das ist wichtig, dass man auch ein bisschen weiter geht. Wir kriegen manchmal von der Uni Anfragen] dass Leute da mitmachen möchten oder sich das anhören möchten. Aber wie gesagt, da muss man dann ein Konzept entwickeln, schreiben, Projektfördergelder oder einen Partner finden.
Marula Di Como: Ja, aber ich sage immer nach dem letzten Projekt: Ok, ich bin jetzt 50, also bitte macht etwas — die anderen Frauen, die so 20 oder 30 sind. Denn ich bin müde und habe nicht viel Zeit, jetzt ist deine Zeit etwas zu machen …
Herzlichen Dank für das Interview!
Kollektiv migrantas ( 2014): „Wenn sie sagen: ‚Ja kaufen‘, dann sagen wir: ‚Nein, nachdenken bitte‘ …“. Ein Interview von Elke Zobl und Laila Huber mit migrantas / Florencia Young und Marula di Como. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 04 , https://www.p-art-icipate.net/wenn-sie-sagen-ja-kaufen-dann-sagen-wir-nein-nachdenken-bitte/