Verstörende Zuversicht

Eine künstlerische Intervention im Bildungskontext

Reflexion zum Workshop-Projekt: „My profession in 20 years: Dreams, obstacles and possibilities – react and act!” im Rahmen der Lehrveranstaltung „Projektentwicklung künstlerische und kulturelle Interventionen II“ im Sommersemester 2014, in Zusammenarbeit mit dem Büro für Mädchenförderung des Landesjugendreferats Salzburg (make it) während der Veranstaltung womens`s space 2014 – International Youth Exchange for Young Women am 30. April 2014.

Eine Gruppe von rund 35 jungen Frauen aus Italien, Frankreich, Spanien, Tunesien, Moldawien, Estland, Ägypten und Österreich wurden von rund 20 StudentInnen an einem Nachmittag eingeladen, in zweieinhalbstündigen Workshops künstlerische/kulturelle Interventionen im öffentlichen Raum zu entwickeln. Einen Workshop von elf Personen leitete ich zusammen mit zwei Mitstudentinnen.
Diese Intervention fand in zweifacher Weise in einem Bildungssetting statt: sowohl für die TeilnehmerInnen von women´s space als auch für uns als Studentinnen. Daher möchte ich in meinem Bericht einen Schwerpunkt auf spezifische Qualitäten künstlerischer Interventionen „in education“ legen.
Für mich war der gesamte Prozess eine außerordentlich spannende Angelegenheit, da ich – als Studentin im Studienschwerpunkt Cultural Production & Arts Management – meinen Lernprozess über künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum mit einer langen Berufserfahrung in Bildungseinrichtungen und als Lehrtrainerin für Gestaltpädagogik verbinden konnte. Die Gestaltpädagogik ist eine Form ganzheitlicher, kreativer „selbstermächtigender“ Pädagogik und Erwachsenenbildung, die teilweise ähnliche Ziele verfolgt wie spezifische künstlerische Interventionen: die bewusste Wahrnehmung einengender Stereotypen, deren Dekonstruktion und Veränderung (vgl. Reichel 2005,star (*5) Svoboda 2012star (*8)). Allerdings konzentriert sie sich mehr auf die inneren Räume der Person und die Räume unmittelbarer Interaktion. Es scheint jedoch, als ließen sich die beiden Ansätze füreinander fruchtbar machen, wie ich das am Beispiel dieses Workshops verdeutlichen möchte.

1. Künstlerische Interventionen im Bildungssetting

Künstlerische und kulturelle Intervention meint unter anderem die Konfrontation mit Widersprüchen und Stereotypien, deren Aufdeckung und Dekonstruktion im öffentlichen Raum. Menschen können sich durch die Botschaft der Intervention involvieren (lassen), so dass sie sich ihrer eigenen Betroffenheit bewusst werden und sie von Reagierenden zu Agierenden werden können: „Intervention […] bezeichnet im Kontext künstlerischen Handelns Arbeitsweisen, die sich bewusst der Kriterien, Haltungen, Rituale und Wechselwirkungen gesellschaftlicher Subsysteme bedienen um, […] .die Wahrnehmung sensibilisierenden Phänomene zu evozieren, die auf das funktionalisierte gesellschaftliche Subsystem wirken; szenische-geplante, u.U. choreografierte Einflussnahme auf gesellschaftliche Subsysteme. […] Ihre Intentionen reichen von Störungen und Irritationen bis hin zum Willen nach Veränderung.“ (v. Borries 2012: 126)star (*11)

Chantal Mouffe spricht von Selbstermächtigung und Selbstrepräsentation als Zielsetzung kritischer Kunst: „[…] art that foments dissensus, that makes visible what the dominant consensus tends to obscure and obliterate. It is constituted by a manifold of artistic practices aiming at giving a voice to all those who are silenced within the framework of the existing hegemony (Mouffe 2008: 12).star (*4)
So geht es gleichermaßen um die Aufdeckung von Hegemonien: im Kontext selbsterfahrungsorientierter Gestaltpädagogik mehr um die verinnerlichten, im Kontext künstlerischer Interventionen mehr um die äußerlich sichtbaren; wobei beide Ebenen einander bedingen und verstärken.

1.1 Die Vermittlung künstlerischer und kultureller Intervention im Bildungskontext – ein Tanz zwischen Widersprüchen

Nun stellt der Bildungskontext eine geradezu klassische Form einer hegemonialen Struktur dar, welche traditionell durch Hierarchien geprägt ist; durch vorgegebene Ziele, Zeit- und Qualitätsvorgaben und entsprechende Inszenierungen von Begegnungen wie zum Beispiel Frontalvorträgen und Prüfungen.
Einige humanistische pädagogische Bewegungen wie etwa Gestaltpädagogik, Themenzentrierte Interaktion, Systemische Pädagogik, Montessori- oder Freinet-Pädagogik haben Wege gefunden für offenere Räume zur Selbstbestimmung, für mehr Intersubjektivität und Augenhöhe-Qualität im Bildungskontext. Gestaltpädagogik fördert mit hohem Selbsterfahrungsanteil die Selbstreflexion und die Reflexion verdeckter Normen, das verbal nicht Erfassbare, die Kreativität im Selbstausdruck und in der Selbstrepräsentanz. Als der „educational turn“ in der Kunstvermittlung zum Thema wurde, haben sich auch im Bereich der Kunst Entwicklungen in Gang gesetzt, welche die überkommenen Hierarchien aufbrechen wollen. So zum Beispiel beim Versuch, einen offenen Raum des „Wir“ zu erzeugen, wie Nora Sternfeld dies beschreibt: „Kuratorische und vermittlerische Praxis werden dabei auch als das Abgeben von Sprech- und Definitionsmacht verstanden: ‚as an exercise in listening and distributed expertise‘.“ (Sternfeld 2012: 127)star (*7)

Durch solche Ansätze werden hierarchische Bildungsszenarien zwar stark relativiert, doch bleibt in jeder institutionalisierten Bildungssituation das Thema Hierarchie durch die Organisationsstruktur wirksam, auch wenn Didaktik und Inszenierung das oben genannte „klassische Arsenal“ entschärfen. Verstärkt wird die Wirkung der Organisationsstruktur durch bereits verinnerlichte Haltungen: Weil wir alle eine Sozialisation in Bildungskontexten durchlaufen haben, können die entsprechenden Rollenbereitschaften sich mehr oder weniger reinszenieren. Ist doch in den verinnerlichten, sozialisierten Szenen eine oft unbewusste, nicht reflektierte Erwartung und Bereitschaft vorhanden, sich vor zu viel Fremdbestimmung und pädagogischen Eindringlichkeiten zu schützen: Aktive oder passive Verweigerung, Distanzierung, aber auch besondere Folgsamkeit, „soziale Erwünschtheit“, unreflektierte Begeisterung und viele andere Überlebensstrategien sind jeder Person aus der Schulzeit geläufig und werden ebenso an Universitäten und in anderen Kontexten der Erwachsenenbildung sichtbar.
Auf diese Konstellation trifft das Anliegen der Selbstermächtigung künstlerischer Interventionen im Bildungskontext.

Indem Selbstrepräsentanz und Kritikfähigkeit zum vorgegebenen Lernziel werden, sind sie gleichzeitig Teil eines mehr oder weniger hierarchisch inszenierten Auftrags: „Sei kritisch und selbstbewusst!“ Dies birgt das Risiko der Konstruktion eines universitär oder schulisch erwünschten Selbstbildes als kritische, selbstbewusst gespielte Rolle, welche jedoch nur äußerlich bleibt. Wichtige, aber hier „unpassende“ Bedürfnisse und Empfindungen, wie z.B. tatsächlich vorhandene Distanz, Unsicherheit, Müdigkeit, Angst, Überforderung, Erschöpfung, Langeweile werden dann ausgeblendet als nicht „repräsentabler“ Teil des Selbst. Entwickeln sich solche Ausblendungen zur Gruppennorm innerhalb der Lern- oder Arbeitsgruppe, fördert dies eine universitäre Sozialisation zum „falschen Selbst“. Gleichzeitig können sich die „unpassenden“ Bedürfnisse quasi durch die Hintertür in Form der erwähnten Abwehrstrategien bemerkbar machen: als Intensivierung der Bemühungen ebenso wie als Minimalisieren des Arbeitseinsatzes, als Fehlzeiten oder innere Abwesenheit, sowohl bei einzelnen Personen als auch in der Lerngruppe.
Der Umgang mit diesem Paradoxon der „verordneten Autonomie“ ist eine zentrale Herausforderung emanzipatorischer Bildungsarbeit.

1.2 Das Paradoxon von Selbstermächtigung/ Selbstrepräsentanz als Lernziel – eine Herausforderung für künstlerische Interventionen im Bildungskontext

Viele PädagogInnen und ErzieherInnen und vermutlich auch KünstlerInnen haben sich schon den Kopf zerbrochen, wie diesem oben aufgezeigten Paradoxon zu entkommen ist.
Ich kenne aus der Gestaltpädagogik und aus dem Bereich künstlerischer Interventionen drei Möglichkeiten, die sich ergänzen können:
– einen didaktischen Rahmen schaffen, der möglichst viel Raum lässt, für dieses „Selbst“, das sich ermächtigen will,
– innerhalb der Projektzeit Raum und Fragestellungen für die Wahrnehmung und Reflexion innerer und äußerer Hierarchien schaffen,
– die bewusste Inszenierung der Hierarchie, sodass sie begreifbar wird (z.B. Krauss 2007).star (*2)
In unserem Workshop haben wir uns durch eine inhaltsoffene, eigene Gedanken und Impulse anregende Moderation vor allem auf die erste der drei Möglichkeiten konzentriert – auf das Schaffen eines offenen Raums. Die bewusste Inszenierung bzw. die Reflexion innerer und äußerer Hierarchien des Workshop-Settings selbst fand nicht in der Gruppe statt. So versuche ich meine persönliche Reflexion in diesen Bericht einzubringen, der eine Einladung auch an die anderen Teilnehmerinnen darstellt, diese Reflexion weiterzuführen.

1.3 Künstlerische Interventionen im Bildungskontext erzeugen bei den vorbereitenden Personen einen Überhang an Gestaltungsmacht

Die Tatsache, dass pädagogische Prozesse aufgrund gängiger Vorgaben vorbereitet werden müssen (zu erfüllende Lernziele bzw. Curricula, eng gesteckte zeitliche Rahmenbedingungen etc.), erfordert eine Verlagerung wichtiger kollaborativer Entscheidungen in die Vorbereitung und verschafft damit den Vorbereitenden eine strukturelle Dominanz – ein zentraler Aspekt der Hierarchie in Bildungskontexten. Das wurde für mich konkret erfahrbar als ein der Projektentwicklung immanenter Teil der Herausforderung, als Verantwortung, diese strukturell gegebene Dominanz durch uns Vorbereitende gering zu halten, sowie diese sichtbar und verhandelbar zu machen.

2. Projektentwicklung

2.1 Bestandsaufnahme

Als Erstes galt es eine Bestandsaufnahme zu machen: Das gegenseitige Zuhören und der Austausch über die verschiedenen Lebensrealitäten innerhalb der Workshopgruppe wurde wegen des engen Zeitrahmens ersetzt durch eine Voraus-Recherche über die Lebenswelten der women`s space-Teilnehmerinnen durch uns StudentInnen; sie musste somit hypothetisch bleiben. Diese Recherchen schienen zu bestätigen, was Elke Zobl im Handout der Lehrveranstaltung schreibt: Die jungen Frauen seien „ … mit dem Widerspruch einer Gleichstellungsverheißung und der tatsächlichen Ungleichheitserfahrung konfrontiert. Mädchen und junge Frauen erfahren dadurch Begrenzungen, die – da scheinbar nicht mehr vorhanden – von ihnen schwer einordbar sind und als individuelles Scheitern bewertet werden.“ (Zobl 2014)star (*12)

2.2 Analyse

Eine eingehende Analyse des gesamten sozialen Feldes samt Hypothesen über die möglichen Widersprüche (soziologisch, psychologische, ökonomisch, politische), die in der Begegnung der „drei Welten“ von women`s space-Teilnehmerinnen, StudentInnen und PassantInnen sichtbar werden könnten, war auf Grund mangelnder Zeitressourcen nicht gemeinsam durchführbar. Daher handelt es sich hier um meine persönliche Hypothese:
In der Begegnung dieser „drei Welten“ gibt es einerseits Phänomene, die alle Frauen betreffen; in der Intensität der Ausprägung dieser Ungleichheitserfahrungen existieren zwischen den Herkunftsländern jedoch deutliche Unterschiede. Das kritische Potential der zu entwickelnden Intervention schien mir in diesen Diskrepanzen zu liegen. Deren Offensichtlich-Werden könnte ein Ergebnis der Intervention sein – oder auch nicht; die Moderation musste so angelegt werden, dass die Teilnehmerinnen in ihren Wahrnehmungen und Mitteilungen frei waren.

2.3 Zielsetzung und Thema

Das Thema „My profession in 20 years: Dreams, obstacles and possibilities – react and act!” war nicht aus dem Leben aller Teilnehmerinnen heraus von diesen selbst formuliert worden, sondern wurde von der Vorbereitungsgruppe vorgeschlagen. So war es wichtig, dass das Thema von den women`s space-Teilnehmerinnen frei gewählt werden konnte. Wer sich damit nicht befassen wollte, konnte sich in eine andere Gruppe melden.

2.4 Das Medium für die künstlerische Intervention

An sich wäre es spannend für einen kollaborativen Prozess, auch die künstlerische Form/ das künstlerische Medium völlig offen zu lassen, da Inhalt und Botschaft und die Form sich gegenseitig inspirieren und durchdringen sollten. Da der Workshop auf zweieinhalb Stunden begrenzt war, erschien es jedoch notwendig, eine gut vorbereitete und in der technischen Handhabung weitgehend durchstrukturierte künstlerische Form anzubieten. Dies schien uns gegeben mit der Möglichkeit, T-Shirts mit einer aus dem Prozess entstandenen Botschaft zu bemalen, und diese auf der nonverbalen Ebene durch eine Gruppenskulptur der T-Shirt-Trägerinnen zu intensivieren.

Somit musste die Projektplanung viele Entscheidungen offen lassen. Einmal, um die strukturelle Dominanz unserer Vorbereitungsarbeit auszugleichen. Und vor allem, um die women´s space-Teilnehmerinnen nicht zu degradieren zu Ausführenden einer von uns durchgeplanten Intervention.

3. Workshop und Stadtspaziergang

Es meldeten sich neun Teilnehmerinnen aus verschiedenen Herkunftsländern. Wir vereinbarten zu Beginn die beabsichtigte offene Moderation mit der Freiheit für alle Teilnehmerinnen, Impulse und Anregungen aufzugreifen oder auch zu verändern. Wir brachten zum Ausdruck, dass wir als Vorbereitungsteam keine Inhaltsvorgaben machen, sondern uns im Prozess so wie alle Anderen als Einzelperson einbringen würden. Zu Beginn sollte jede Teilnehmerin die Möglichkeit bekommen, sich in einer geschützten Form ihrer ganz persönlichen Vorstellungen über ihren Beruf in 20 Jahren und die damit einhergehenden Chancen und Hindernisse bewusst zu werden. Dies geschah durch eine von mir angeleitete „guided reflexion“.

3.1 „Spaziergang in die eigene Zukunft“ in Form einer „guided reflexion“

Guided reflexion bedeutet geführtes Nachdenken und ist eine Form der Phantasie-Reise aus der Tradition der Gestaltpädagogik, bei welcher durch Bewegung im Raum und durch das experimentierende Einnehmen verschiedener Körperhaltungen die Vorstellungen über die eigene Zukunft erkundet werden können. Es wurden sowohl Stichworte zur Qualität von persönlichen und gesellschaftlichen Hindernissen (Sexismus, Rassismus, Behinderungen durch wirtschaftlich und politische Entwicklungen) gegeben, als auch Stichworte zur Wahrnehmung vorhandener persönlicher und kollektiver Ressourcen und Potentiale. Die Übung beinhaltete den Hinweis an die Teilnehmerinnen, dass sie völlig frei seien, welche der in der Anleitung gegebenen Stichworte sie während des Spaziergangs in die Zukunft und zurück aufgreifen und welche sie ignorieren wollten.

Die im Anschluss angebotene Zeit für persönliche Notizen wurde intensiv genutzt; dies sollte verhindern, dass es zu einer zu raschen Dominanz von Einzelmeinungen kommen würde. Wir schlugen den Teilnehmerinnen vor, ein zentrales Bild bzw. ein Schlüsselwort oder eine These aus der „guided reflexion“ zu wählen, welches sie als ihre Botschaft in die Gruppendiskussion und später in die Intervention im öffentlichen Raum einbringen wollten. Die Schlüsselworttechnik ist eine zentrierende Moderationsform der Gestaltpädagogik, um vor allem bei wenig Diskussionszeit rasch zu einem prägnanten Ergebnis zu kommen, was auch tatsächlich der Fall war:

Es bildeten sich zwei Gruppen, in denen eine diskussionsfreudige Energie aufkam. Im Plenum entwickelte sich eine intensive Auseinandersetzung darüber, welche Botschaften gewählt werden sollten. Zwei der Teilnehmerinnen blieben mangels englischer Sprachkenntnisse sehr zurückgezogen. Die in den beiden Gruppen entwickelten Botschaften überraschten mich sehr!
Gruppe 1: „The Change begins with ME: Looking for my happyness / MASTER of destiny / Educate yourself to change things“
Gruppe 2: „The future will be better than present /Believe! / Dream Big! /Let Your Dream shine“

Nicht Kritik, nicht vorwurfsvolle Konfrontation über wahrgenommene Diskrepanzen in Richtung reicher Salzburger TouristInnen oder privilegierter Salzburger StudentInnen. Keine Forderung an „die Mächtigen in internationaler Wirtschaft und Politik“, sondern: Zuversicht! Und Eigenverantwortung!

3.2 Die Botschaft: Verstörende Zuversicht

Ich freute mich und war gleichzeitig verwirrt …
Was geschah hier mit dem „Lernziel“, eine künstlerische Intervention anzuregen, welche – laut v. Borries (2012)star (*11) oder Mouffe (2008),star (*4) s. o. – das kritische Aufdecken von festgefahrenen Ordnungen, Machtverhältnissen und deren Veränderung zum Anliegen hat? Was geschah mit der Ausgangshypothese, dass die vorhandene Ungleichheit der ökonomischen und sozialen Verhältnisse sowie der Geschlechterverhältnisse eine gesellschaftskritische Intervention erzeugen würde?
Oder war dies genau die „kritische Konfrontation“? Eine saturierte, über die wirtschaftlichen Entwicklungen unzufriedene Gesellschaft – zu der auch ich mich zähle – wird konfrontiert mit Zuversicht und Eigenverantwortung? Hat der offene Rahmen genau das ermöglicht dass sichtbar werden konnte, was in dieser Gruppe als Potential vorhanden ist?
In politischen Analysen über die neuen Protestbewegungen in arabischen Ländern, in der ehemaligen Sowjetunion bis hin zu Formen von zivilem Widerstand in China, oder über die neue Gewerkschaftsbewegung in Indien wurde immer wieder die Beobachtung formuliert, dass die Kraft zu wirklicher Veränderung eines oft menschenverachtenden globalen Wirtschaftssystems nicht aus Mitteleuropa oder USA kommen werde. Ist hier etwas von dieser Kraft spürbar geworden?
Dies sind interessante Interpretationsmöglichkeiten.

Genauso zulässig wären folgende Reflexionen über die Auswirkungen des konkreten Bildungskontexts:
– dass sich die Teilnehmerinnen von women`s space unsicher fühlten, sich in eine kritische Konfrontation zu begeben – um die Workshopleiterinnen und Gastgeberinnen nicht zu verärgern?
– dass sie in der Rolle „guter Schülerinnen“ geblieben sind, welche sich im Sinne des oben erwähnten „falschen Selbst“ als „positive thinking people“ verhalten wollten?
Denkbar sind auch weiterführende Annahmen, die in unserer Vorausrecherche/Analyse nicht erwogen wurden:
– dass sie eine Auswahl darstellen aus einer Personengruppe, welche auch im Herkunftsland privilegiert ist und die Erfahrung des „Machen Könnens“ aus ihrer Familie kennt?
– dass sie in einer Lebensphase sind, welche naturgemäß zuversichtlich und voller Energie auf die eigenen Möglichkeiten ist, noch nicht gebrochen von allzu vielen Enttäuschungen? Und dass ihnen die Bewusstwerdung der Falle „ Gleichstellungsverheißung versus tatsächliche Ungleichheitserfahrung“, wie sie Zobl (s.o.) formuliert hat, noch bevorsteht?

Auch diese Interpretationsmöglichkeiten stehen im Raum und sind ohne Nachbesprechung mit allen Teilnehmerinnen nicht überprüfbar. Für die positiv verstörende Konfrontation mit Mut, Zuversicht und Eigenverantwortung spricht jedoch der weitere Verlauf:

Aus den beiden Gruppenbotschaften destillierte sich in einer leidenschaftlich geführten Gesamtgruppendiskussion heraus, dass jede Gruppe eine Botschaft formulieren könne, wenn Vor und Rückseite der T- Shirts verwendet werden:
Alle elf Anwesenden konnten diese Botschaften mit Einzelbuchstaben bzw. Buchstabengruppen auf den T-Shirts in Form einer Gruppenskulptur gemeinsam bilden.
Die Botschaft: „Dream Big!!!“ hatte schnell den Konsens aller. Heftig wurde noch diskutiert, ob es „Make a Change“ oder „Live to Change“ heißen sollte. Dabei siegten folgende Argumente: „Live to Change“ als die stärkere Botschaft, und als lebenslange Herausforderung.

3.3 Die „Werkstatt“

Zwei Teilnehmerinnen wollten die jeweilige Schrift entwerfen, und zeichneten die Buchstaben/gruppen mit Bleistift vor. Wir alle malten dann die Buchstaben mit Stoffmalfarbe aus. Die Idee der „Verkörperung von Botschaften“ durch das am Körper Getragene wurde angeregt von Angie Hiesl and Roland Kaiser: ”Dressing the city”.star (*1)

Die Entscheidung, die T-Shirts beidseitig zu bedrucken, bedeutete eine Planänderung – wir konnten unsere Intervention erst beim gemeinsamen Stadtspaziergang mit den anderen women´s space-Mitgliedern umsetzen, ohne sie vorher mit „unbefangenen PassantInnen“ realisiert zu haben. Zugunsten eines wichtigen Prozesses den Plan zu ändern ist wesentliches Merkmal einer emanzipativen Bildungsarbeit und war in dieser LV möglich.

3.4 Group Body Sculpture

Auch blieb keine Zeit für lange Debatten über den Ort (Uni oder Innenstadt) und wie die „group body sculpture“ aussehen sollte. Hier half eine gestaltpädagogische Schlüsselfrage: „Wie fühlt sich dein Körper, wenn er hört: ‚Think Big!!!‘ und wie zeigt er das? Und was drückt er aus, wenn er hört ‚Live to change!‘“ Dadurch hatten wir den Ausdruck der Skulpturen rasch gefunden. Auch die Reihenfolge der Präsentation der beiden Sätze legte sich in einem Gruppenkonsens rasch fest: Zuerst die Kraft holen durch „Dream Big“, um danach die Veränderung bewirken zu können: „Live to Change“.

3.5 Durchführung der Intervention vor der Universität

Dream Big!

Eine Teilnehmerin aus Ägypten erklärte die Intervention und „BesucherInnen“ wurden eingeladen, sich zu involvieren. Die Annahme war, dass die Eingeladenen durch die gemeinsame „Verkörperung“ etwas von der Gefühlsqualität von „Dream Big!!!“ und „Live to Change!“ erfahren und ausprobieren könnten. Diese Erfahrung könnte bei einer längeren Präsenz einer solchen Aktion vor Ort auch Diskussionen anstoßen.

3.6 Was könnten die Teilnehmerinnen in der Gruppe gelernt haben?

Wir haben eine einfache, handwerklich und choreographisch leicht zu realisierende Form erprobt, wie wir im öffentlichen Raum Botschaften einbringen und Beteiligung erwirken können. Wir haben eine Form der Intervention entwickelt, die nicht nur ein „Statement“ bedeutet, sondern die andere Menschen spielerisch involvieren kann. Wie stark die gefundene Form auch bei anderen Menschen eine „verstörende Zuversicht“, eine Dekonstruktion von Negativerwartungen bei öffentlichen Statements erzeugt, muss offen bleiben. Die freudige Arbeitsstimmung, welche im Workshop und auch bei der Präsentation vor der Uni spürbar war, dürfte eine Ermutigung dafür darstellen, kollektiv/kollaborativ ein Anliegen zum öffentlichen Thema zu machen. Teilnehmerinnen haben mich gebeten, ihnen die Methode des geführten Nachdenkens zur Verfügung zu stellen, da sie von dieser Begegnung mit inneren Bildern der eigenen Kraft sehr profitiert hätten. Und vermutlich haben sie auch in unserem Workshop die Erfahrung gemacht, dass ihre eigenen Ideen, Anliegen und Botschaften bedeutsam sind und auch in einem Bildungskontext Raum bekommen können.

3.6.1 Gestaltpädagogik und künstlerische Intervention zusammendenken

Ich nehme an, dass die eingebrachten gestaltpädagogischen Elemente – das geführte Nachdenken und die Gruppen-Körperskulptur – einen wichtigen Anteil zur kraftvollen Authentizität dieser „positiv konfrontierenden Intervention“ beigetragen haben. Hier sehe ich für die Entwicklung von künstlerischen Interventionen im Bildungskontext einen interessanten Beitrag gestaltpädagogischer Herangehensweise: In der Phase der Ideenfindung können Menschen in einen tieferen Kontakt zu eigenen Wahrnehmungen kommen. Zu Wahrnehmungen, die nicht nur auf gedanklich-rationaler Ebene, sondern auch im Bereich der Sprache des Körpers und der inneren Bilder wirksam werden. Dadurch können sich kreative, oft auch Widerspruch erzeugende Impulse und authentische Kritik entwickeln, auf die eine künstlerische Intervention aufbauen kann.

4. Zur Lehrveranstaltung

In dieser Lehrveranstaltung habe ich bei den Symposien ebenso wie beim Durcharbeiten des Workshop-Konzepts vielfältige Chancen bekommen:
Konkrete Beispiele von künstlerischen Interventionen kennenzulernen, welche im Bildungskontext realisierbar sind.
Die Paradoxien und spezifischen Verwerfungen zu erfassen, welche „Selbstermächtigung“ und „Selbstrepräsentanz“ als vorgegebenes Lernziel haben, und welche Formen des Umgangs damit denkbar erscheinen.

Das Potential der Gestaltpädagogik für die Entwicklung künstlerischer Interventionen in Bildungskontexten zu beschreiben und praktisch zu erproben. Die sorgfältig begleitete Praxiserfahrung erzeugte eine große Ermutigung, es selbst zu versuchen. Noch während der Lehrveranstaltung habe ich ein Seminar-Design mit dem Titel „Kopfoben Scheitern“ entwickelt, welches die Stärken der bisher auf den Seminarraum festgeschriebenen Gestaltpädagogik mit den Chancen künstlerischer Interventionen im öffentlichen Raum verbindet (Tschötschel-Gänger/Sendlhofer 2014).star (*10)

Mit herzlichem Dank für dieses theoretisch wie praktisch außergewöhnlich anregende „Bildungssetting“, für die Impulse, Feedbacks und Erfahrungen in dieser Lehrveranstaltung!

Eine Fotodokumentation gibt es hier.

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Hiesl, Angie and Kaiser, Roland (2011): ”Dressing the city”. http://angiehiesl.de/eng/index.php?page=art&artid=128

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Krauss, Annette (2007): Hidden Curriculum. Utrecht: Casco.

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Miessen, Markus (2012): Kollaboration und Konflikt. In: Ders.: Albtraum Partizipation. Berlin: Merve.

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Mouffe, Chantal (2008): Art and Democracy. Art as an Agnostic Intervention in Public Space. In: Open 2008/ No. 14/ Art as a Public issue.

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Reichel, René/Scala, Eva (2005): Das ist Gestaltpädagogik. Münster: Ökotopia Verlag.

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Rogoff, Irit (2012): Wenden. In: Jaschke, B/Sternfeld, N. (Hg.): educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung. Zürich: Turia + Kant.

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Sternfeld, Nora (2012): Segeln. In: Jaschke, B/Sternfeld, N. (Hg.): educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung. Zürich: Turia + Kant.

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Svoboda, Ursula et al. (2012): Gestaltpädagogisch lernen und beraten. Berlin: dohrmannVerlag.berlin.

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Tschötschel-Gänger, Christine (2014): Reaktivieren wir die politische Dimension der Gestaltpädagogik! Online unter: http://www.gestaltpaedagogik.at/downloads/politDimGP.pdf  sowie in: Zeitschrift für Gestaltpädagogik Heft 1/2014 , S.44-49

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Tschötschel-Gänger, Christine/Sendlhofer, Maria (2014): Kopfoben Scheitern. Seminardesign. Online unter: http://www.gestaltpaedagogik.at/Seminare.html#14

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von Borries, Friedrich et al. (2012): Glossar der Interventionen. Hamburg.

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Zobl, Elke: Handout zur Veranstaltung: VÜ: Artistic interventions and education as critical practice. Künstlerische Interventionen II SS 2014 – Universität Salzburg – Contemporary Arts & Cultural Production

Christine Tschötschel-Gänger ( 2014): Verstörende Zuversicht. Eine künstlerische Intervention im Bildungskontext. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 05 , https://www.p-art-icipate.net/verstorende-zuversicht/