Teilhabe am Wissen

„Part-of Relation“ oder performative Forschung im Feld der Kunst

Einleitung

Der vorliegende Text reagiert auf die Neubewertung der Begriffe Forschung und Partizipation im neoliberalen Kontext des dritten Kapitalismus. Standen Forschung und Partizipation einst für Selbstbestimmung und Emanzipation, sind sie heute mit normierter Selbstoptimierung und einer faden Mitmachideologie verknüpft. Anstelle einer vermeintlich kritischen Umkehrung der Beurteilung des emanzipatorisch-kritischen Gehalts von Forschung und Partizipation versuchen folgende Überlegungen das Forschen als Teilhabeprozess kenntlich zu machen, um damit neue Ansatzpunkte für eine kritische Perspektivierung dieser Praxis zu eröffnen. Forschen ist dabei nicht als Instanz verstanden, sondern vielmehr als ein Medium des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses.

Die Reflexion des Forschens als Teilhabe am Wissen wird in drei Schritten entwickelt. Zunächst werden in einer historischen Perspektive die mit der Forschung verknüpften Versprechen im Feld der Kunst, der Pädagogik und der Wissenschaft dargelegt. In einem weiteren Schritt werden Forschung und Wissen unter aktuellen Bedingungen des dritten Kapitalismus und wissenschaftstheoretischen wie ästhetischen Konzeptualisierungen reflektiert. Die historische und theoretische Annäherung an die Frage des Wissens versucht, der Polarisierung von Kunst und Wissenschaft entgegenzuarbeiten, um zu verhindern, das Wissen der Künste als das schlechthin andere aufzurufen oder zu beschwören. Abschließend werden in diesem Sinne zwei künstlerische Beispiele vorgestellt, die im Feld des Wissens qua ästhetischer Verfahren agieren und Prozesse des Forschens und Denkens auf der Ebene der Praxis und der Darstellung wirksam werden lassen. Sie durchkreuzen, so die These, das Wissensfeld kritisch, ordnen es neu, ohne zum vermeintlich Anderen des Wissens zu werden – gleichwohl ermöglichen sie ein anderes Wissen.

Das gesellschaftliche Versprechen der Forschung

In Folge der aktuellen Wissenschaftspolitik wird eine Forschung ohne Drittmittel zunehmend an den Rand gedrängt und die Akquise von Drittmitteln wird zum Instrument, um die Forschungsqualität zu messen. Hierdurch werde Forschung, so die Kritik, auf eine standardisierte Normalwissenschaft reduziert und ihre Innovationskraft, Originalität und Kreativität eingeschränkt (vgl. Münch 2006).star (*19) „Forschung“ war jedoch und ist noch mit einem emanzipatorischen Versprechen verknüpft und dies im Feld der Künste und der Wissenschaften. Zahlreiche visuell schaffende Künstler_innen bezogen sich Ende der 1960er Jahre in ihrer nachdrücklichen Infragestellung des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systems und in ihrer Selbstbefragung der Kunst auf die Forschung und erhofften sich, ausgehend von ihr neue Inhalte und Verfahrensweisen entwickeln zu können. So hat beispielweise Allan Kaprow 1964 gefordert, dass „Forschung (pure research) in Kunst und Kunstausbildung wie in jedem anderen akademischen Feld vorangetrieben werden sollte; es müsse ein Avantguarde-Think-Tank [!] in Bewegung gesetzt werden, um die oft allzu vorsichtige akademische Gemeinschaft zu beleben.“ (Holert 2011: 39)star (*9) Kaprow brachte „die Figur des Künstlers oder der Künstlerin [in Erscheinung], die sich in ein strategisches Verhältnis zu Forschung und zur universitären Welt setzt und nach einer kritischen Neuordnung der Wissens- und Praxisfelder verlangt“ (ebd.).star (*9) Im europäischen Kunstraum hat Günter Metkens Begriff der „Spurensicherung“ die Aufmerksamkeit auf forschende Ansätze in der Kunst gelenkt. 1974 kuratierte Metken gemeinsam mit Uwe M. Schneede die Ausstellung Spurensicherung: Archäologie und Erinnerung im Kunstverein Hamburg. Gezeigt wurden Arbeiten von Künstler_innen aus Frankreich, Italien und Deutschland, die sich durch Methoden auszeichneten, die jenen der Geschichts- und Sozialwissenschaften vergleichbar sind. 1977 folgte dann Metkens Publikation Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaft in der heutigen Kunst. 1978 kuratierte Wulf Herzogenrath im Kölner Kunstverein die Ausstellung Feldforschung und bezieht sich mit diesem Titel auf die in der Ethnologie gängige Arbeitsmethode der teilnehmenden Beobachtung. 1979 realisierte Schneede gemeinsam mit Künstler_innen die Ausstellung Eremiten? Forscher? Sozialarbeiter? Das veränderte Selbstverständnis von Künstlern. Das Vorwort ist mit „Die Ausstellungskonzeptoren“ unterzeichnet und offensichtlich dem Anspruch verpflichtet, gängige Hierarchien zwischen Kunstpraxis und Kunsttheorie aufzubrechen. Die Teilhabe verschiedener Personen an dem Vorwort wird markiert, indem man darauf verweist, dass die von den Arbeitsgruppen-Mitgliedern stammenden Kommentare und Korrekturen berücksichtigt wurden. In dem Text wird das im Titel aufgeworfene Selbstverständnis reflektiert und es heißt: „Sind Künstler heute Eremiten? Forscher? Sozialarbeiter? Eremiten zwar nicht im Sinne eines Einschlusses ins Abseits, aber als Außenseiter und als solche, die sich verweigern, dennoch aber unabdingbar Bestandteil der Gesellschaft sind. Forscher zwar nicht im naturwissenschaftlichen Sinne, aber als Experimentatoren und als solche, die Fragen nach dem stellen, was sich hinter den Fassaden abspielt. Sozialarbeiter auch nicht im Wortsinn, aber als solche, die überkommene Grenzen der ästhetischen Produktion aufzubrechen versuchen, um in unmittelbare Kommunikation mit den anderen zu treten, für die sie arbeiten.“ (Hossmann et al. 1979: 11)star (*10)

Die forschende Praxis war in der Kunst, aber auch in den Wissenschaften mit dem Versprechen der Emanzipation und des selbstkritischen Denkens verknüpft und mit ihr ging ein Wissensbegriff der Reflexion und Subjektivierung einher.*1 *(1) Es verwundert deshalb nicht, dass sie nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Pädagogik seit den Siebziger Jahren eine zentrale und gesellschaftskritische Rolle innehat. So setzte die Didaktik auf das Forschende Lernen; mit ihm sollte sich die Selbstverantwortlichkeit und Eigenständigkeit der Studierenden bezüglich ihrer Methoden und Themenstellungen ausbilden und die Praxis und die Erfahrung wurden als produktive Aspekte unterstrichen.*2 *(2) Das Forschende Lernen gilt auch heute als ein gesellschaftlich relevantes Tun und ist als „Prozess der ständigen Befragung jeder vorliegenden Aussage“ (BAK 1970: 214)star (*3) beschrieben. Bildung misst sich aus der Perspektive des Forschenden Lernens nicht am erlernten und abrufbaren Fundus eines überlieferten Wissens, sondern am eigenen „Suchen und Finden, Problematisieren und Einsehen, ‚Staunen‘ und Erfinden, Untersuchen und Mitteilen“, so der Pädagoge und Wissenschaftshistoriker Ludwig Huber (2009: 13).star (*11) Forschendes Lernen bildet, das ist die grundlegende Annahme, weil die Studierenden Wissenschaft als unabgeschlossene Praxis selbst betreiben und nicht weil sie etwas Abgeschlossenes lernen und sich aneignen. Es ist also die Performativität, die in der Praxis eines Forschens wirksam werden kann, auf die gesetzt wird und weniger das Wissen als zu akkumulierende Kenntnis.*3 *(3)

Ende der 1990er Jahre hat Bruno Latour den Begriff Forschung im Feld der Wissenschaften als einen gesellschaftsrelevanten reaktualisiert. In seinem 1998 erschienenen Aufsatz „From the World of Science to the World of Research?“star (*23) konstatiert er einen Übergang von der Kultur der Wissenschaft in eine Kultur der Forschung. Wissenschaft identifiziert er mit Gewissheit, charakterisiert sie als kalt, hart, abgehoben-distanzierend. Forschung stehe dagegen für Ungewissheit und wird von ihm als warm, verwickelnd-einnehmend beschrieben. Wissenschaft beende Debatten, erzeuge Objektivität und sage sich von Ideologien, Leidenschaften und Emotionen los, wohingegen die Forschung Kontroversen kreiere, und den Untersuchungsgegenstand emotional und leidenschaftlich nahebringe. Schließlich stellt Latour fest, dass die Forschung, angesichts dessen, dass sich Wissenschaft und Gesellschaft nicht mehr wie einst separieren lassen, sondern in einem Wechselverhältnis stehen, als „collective experiment“ an Bedeutung gewinnt.

Die Polarisierung von Forschung und Wissenschaft scheint mir problematisch, denn Forschung findet weitestgehend im Feld des Wissens und respektive der Wissenschaften statt oder sie wird von den Wissenschaften legitimiert. Forschungsfragen entstehen in Relation zu einem bekannten und anerkannten Wissen und schließlich verbleiben auch Forschungen nicht in der kontroversen Spannung, sondern werden in ein zu vermittelndes Wissen übersetzt, d.h. in ein ‚wissbares‘ und erlernbares Produkt.

Anstelle die Forschung gegen die Wissenschaft auszuspielen, scheint es mir interessant, die Praktiken des Forschens und der Wissenschaft, ihre spezifischen Rahmungen und Kontexte selbst ins Visier zu nehmen. Eine solche Rahmung stellt heute im sogenannten dritten Kapitalismus die Ökonomisierung des Wissens dar. Diese trägt zu einer Neubewertung der Forschung bei. Sie kann nicht länger per se als emanzipatorische Tätigkeit eines selbstbestimmten kritischen Geistes bestimmt werden, sondern sie tritt in ihrer Ambivalenz hervor, da sie sich ebenso gut in den Dienst der Selbstoptimierung stellen kann.

Die kapitalistische Indienstnahme von Forschung und Wissen

Der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello haben 1999 den neuen kapitalistischen Geist als einen beschrieben, der Eigenschaften wie „Autonomie, Spontanität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Plurikompetenz“ ebenso wie die Fähigkeit, „Netzwerke zu bilden“ integriert und diese als Erfolgsgarantien ausstellt (Boltanski/Chiapello 2006: 143).star (*4) Der neue Kapitalismus erweist sich als äußerst flexibel und anpassungsfähig und hat Teile der Kapitalismuskritik aufgenommen, weitere Kritik an ihm stillgestellt und sich zum Teil selbst erneuert. Kennzeichnend für den neuen Geist dieses Projektkapitalismus sind unscharfe Organisationsstrukturen, die mit ständiger Veränderung, Innovation und Kreativität einhergehen. „Den Individuen wird im neuen Kapitalismus eine wesentlich höhere Bedeutung auferlegt“, insofern sie stets aufgefordert sind, „ihre eigenen Leistungen den geforderten Rahmenbedingungen anzupassen.“ (Ludwig 2013: 132)star (*15)

Der Ökonom und Essayist Yann Moulier-Boutang begreift auch den kognitiven Kapitalismus als Teil des dritten Kapitalismus, der jenseits des Handelskapitalismus und des industriellen und finanziellen Kapitalismus angesiedelt ist und die Welt der materiellen Produktion neu gestaltet. Boutang benennt u.a. folgende Charakteristika dieses neuen dritten Kapitalismus:

  • Virtualisierung der Ökonomie, d.h. die Rolle des Immateriellen und der Dienstleistung
  • die Informationserfassung, ihre Verarbeitung und Speicherung in Relation zur Wissensproduktion
  • und die Förderung sozialer und produktiver Kooperationen durch die Netzgesellschaft.

Der kognitive Kapitalismus ist ein Akkumulationssystem, das hauptsächlich auf Wissen beruht und dabei ein implizites Wissen ebenso nutzt wie ein aus der Analyse von Nutzerverhalten gewonnenes Wissen. „Wissen ist die Hauptressource des Wertes und wird die wichtigste Ressource im Prozess der Wertschöpfung.“ (Moulier-Boutang 2001)star (*18)

Diese kapitalismuskritischen Theorien*4 *(4) lassen die emanzipatorischen Versprechen, die sowohl an die Forschung als auch an das Wissen als Bildung geknüpft sind, ambivalent werden. Denn das Forschende Lernen wie die Wissensbildung in den Künsten qua künstlerischer Forschung können zwar auf der einen Seite Wissenschaft als soziale Praxis kenntlich werden lassen und sich zum Ziel setzen, alle für Forschungsprozesse zu gewinnen und zu integrieren. Dies ist aber auf der anderen Seite im dritten Kapitalismus nicht allein mit emanzipatorischen Effekten verknüpfbar, sondern auch mit Optimierungstechniken neoliberaler, marktorientierter Bildungskonzepte. Denn mit der „Idee des autonomen, selbstgesteuerten Lernens“ wird, dies lässt sich mit dem Wissenschaftspädagogen Stephan Münte-Goussar formulieren, Bildung auch zu einer klug getätigten Investition. Das zu einem lebenslangen Lernprozess aufgeforderte Individuum, soll Geld, Zeit und Kraft investieren, „um für seine Kompetenzen eigenverantwortlich Sorge zu tragen“ (Münte-Goussar 2009: 155).star (*20) Diese Entwicklung hat zur Folge, dass „ungleich verteilte Lebenschancen als das Ergebnis individuell falsch getroffener Bildungsentscheidungen interpretiert und die hiermit verbundenen Unsicherheiten, Risiken und Verschuldungen den Subjekten individuell angerechnet werden. Umgekehrt gibt die Autonomie den Individuen tatsächlich die Freiheit, sich selbst zu gestalten und zu verwirklichen“ (ebd.).star (*20)*5 *(5)

Es sind unter anderem diese Kontexte, welche deutlich werden lassen, dass es womöglich zu kurz greift, die Forschung oder das Wissen der Künste als das genuin Andere aufzurufen. Die Künstler_innenfigur, die Tom Holert mit Kaprows Forderung in Erscheinung treten sieht, also jene, die sich „in ein strategisches Verhältnis zu Forschung und zur universitären Welt setzt und nach einer kritischen Neuordnung der Wissens- und Praxisfelder verlangt“ (Holert 2011: 39),star (*9) lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein, und es ist zu fragen, was nötig ist, damit die forschende Selbstbildung und die Beteiligung an der Wissensproduktion nicht unmittelbar einem verwertungslogischen Denken der Selbstoptimierung anheimfällt, und wie es zu anderen Forschungspraktiken und einem anderen Wissen führen kann. Die folgenden Überlegungen zur historischen und disziplinären Verfasstheit des „Wissens“ und seiner Verkörperung und Diskursivierung versuchen, die gängige Engführung des Wissens mit der Wissenschaft und der Vernunft einerseits sowie die etablierte Polarisierung zwischen Kunst und Wissenschaft andererseits zu entkräften. Dies scheint mir notwendig, um kritische Strategien einer Arbeit am Wissen eröffnen zu können, die nicht allein andere Wissensinhalte zulässt, sondern ebenso andere Praktiken des Wissens zum Zuge kommen lässt.

Epistemologien des Ästhetischen und Neuperspektivierungen der Wissenschaften

Um 1800 waren die zwei Kulturen Kunst und Wissenschaft noch nicht klar voneinander geschieden und die Gegenstände wie die Formen der Präsentation und Kommunikation des Wissens noch nicht eindeutig verteilt. Die Beiträge in dem von Thomas Lange und Harald Neumeyer herausgegebenen Band „Kunst und Wissenschaft um 1800“ zeigen dementsprechend, dass in dieser Zeit in den vermeintlich getrennten Bereichen prinzipiell vergleichbare Aussagen zu finden sind und dass ihnen Figuren, Argumente und Probleme gemeinsam sind. Um 1800 aber profilierten sich Kunst und Wissenschaft aneinander und etablierten sich als getrennte Disziplinen, sie traten nunmehr in ein neues komplementäres und vornehmlich binäres Verhältnis zueinander. Im Zuge des Prozesses der Ausdifferenzierung wurde der ästhetische und kognitive Weltzugang in ein Konkurrenz- und Ergänzungsverhältnis gebracht. Bereits die ersten Ansätze der Ästhetiktheorie können als Reaktionen auf die Ausdifferenzierung der Disziplinen Mitte des 18. Jhdt. beschrieben werden. Verschiedenste Philosophen reagierten auf die Engführung von Wissenschaft, Erkenntnis und Verstand und arbeiteten strategisch der Abwertung der sinnlichen Erkenntnis entgegen.*6 *(6)

Dieter Mersch problematisiert, dass der Versuch, die Kunst zu einem Wissen aufzuwerten, von Beginn an „durch die Anmaßungen der Vernunft“ mit einer Abwertung verknüpft ist. Die Kunst wird „allein nach der ‚Maß-Gabe’ der Logik oder Diskursivität beurteilt“ (Mersch 2012: 5)star (*17)*7 *(7). Die Kunst verhilft dieser Logik entsprechend der Idee zum Leben, sie verleiht ihr gleichsam einen Leib, das heißt sie materialisiert sie, sie stellt sie sinnlich dar. Genau das wird ihr jedoch Mersch zufolge  im Regime des Wissens, das sich an der Vernunft orientiert, zum Verhängnis. Denn der Geltungsmodus des Wissens ist das Zutreffen oder Nichtzutreffen. Echtes (theoretisches) Wissen – d.h. ein von Platon und Aristoteles im engeren Sinne verstandenes Wissen (episteme) gehört zur Theorie (theoria). Ein solches liegt vor, wenn streng begründete, zum  Beispiel überprüfte (rationale) Aussagen über das Zutreffen (die Wahrheit) einer Behauptung oder eines Behauptungskomplexes gemacht werden können. Je nach Art dieser Überprüfungsinstanzen kann man von empirischem (Tatsachen-)Wissen, abstraktem oder logischem Wissen sprechen. Wissen gilt demnach als eine ‚sichere‘, abgeschlossene und objektive Erkenntnisform. Wissen ist extensional, das heißt auf Gegenstände bezogen (objektiv), es liegt in Form entscheidbarer, das heißt wahrheitsdifferenter Aussagesätze vor und es ist nicht reflexiv.*8 *(8)

Angesichts dieser Tradition und der Problematik des Wissens im dritten Kapitalismus verwundert es nicht, dass es der Wissensbegriff selbst ist, der ins Kreuzfeuer der Kritik gerät. In der Debatte um die künstlerische Forschung wird das mit der künstlerischen Praxis verbundene Wissen vehement von einem propositionalen Wissen, das mit der Wissenschaft verknüpft wird, abgegrenzt (vgl. Jung 2016: 28).star (*12) Selma Dubach und Jens Badura beschreiben in diesem Sinne die ästhetische Erkenntnispraxis als eine inhärente Wissensbildung, „bei der anders als im etablierten und vor allem bei dem in den Wissenschaften strikt geforderten Artikulationsmodus, Wissen nicht mittels standardisierter, propositional-theorieförmiger Veröffentlichungsformate nachvollziehbar und überprüfbar gemacht wird. Es manifestiert sich im Prozess des Vollzugs künstlerischer Praxis als ‚Agens‘ eines im Tun aufgehobenen denkenden Forschungsprozesses, und generiert kunstinduzierte Erfahrbarkeit möglicher Weltverhältnisse“ (Dubach/ Badura 2015: 124).star (*5) Trotz aller Sympathie für diese Bemühungen bleibt an dieser Perspektive problematisch, dass sie zu einem reduktionistischen Bild von Wissenschaft beiträgt, und vice versa auch die Möglichkeiten eines künstlerischen Wissens einschränkt. Und dass sie den Forschungsprozess auf den kreativen Akt beschränkt, mit anderen Worten auf die künstlerische Produktion und damit auf die Intention und das „Werk“. Übersehen werden damit die Rezeption oder besser die Teilhabe am Wissen*9 *(9) und damit die Performativität von Prozessen der Wissensbildung. Die Theorie der Performativität hat die Vorstellung, eine Äußerung berichte von der Welt rein ’konstativ‘, grundlegend in Frage gestellt und sie stattdessen „als eine wirkende Kraft“ ins Bewusstsein gebracht. Äußerungen – und damit sind nicht allein verbal-sprachliche Artikulationen gemeint –, können als Verkörperungen und Vermittlungen durch Medien gefasst werden. Performative Äußerungen vermögen es, als situiertes Ereignis in die Welt einzugreifen und sie zu verändern (vgl. Hempfer/ Volbers 2011: 9).star (*7) Zu einer grundlegenden Neuperspektivierung von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hat auch der ungarisch-britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi mit seinen Überlegungen zum impliziten Wissen beigetragen. Erkennen ist nach Polanyi ein ganzheitlicher, auf Prinzipien der Gestalttheorie basierender Prozess. Seine 1966 entworfene Konzeption des Wissens umfasst Aspekte, die heute als wesentlich für menschliches Wissen gelten, etwa die Gebundenheit an praktische, institutionelle und situative Momente sowie die Bedeutung des Körpers für Wissensprozesse. Polanyi versteht, dies hat die Wissenschaftstheoretikerin Eva Maria Jung deutlich aufgezeigt, „das implizite Wissen nicht als eine zu propositionalem oder theoretischem Wissen komplementäre Wissensform […], die ausschließlich in den kreativ-künstlerischen Bereich fällt. Er verweist [vielmehr] immer wieder auf Beispiele aus seiner eigenen naturwissenschaftlichen Tätigkeit und betont, dass das implizite Wissen auch in den Naturwissenschaften, ja in allen Wissenschaften verbreitet ist.“ (Jung 2016: 33)star (*12)

Mir scheint die Infragestellung des Begriffs des Wissens und die mit ihm einhergehende Polarisierung von Kunst und Wissenschaft der zentrale Punkt, um Forschen als eine Tätigkeit der Teilhabe in einem kritischen Sinn zu konzeptualisieren. Deshalb scheint es mir auch wenig sinnvoll, von einem genuinen Wissen der Künste zu sprechen, die dann implizit oder explizit in Opposition zur Wissenschaft gebracht werden, vielversprechender scheint es mir, spezifische Verfahrensweisen und Praktiken im Regime des Wissens in den Blick zu nehmen, die auch angesichts aktueller Theoriebildungen und politischer Reflexionen zum Wissen interessant sind und die in Kunst wie in der Wissenschaft gleichermaßen angetroffen werden können.*10 *(10) Mein besonderes Interesse in diesem Zusammenhang gilt ästhetischen Praktiken, welche die Performativität von wissensbildenden Prozessen einerseits kenntlich werden lassen und die mit diesen Prozesse verbundenen Dinge und Praktiken nicht in einem bloß vermittlungstechnischen und instrumentellen Sinn vor Augen führen, sondern diese als Medien des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses erfahrbar werden lassen. Hierdurch wird die Rezeption zu einem forschenden Prozess, auch wenn sich dieser nicht notwendig in konkreten Handlungen zeigt. Anders gesagt: Wissen vermittelt sich nicht allein in einem Produkt, sondern ist von einer Teilhabe am Wissen getragen.

Wissen performieren / medialisieren

Mikropraktisches Forschen als wissensbildende Prozesse: Adrian Pipers Funk Lessons

Adrian Piper ist eine Konzeptkünstlerin der ersten Generation. In ihrer Arbeit nehmen partizipative Praktiken, die auf künstlerische Verfahren in der Tradition der Cage-Schule sowie auf die Aktionskünste Fluxus und Happening zurückgehen, einen großen Stellenwert ein. Zwischen 1982 und 1984 hat Piper ihre Workshops Funk Lessons. A Collaborative Experiment in Cross-Culture Transfusion durchgeführt, die politische Inhalte mit lustvollen Erfahrungen zu verbinden suchen. Kurz nach ihrem PhD in Philosophie begann sie mit diesem Projekt. Unter dem Motto „get down and party. together“ vermittelte sie einem heterogenen Publikum – konkret akademischen und nicht-akademischen wie kunstfernen und kunstaffinen Teilnehmer_innen – den afroamerikanischen Funk und Soul, seine Struktur und seine Geschichte.

Piper nutzt auf der einen Seite das unmittelbare performative Potential von Praktiken in ihren Workshops und sie übersetzt auf der anderen Seite diese künstlerische Arbeit im gesellschaftlich-sozialen Feld in ein ästhetisch-formal stimmiges Werk, ein Video*11 *(11) und schließlich in einen analytisch-kritischen Text, den 1985 publizierten vierteiligen Essay „Notes on Funk I-IV“. (Piper 2002: 239)star (*22) Mit diesen Darstellungen dokumentiert, reflektiert, performiert und medialisiert Piper nicht allein das ephemere Geschehen der Performance, sie kontextualisiert und diskursiviert dieses vielmehr und fügt es in das Feld des Wissens ein.

Piper lässt ihr Video mit Aufnahmen einer Musikbox beginnen, die an die Bildsprache Dziga Vertovs erinnern und den Apparat und dessen Mechanik in den Blick bringen. Daran angeschlossen ist eine kurze Sequenz, die vorwiegend schwarze Tänzer_innen in einem Club zeigt und von einer Nahaufnahme ausgehend unmittelbar in die Situation an der U. C. Berkeley wechselt. Die darauf folgenden Aufnahmen werden von eingeblendeten didaktischen Sätzen wie „FUNK IS MODULAR“, „FUNK IS IMPROVISATIONAL“ oder „SHOULDER SHRUG“ begleitet. Daran anschließend sieht und hört man Pipers nachträglich in einem Interview formulierten Erläuterungen, Video-Musik-Clips von James Brown oder Aretha Franklin und eine dokumentarische Aufnahme einer rassistischen Zuschreibung an die Rock-’n’-Roll-Musik von einem Vertreter des Alabama White Citizens Council, der das Schwarz-Werden der Weißen durch den Rock ’n’ Roll prognostiziert.

In Pipers Performances – wie sie durch das Video vermittelt sind – greifen körperliche Erfahrungen musikalisch-tänzerischer Grundelemente mit Informationen zu kulturellen Hintergründen wie etwa die der Beziehung des Funk zu anderen „weißen“ Musiken ineinander. Die Performance, die laut Piper mehr als sechzig Personen adressiert, vermittelt hierdurch nicht allein ein Gemeinschaftserlebnis, sie verbindet Erleben und Reflexion. Die Affirmation von Funk lädt dergestalt nicht zum bloßen identifikatorischen Rausch ein, die affektive Kraft von Funk wird vielmehr unterbrochen. Darin ist Pipers Verfahren mit Bertolt Brechts Modell des epischen Theaters vergleichbar, das nach Walter Benjamin imstande ist, aus Lesenden oder Zuschauern Mitwirkende zu machen und die Akteur_innen zur Stellungnahme zu ihrer eigenen Rolle aufzufordern. Hervorgerufen wird diese Reflexion nach Benjamin durch das Prinzip der Unterbrechung, das er als ein Verfahren der Montage beschreibt. Die Unterbrechung hat eine organisierende, sich von einer Reizreaktion emanzipierende Funktion: „Sie bringt die Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle.“ (Benjamin 2002: 243)star (*2)

Piper formuliert in ihrem Essay das Anliegen, die ursprüngliche Lernsituation der Unterrichtsstunde durch Gespräche in kleinen Gruppen*12 *(12) in eine „Zusammenarbeit“ zu überführen und „die Trennung in Publikum und Performer auf[zuheben]“ (ebd. 233).star (*2) Anstelle eines bloßen Dozierens versucht sie deutlich zu machen, dass das, was sie „zu ‚lehren‘ vorgab“, ein „fundamentales sinnliches ‚Wissen‘“ ist, „das jede/r besitzt und anwenden kann“ (ebd.). star (*2)Die Performance strebt keine „wohlwollende Erfahrung von oder Partizipation an schwarzer Kultur an“ (ebd. 244).star (*2) Die Beteiligten werden vielmehr als immer schon Teilhabende adressiert; sie sind Teil eines historisch-kulturellen Dispositivs, in dem sie sich subjektivieren, ihre Identität, ihre Wahrnehmung, ihre Vorstellungen, ihr Denken und ihre Haltung ausbilden. Die Prozesse der Subjektivierung werden von Piper nicht auf kognitive Prozesse reduziert. Im Gegenteil sie reflektiert in ihrer Performance das Zusammenspiel zwischen Selbstpraktiken und diskursiv vermittelten Normen. Sie zerlegt den Funk in einzelne Übungen und stört damit auch ein verinnerlichtes Wissen von ihm auf, und sie lässt ihn – insofern seine normative Engführung aufgebrochen wird – in neuartiger Weise für Individuationsprozesse wirksam werden.

In den Funk Lessons werden Körper- und Denkpraktiken in Beziehung gesetzt, Affekte unterbrochen und neue Affizierungen und damit transformierende Subjektivierungen möglich. Indem Piper Funk in einzelne Körperübungen aufgliedert, zerstückelt sie auch das einheitliche und als Identifikationsangebot wirkende Bild von Funk und macht stattdessen die Konstruktion desselben innerhalb eines Wissensregimes und seine normativen Effekte kenntlich. Sie demontiert so die affirmativ-identifikatorischen wie aversiv-rassistischen Dimensionen dieses Bildes und wünscht, Funk in ein kulturelles Kommunikationsmedium zu transformieren. Pipers Funk Lessons lassen sich als repräsentationskritische Analyse und als mikropraktische Übung beschreiben, das mediale Zusammenspiel dieses Projekts von Piper stört ein zumeist unbewusst bleibendes, aber gleichwohl wirksames Wissen um rassistische Werturteile und Zuschreibungen auf und ermöglicht so ein anderes Denken, da es an den Bedingungen der Möglichkeit des Wissens selbst arbeitet.

In dem bereits zitierten Essay reflektiert die Künstlerin dieses unbewusste Wissen in Bezug auf ihre Arbeit im Kunstfeld. Ihre Inklusion in die (weiße) Gemeinschaft beschreibt Piper als eine, die mit der Exklusion bestimmter kultureller Lebenspraktiken verknüpft war. So galt es für sie, auf den Funk, den sie als zentralen Teil ihres Lebens und ihrer Identität als schwarze Frau beschreibt, als ein kulturelles Kommunikationsmedium zu verzichten. Sie begegnete dieser Forderung und Zumutung mit der Strategie, „dieses Medium mit meinem Publikum zu teilen, um es in meiner Arbeit erfolgreich als Kommunikationswerkzeug oder gemeinsame Sprache einsetzen zu können, die als solche auch anerkannt und verstanden würde“ (ebd. 239).star (*2) Piper reflektiert die Bedingungen der In- oder Exklusion im sozialen und künstlerischen Feld.

Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari ließen sich Pipers Mikropraktiken als eine mikropolitische Kritik beschreiben. Die „Mikropolitik“, wie sie von Deleuze und Guattari gedacht ist, bezeichnet ein politisches Experiment, ein politisches Engagement, das auf die durch den Kapitalismus bewirkte Neutralisierung „revolutionärer Politik“ und des „revolutionären Subjekts“ seit den 1970er Jahren reagiert: In der Kontrollgesellschaft, welche die Disziplinargesellschaft abgelöst hat, operieren die Machtformationen über flexible Normalisierungsanforderungen. Dies hat zur Folge, dass die Taktiken und Strategien einer revolutionären Politik, die sich gegen eine repressive Normierung wenden, wirkungslos werden. Denn die Normen werden nicht länger repressiv aufgezwungen, im Gegenteil: Sie ergeben sich auf der einen Seite als wandelbar aus der Fülle der gesellschaftlichen Differenzen und Abweichungen und dienen auf der anderen Seite als Richtwerte, die abgelehnt aber auch begehrt werden. Die Individuen adjustieren ihr Verhalten ihnen entsprechend selbst. Aufgrund dieser Veränderung traten vermehrt die Praktiken selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit und die durch Praktiken sich vollziehenden Subjektivierungsprozesse, oder um mit Michel Foucault zu sprechen, die Machtprozeduren der Gouvernementalität, die auf den individuellen Körper zielen.*13 *(13) Praktiken sind auf der Mikroebene wirksam und sind – werden sie mit Foucault als gouvernemental verstanden –zutiefst ambivalent bzw. pharmakologisch. Sie können das Individuum über den Körper systemkonform werden lassen, sie können aber ebenso in widerständiger Weise wirken, so dass sich die verinnerlichten und normierten Körperpraktiken öffnen und für neue Affizierungen durchlässig werden. Pipers Performances agieren auf dieser Mikroebene der Praxis. Sie stören ein Körperwissen auf und unterbrechen internalisierte körperlich-perzeptive Bahnungen wie die affektive Wirksamkeit dieses impliziten und gleichwohl normativ wirksamen Wissens. Die Übungen können verhärtete habitualisierte Körperpraktiken buchstäblich in Bewegung versetzen und so die normativen Vorstellungen und Zuschreibungen von Funk auf einer mikropraktischen Ebene wirkungslos werden lassen. Auf dieser körperlichen Grundlage können Kräfte mobil werden, die sich widerständig zeigen gegenüber der Macht eines normativen Wissens. Piper kann als eine jener Künstler_innen-Figuren beschrieben werden, die sich an einer kritischen Neuordnung des Wissens und der Praxisfelder beteiligt.

Das Diskursive und Ausstellungsförmige als Ort des Denkens

Während Piper sozusagen eine Selbsterforschung und -reflexion qua Praxis mobilisiert, stört das Künstler_innen-Kollektiv Group Material das Wissen, verstanden als Aneignungsprozess konstativer Sachverhalte, auf, indem es die Rezeption als forschende Praxis medialisiert. Group Material verfolgt eine Präsentationsweise, welche die Rezeption eines Kunstwerks als ein Suchen, Kombinieren, Analysieren, Assoziieren, Imaginieren und Kontextualisieren erfahrbar werden lässt, als einen performativen Prozess, der stets von unserem Wissen wie unserem Nicht-Wissen mitbestimmt wird.

Das Kollektiv, das einen integrativen und partizipatorischen Ansatz verfolgte, war von 1979 bis 1996 aktiv. Anfangs in einer rotierenden Besetzung von zehn bis dreizehn Mitgliedern, schließlich auf drei Hauptbeteiligte reduziert: Doug Ashford, Julie Ault und Felix Gonzalez-Torres. Die künstlerische Praxis der Gruppe ist eine kuratorische, die sich auf die Präsentation heterogener Materialien und Medien, etwa Chroniken zur Aidskrise, öffentliche Reklamewände oder Werbung in der U-Bahn konzentrierte. Die ausgestellten Materialien und Objekte kamen von bekannten und unbekannten Urheber_innen, so finden sich neben Beiträgen von befreundeten Künstler_innen so genannte autorenlose Texte, also Informations- oder Alltagsmaterialien. Information wird in verschiedenen Medialitäten präsentiert, die einen Wissensraum herstellen. Wissen wird so gleichsam verkörpert oder medial performiert. Die Installationen und Ausstellungen dienten „als materieller Anlass beziehungsweise Mittel, um einen kritischen Diskurs zu befördern, der sich an Gruppierungen außerhalb des historischen Geltungsbereichs des Kunstbetriebs wandte oder diese miteinbezog. Die dichte Anordnung diversester Materialien stellte dementsprechend eine Plattform für das zivilgesellschaftliche beziehungsweise aktivistische Engagement von Group Material dar, egal ob dies in Form von Diskussionsrunden oder ‚Bürgerversammlungen‘ erfolgte“ (Lee 2015: 42). star (*14)Group Material verknüpfte die Ausstellungen mit Einladungen zu Gesprächen mit verschiedensten Teilnehmer_innen sowie mit Publikationen, welche das Projekt in gesellschaftlichen und künstlerischen Kontexten diskutieren. Die Gruppe bezeichnete ihre installativen Ausstellungsprojekte als „Zwiesprache“ und unterstrich damit den performativen und re-präsentationskritischen Charakter derselben, mit denen sie einen Ort der Begegnung zu schaffen wünschten. Eine Begegnung, die Ashford, eines der Mitglieder, als eine Erweiterung des „Selbst“ beschreibt. Das Selbst soll, nach Ashford „durch das Verhältnis zu anderen gleichsam aufgebrochen“ (zit. nach Lee 2015: 42)star (*14) werden.

Die Ausstellungen von Group Material bilden Orte der Begegnung, an denen sich Kritik und Reflexion, Denken und ästhetische Erfahrung ereignen können. Die Ausstellungen machen erfahrbar, dass sich die Herausbildung des Selbst, des Wissens, Denkens und Wahrnehmens in Auseinandersetzung mit Materialien und in Relation eines historischen und normativ wirksamen Horizonts abspielt. Group Material stellt mit den von ihnen zur Verfügung gestellten materiell vermittelten Informationen einen Raum her, in dem ein kritisches und auf Erfahrungen basierendes Denken in einem diskursiven Austausch und in der Auseinandersetzung mit ästhetisch inszenierten Materialien ausgebildet werden kann.

Die Projekte von Group Material emanzipieren sich von der Polarisierung von Visualität und Verbalität, von derjenigen von kunsteigen und kunstfern, sie legen den Fokus auf Materialitäten, deren Präsentation und Performanz, das heißt auf Fragen der Re-Präsentation. Hierdurch reflektieren ihre Arbeiten auch das Zusammenspiel von Diskurs und Wahrnehmung und unsere Möglichkeiten des Denkens. Die verschiedenen Materialien, die in einer an der Vernunft orientierten Ordnung des Denkens eher als randständig oder irrelevant ausgegrenzt würden, adressieren sich nicht allein an unsere reflexive Kompetenz, sondern sprechen uns auch auf der Ebene des Sinnlichen an, sie berühren uns.

Partizipative Wissensproduktion

Die Tradition der Spurensucher hat die künstlerische Produktion als eine forschende und wissensbildende Praxis in Erscheinung gebracht und sie hat damit auch der Vorstellung des schöpferischen Aktes als unmittelbarem, genialen Einfall widersprochen.*14 *(14) Die künstlerischen Verfahren der partizipativen Performance und der kuratorischen Praxis der Achtziger Jahre, wie sie hier vorgestellt worden sind, haben die künstlerische Produktion neu konzeptualisiert, indem sie die Kunsterfahrung und -betrachtung, also die Rezeption als eine forschende Praxis adressierten und diese so in ihrer Performanz haben kenntlich werden lassen. Das Verständnis von künstlerischer Produktion als eine Verbindung von Künstler_in und Werk wird hierdurch als ein relationales Produktionsgefüge zwischen Künstler_in, Objekten, Betrachter_innen, Materialien, Kontexten, Sozialitäten und anderem mehr gefasst. Sowohl Piper als auch Group Material lassen in ihrer künstlerischen Arbeit ein Forschen zum Zuge kommen. Dies trägt dazu bei, dass die Praxis und die Ausstellung gleichsam zu einem Erkenntnismedium werden. Die Projekte erlauben Teilhabe in neuartiger Weise zu verstehen: In Pipers Funk Lessons erscheint eine Teilhabe, die vor jeder Form der Partizipation – verstanden als Beteiligung, als Mitwirkung, als Einbeziehung – wirksam ist; eine (implizite) Teilhabe an einem normativ wirksamen Wissen, die in körperlichen Reaktionen manifest wird, konkret in der Ablehnung oder der Affirmation von Funk. Die Projekte von Group Material integrieren – hierin lässt sich eine Parallele zu den in den 1990er Jahren aufkommenden Cultural Studies*15 *(15) erkennen – in die Kunst gesellschaftspolitisch relevante Themen zu Aids, Bildung oder Demokratie und aktivistisch-politische Verfahren, die bis dahin ausgeschlossen waren. Forschen und Wissensproduktion vollziehen sich in den vorgestellten Projekten in einer ästhetischen Weise, das Sinnliche, die Sinne und der Körper spielen eine zentrale Rolle und Affekte, Lüste, das Begehren, Imaginäres oder Unbestimmtes sind nicht als Störfaktoren ausgeschlossen, sondern werden konstitutiv für ein ästhetisch-reflektierendes Forschen und Denken. Forschen und Teilhabe sind dabei nicht mit dem Versprechen der Überschreitung und der grundlegenden Kritik verknüpft, sondern mit ästhetischen Praktiken, die zu einer Arbeit am Wissen einladen. In diesem Sinn können die Projekte als epistemologische Maschinen beschrieben werden, das heißt als Kommunikationsgefüge von technischen, körperlichen, intellektuellen und sozialen Komponenten, an dem man immer schon teilhat und durch das sich Wissen (aus-)bilden lässt. Das „take part“, das Mitmachen erweist sich als ein „part-of relation“.

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Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007): Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. 2 Bände, Hamburg.

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Benjamin, Walter (2002): Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 24. April 1934. In: Ders.: Medienästhetische Schriften, Ausw. u. Nachw. v. Detlev Schöttker, Frankfurt am Main, S. 231–247.

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Bundesassistentenkonferenz – BAK (1970): Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen. Schriften der Bundesassistentenkonferenz 5. Bonn.

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Boltanski, Luc / Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

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Dubach, Selma/Badura, Jens (2015): Denken/Reflektieren. (Im Medium der Kunst). In: Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke et al. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich, Berlin: diaphanes, S. 123–126.

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Foucault, Michel (2007): Technologien des Selbst. In: Defert, Daniel / Ewald, François (Hg.): Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 287-317.

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Hempfer, Klaus W. /Volbers, Jörg (2011): Vorwort. In: Diess. (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld: transcript, S. 7–12.

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Herzogenrath, Wulf (1978): Feldforschung. in: Ausstellungskatalog: Feldforschung. Kölnischer Kunstverein 22. April bis 28. Mai 1978, Köln, S. 4–5.

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Holert, Tom (2011): Künstlerische Forschung. Anatomie einer Konjunktur/ Artistic Research. Anatomy of an Ascent: In: Texte zur Kunst, Heft 82, Juni 2011, S. 38–63.

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Hossmann, Herbert/Kahl, Margrit/Liptow, Hilmar und Renate/Oppermann, Anna/Reimers, Renate/Schneede, Uwe M./Wüllner, Charly (1979): Kunstpolitische Überlegungen. In: Ausstellungskatalog: Eremiten? Forscher? Sozialarbeiter? Das veränderte Selbstverständnis von Künstler, Kunstverein und Kunsthaus Hamburg, 14. Juli bis 26. August 1979, Reinbek, S. 9–11.

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Huber, Ludwig (2009): Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In: Ders./Hellmer, Julia/Schneider, Friederike (Hg.), Forschendes Lernen im Studium. Bielefeld: Universitätsverlag Webler 2009, S. 9–35.

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Jung, Eva Maria (2016): Die Kunst des Wissens und das Wissen der Kunst. Zum epistemischen Status der künstlerischen Forschung. In: Siegmund, Judith: Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? Bielefeld: transcript, S. 23–44.

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Kliche, Dieter (2000): Ästhetik/ästhetisch, Abschnitt I–IV. In: Barck, Karlheinz at al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 1 Absenz – Darstellung, Stuttgart, Weimar, S. 317–342.

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Latour, Bruno (1998): From the World of Science to the World of Research? In: Science 10 April 1998: Vol. 280 No. 5361 pp. 208-209. Online unter: http://science.sciencemag.org/content/280/5361/208

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Lee, Pamela M. (2015): Etwas demonstrieren. In: Ausstellungskatalog: to expose, to show, to demonstrate, to inform, to offer. Künstlerische Praktiken um 1990, hrsg. von Matthias Michalka. Museum moderner Kunst. Stiftung Ludwig Wien, Köln: Buchhandlung Walther König, S. 36–46.

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Ludwig, Christian (2013): Kritische Theorie und Kapitalismus. Die jüngere Kritische Theorie auf dem Weg einer Gesellschaftstheorie, Wiesbaden: Springer VS.

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Marchart, Oliver (2001): Der Cultural Turn zur Akademie und zurück. Kulturstudien zwischen Institutionalisierung, Disziplinierung und dem Theorie-Praxis-Gap. In: Bauer, Ute Meta (Hg.): Education, Information, Entertainment. Aktuelle Ansätze künstlerischer Hochschulbildung, Wien: edition selene, S. 132–148.

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Mersch, Dieter (2012): Kritik der Kunstphilosophie. Kleine Epistemologie künstlerischer Praxis. Online unter: Mersch_Kritik der Kunstphilosophie_2012.pdf, S. 1–22. (2.8.2016).

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Moulier-Boutang, Yann (2001): Marx in Kalifornien: Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bd. 52-53, Kulturelle Globalisierung, S. 29–37.

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Münch, Richard (2006): Drittmittel und Publikationen. Forschung zwischen Normalwissenschaft und Innovation. In: Soziologie, 35. Jg., Heft 4, 2006, S. 440-461.

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Münte-Goussar, Stephan (2009): Forschendes Lernen. In: Meyer, Torsten/Sabisch, Andrea (Hg.): Kunst, Pädagogik, Forschung. Aktuelle Zugänge und Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 149–164.

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Peters, Sibylle (2013): Das Forschen aller – ein Vorwort. In: Diess. (Hg.): Das Forschen aller, Bielefeld: transcript, 7–21.

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Piper, Adrian (2002): Notes on Funk I–IV. In: Breitwieser, Sabine/Generali Foundation (Hg.): Adrian Piper seit 1965. Metakunst und Kunstkritik. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, S. 231–247.

In ähnlicher Weise perspektiviert die Kulturwissenschaftlerin und Performerin Sibylle Peters die Forschung. Sie macht in ihren wissenschaftlichen und künstlerischen Projekten den Begriff der künstlerischen Forschung stark und versucht, „vielen Menschen, Nicht-Künstler_innen und Nicht-Wissenschaftler_innen, [zu] ermöglichen […], sich an Forschungsprozessen zu beteiligen.“ Peters stellt sich dabei der Herausforderung, Forschungsprozesse zu initiieren, „an denen potentiell – je nach Forschungsfrage, Feld der Untersuchung und Art des Problems – alle Mitglieder der Gesellschaft beteiligt sind“. (Peters 2013: 11f.)

Das Forschende Lernen setzt sich das Ziel, Wissenschaft als sozialen Prozess erfahrbar werden zu lassen und stellt sich in die Tradition jener geistigen Väter, welche die Universität als eine Bildungsinstitution begriffen.

Das Forschende Lernen vermittelt dementsprechend, folgt man der einschlägigen Literatur, nicht notwendig berufsrelevantes Wissen, es fördert vielmehr „Kernkompetenzen für Berufsfähigkeit in hochqualifizierten Berufen bzw. Professionen“; etwa den „Umgang mit Unbestimmtheit“, der im Forschen gebraucht und geübt werde und ein nachhaltiges „tiefes Lernen“, bei dem der Lernende „sein Wissen selbst organisiert, es elaboriert und kritisch reflektiert.“ (Huber 2009: 17).

Christian Ludwig nennt vier neue Deutungen des Kapitalismus: Dies sind: „Globaler Kapitalismus“ (Ulrich Beck und Michael Hardt/Antonio Negri), „Ökologischer Kapitalismus“ (Thomas Barth und Christoph Görg), „Finanzmarktkapitalismus“ (Christoph Deutschmann und Paul Windolf) und „Netzwerkkapitalismus“ (Luc Boltanski/Ève Chiapello und Manuel Castells). Im neuen Kapitalismus, der die Sozialkritik und Künstlerkritik aufgenommen hat, wird den Individuen eine wesentlich höhere Bedeutung auferlegt, ganz besonders dann, wenn sie in der Lage sind, ihre eigenen Leistungen den geforderten Rahmenbedingungen anzupassen. (Ludwig 2013: 132, 222)

Die Autonomieforderungen und Verantwortungszuschreibungen sind heute auch Instrumente einer neuen Herrschaftspraxis, die der Ideologie eines neoliberalen Marktes förderlich ist.

Der im 17. Jahrhundert ausgebildete neuzeitliche Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriff, wie ihn Descartes nachdrücklich vertrat, setzte allein auf das denkende Ich und begegnete der sinnlichen Wahrnehmung mit äußerstem Misstrauen. Zur Entwicklung der Ästhetik vgl. grundlegend den Eintrag „Ästhetik/ästhetisch“ der Ästhetischen Grundbegriffe. Eine historische Darstellung der Entwicklung der Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin gibt darin Dieter Kliche (2000). Die grundlegende Abhandlung in diesem Kontext ist bekanntermaßen die 1750 von Alexander Gottlieb Baumgarten veröffentlichte Aesthetica. Der Aesthetica gingen zahlreiche Schriften und Debatten voran. So sprach sich etwa Leibniz gegen einen kategorialen Unterschied zwischen Verstand und Sinnlichkeit aus und begriff diese als verschiedene Erkenntnisformen. Baumgarten selbst hat in verschiedenen der Aesthetica vorausgehenden Schriften, den Begriff der Ästhetik eingeführt und populär gemacht. (Baumgarten 2007)

Erst indem ein Inneres im Äußeren, das heißt einem Medium „sich zu erkennen (gibt)“, wie es in den Vorlesungen über die Ästhetik heißt, erhält das Geistige eine wahrnehmbare Präsenz – „eine Erscheinung, die etwas bedeutet“; sie stellt sich folglich „nicht selber und das, was sie als äußere ist, vor, sondern ein anderes. (…) Ja, jedes Wort schon weist auf eine Bedeutung hin und gilt nicht für sich selbst“ (ebd., 6).

Reflexion wird hier als eine geistige Tätigkeit verstanden, die sich auf die Denk- und Vorstellungsakte selbst richtet.

Die Teilhabe am Wissen meint hier nicht allein die vermeintlich aktive Tätigkeit eines/einer Forschenden, sondern – dies wird gerade im Kontext des dritten Kapitalismus evident – der Beitrag am Wissen durch ein gemeinhin alltägliches Surfen im Netz.

Infolgedessen sind meine Lesarten der folgenden künstlerischen Beispiele keine essentialistischen Bestimmungen von einem Wissen der Kunst, sie fokussieren vielmehr Praktiken und Darstellungsstrategien, die eine kritische Wissenspraxis in Aussicht stellen.

Das 1983 fertig gestellte 15-minütige, unter der Regie von Sam Samore produzierte Video zeigt Pipers Lessons an der University of California, Berkeley. Ausschnitt unter: http://www.adrianpiper.com/vs/video_fl.shtml

Laut Piper gelang es, die ausgelösten Reaktionen in kleinen parallel zu den Events veranstalteten Gruppen zu artikulieren und manchmal auch abzubauen. Das Ergebnis solcher Treffen schildert sie als „kathartisch, therapeutisch und intellektuell stimulierend“ (Piper 2002: 236).

Foucault beschreibt mit „Gouvernementalität“ die Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst. In der Familie wie in Institutionen – etwa der Schule, den Krankenhäusern und Unternehmen – werden (Selbst-)Praktiken eingeübt, durch die sich das Individuum in irreduzibler Weise auf sich selbst bezieht und sich subjektiviert. (Foucault 2007).

So schreibt beispielsweise Wulf Herzogenrath in seinem Vorwort im Ausstellungskatalog Feldforschung: „Kunst wird klischeehaft mit subjektiv, genialisch individuell gleichgesetzt, obwohl von Anfang an der Künstler mit dem Handwerker und dem Wissenschaftler eng verbunden war. Künstler haben immer nüchtern beobachtet, wissenschaftlich analysiert, Erfindungen gemacht, wenn sie natürlich auch im Bereich ihrer Themen und ihres Mediums blieben“. (Herzogenrath 1978: 4)

Oliver Marchart erkennt in den Cultural Studies den Versuch einer allgemeinen „Neulegitimation der humboldtschen Universitätsidee durch eine mehr oder minder zeitgemäße Reformulierung des Kulturbegriffs“. Die Versprechen der Cultural Studies sind lnterdisziplinarität, Politisierung von Lehrinhalten und die Überwindung des Theorie-Praxis-Gap (vgl. Marchart 2001: 132).

Elke Bippus ( 2016): Teilhabe am Wissen. „Part-of Relation“ oder performative Forschung im Feld der Kunst. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/teilhabe-am-wissen/