Jenseits der Differenz

Ein Gespräch über Kollaboration

Das folgende Gespräch geht auf einen Austausch von Überlegungen per E-Mail zurück. An seinem Anfang stand ein Zitat von Christoph Schlingensief, in dem der Künstler und Theaterschaffende seine Zusammenarbeit mit Menschen mit einer Behinderung beschreibt. Es stammt aus der posthum publizierten Textsammlung Ich weiss ich war’s (2012),star (*1) in der Schlingensief seine künstlerische Arbeit einer radikalen Selbstreflexion unterzieht.

Inherent Crossing ist ein seit 2012 laufendes Projekt des Künstlers Benjamin Egger in Zusammenarbeit mit Prof. Dieter Maurer von der Zürcher Hochschule der Künste, Angela Widmer vom Walter Zoo Gossau und Prof. Carel van Schaik vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich. In wöchentlichen Sitzungen mit einer Schimpansengruppe wurden über 20 Monate hinweg Beobachtungen zur Selbstmotivation im Umgang mit Malutensilien gemacht. Die Reflexion stützt sich zum einen auf eine Analyse des generierten Bild- und Videoarchivs und zum anderen auf Überlegungen im Sinne des von Karen Barad mit „Intra-Action“ eingeführten Begriffes einer gegenseitigen Verwicklung (Barad 2007).star (*3) (https://www.zhdk.ch/index.php?id=93656)
Der Kunstwissenschaftler Marcel Bleuler ist Gastforscher am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion/Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst und arbeitet als Projektleiter für artasfoundation, einer privaten Schweizer Stiftung für Kunst in Konfliktregionen. In internationaler Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden und Menschen, die von bewaffneten Konflikten und ihren Auswirkungen betroffen sind, baut artasfoundation Strukturen für künstlerische Produktion, für Begegnung und Austausch auf. Die Stiftungstätigkeit positioniert sich im Feld des „civilian peace building“. Mit kontinuierlichen Kooperationen, Initiativen und Workshops unterstützt sie Prozesse des Wiederaufbaus und der sozialen Transformation. (www.artasfoundation.ch)

„Ich arbeite wahnsinnig gerne mit meinen behinderten Freunden zusammen. Weil sie eine Autonomie auf die Bühne bringen, die ich nicht beeinflussen kann. Weil sie Antennen auf dem Kopf haben, die bei uns schon längst abgeknickt sind, und auf ihre ganz eigene Weise genial sind. Zum Beispiel Mario Garzaner: Der schafft es, den Raum zum Leuchten zu bringen. Unsereins turnt da rum und hat mal, boing, ganz kurz Licht an. Aber die meiste Zeist ist alles dunkel. Nicht bei Mario. Da kann man machen, was man will, der schafft es, dass alles hell leuchtet, wenn er auftritt.“ (Schlingensief 2012: 115.)star (*1)

Wir stießen auf das Zitat nachdem wir uns über Benjamins künstlerisches Forschungsprojekt Inherent Crossing (seit 2012) und sein generelles Interesse an der Kollaboration mit Amateuren/innen und mit Tieren unterhalten hatten. Bei dem Gespräch wurde offensichtlich, dass ein Vokabular für die präzise Beschreibung dieses Interesses und dessen, was bei der Involvierung in kollaborative Prozesse zum Tragen kommt, fehlt. Ein Fehlen, das auch für Marcel spürbar ist, der im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit ebenfalls mit meist kunstfernen Menschen an kollaborativen künstlerischen Prozessen arbeitet.

Anknüpfend an Schlingensiefs Äußerungen entspann sich ein längerer E-Mail-Wechsel. Wir waren uns zwar darin einig, dass Schlingensiefs Unverblümtheit das Potential birgt, etwas auf den Punkt zu bringen, das sprachlich eben nur sehr schwer zu fassen scheint. Zugleich waren wir uns aber uneinig, ob sich in seinen Äußerungen die Idealisierung einer Unverdorbenheit abzeichnet, die deshalb alarmierend wirkt, da sie auf Individuen – „die Behinderten“ – angewendet wird, die sich aus gesellschaftlicher Sicht in einer schwächeren Position befinden als der Sprechende selbst.

Der E-Mail-Wechsel richtete sich somit zuerst auf Schlingensiefs Vergleich zwischen den schwächer Gestellten und „Unsereins“, worunter Nicht-Behinderte und im weiten Sinne professionelle Kunstschaffende zu verstehen sind. Sind die Qualitäten, die Schlingensief den Menschen mit Behinderung zuschreibt, tatsächlich als etwas zu verstehen, was „uns“ abhanden gekommen ist (wie er beschreibt)? Oder handelt es sich hier um die Projektion eines von der Unzufriedenheit mit der „Hochkultur“ (Schlingensief 2012: 166)star (*1) getriebenen Künstlers, der sich an der Vorstellung einer ursprünglichen Unverdorbenheit nährt? – Schlingensief lässt keinen Zweifel daran offen, dass er einen Gegenentwurf zum etablierten Kunstbetrieb für dringend notwendig hält. Diesen Gegenentwurf scheint er in der Kollaboration mit kunstfernen Menschen zu finden. Er spricht und agiert jedoch nicht als „einer von ihnen“, und es drängt sich die Frage auf, ob er sie aus der Position des Außenstehenden für seine Zwecke instrumentalisiert.

Der Einwand erscheint wichtig, zugleich wird er der Sache auch nicht ganz gerecht. So stellte Benjamin in Frage, ob Kunstschaffende, die beispielsweise mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeiten, überhaupt kategorisch als Außenstehende zu verstehen sind. Ist es nicht ebenso möglich, dass in der Zusammenarbeit die scheinbar klare Trennlinie zwischen „Unsereins“ und „den Anderen“ unscharf werden kann? Und besteht nicht gerade auch darin ein Interesse von Kollaborationen, also im Potential, dass die Zusammenarbeit gesellschaftliche Positionszuschreibungen und die Begriffe untergräbt, mit denen Andere letztlich zu den Anderen und wir zu den Mächtigeren gemacht werden?

Der Mailwechsel entfernte sich von Schlingensief. Stattdessen fokussierten wir das Potential von Kollaboration, bei den Involvierten eine gegenseitige Wahrnehmung entstehen zu lassen, die vorherrschende Positionszuschreibungen und die ihnen zugrunde liegenden Wertesysteme zu verändern vermag. Eine Wahrnehmung, die es überhaupt ermöglicht, das „Licht“ (Schlingensief) des Anderen zu erfahren. Dabei, so waren wir uns einig, kommt aber nicht nur diesem „Licht“ die entscheidende Rolle zu, sondern ebenso der eigenen Offenheit, sich auf die Erfahrung einzulassen.

Beim Versuch, diese Offenheit näher zu benennen, kamen wir auf Mark Terkessidis und sein Buch Kollaboration (2015)star (*2) zu sprechen. Für Kollaboration bedarf es einer Offenheit, die dem nahe kommt, was Terkessidis ein „organisches Sensorium“ (171)star (*2) nennt. Also etwas, was im Sich-Involvieren zum Tragen kommt und sich jenseits des Verbalen-Begrifflichen auf einer „indirekt-viszeralen“ Ebene abspielt.

Obwohl die Idee bei Terkessidis nicht weiter ausgearbeitet wird, konnten wir uns an diesem Punkt darauf einigen, dass dieses viszerale Sensorium die entscheidende Ebene für die Beschreibung dessen ist, was in Kollaborationen passiert. Will man ein Vokabular für das Interesse an Kollaboration und für ihr Potential finden, muss man also Dinge benennen, die eigentlich jenseits des Verbal-Begrifflichen liegen und die, wie sich an Schlingensiefs Zitat zeigt und wie auch Terkessidis deutlich macht (172),star (*2) angreifbar sind. Das folgende Gespräch ist als ein Versuch dazu zu verstehen. Es basiert auf einer spezifischen Haltung gegenüber Kollaboration, die sich wie folgt benennen lässt: Durch das Sich-Einlassen und die non-verbalen Kommunikationsvorgänge, die im Prozess der Zusammenarbeit stattfinden, entsteht eine Wahrnehmung des Anderen, die die eigene Positionierung in Bewegung bringt. Es mag sein, dass es sich dabei um eine subjektive und auf den Prozess der spezifischen Zusammenarbeit beschränkte Erfahrung handelt. Zugleich besteht aber auch die Möglichkeit, dass dadurch tatsächlich Gegenentwürfe sichtbar werden, die die „kognitiven oder politischen Konventionen“ (Terkessidis 2015: 177)star (*2) von gefestigten gesellschaftlichen Institutionen wie dem Kunstbetrieb verändern.

Ausbleibender Repräsentationsdruck

Marcel: Im Zusammenhang mit deinem Forschungsprojekt Inherent Crossing hast du gesagt, dass Affen „Super-Amateure“ seien. Was genau meinst Du damit?

Benjamin:  In unseren Sitzungen mit den Schimpansen ging es darum, ob sie sich selbstmotiviert mit Malutensilien beschäftigen, die wir ihnen zur Verfügung stellen. Wir haben das Ganze von Anfang an als Angebot für die Schimpansen verstanden, also wie eine Art Workshop – ohne ihnen Futterbelohnungen für die Teilnahme anzubieten oder sie irgendwie räumlich einzusperren oder abzutrennen. Als Blacky, eine ältere Schimpansin, nach drei Monaten mit dem Streichen anfing, war das für uns wie ein Wunder. Sie war dann nahezu bei jeder Sitzung dabei. Doch äußere Faktoren, zum Beispiel ob die anderen Schimpansen Blacky zum Bereich mit den Malutensilien überhaupt durchlassen oder ob die Jüngeren ihr beim Malen in den Rücken springen, beeinflussten ihren Umgang mit dem Material stark. Wir sahen ihr Potential und ihre Freude mit Pinsel, Farben und Malunterlage zu hantieren – doch das Umfeld erlaubte es ihr je nachdem nicht dem nachzugehen.

Inherent Crossing (Sitzung vom 14.4.2014, im Bild: Angela Widmer und Blacky), Walter Zoo Gossau, 2014. Foto: Benjamin Egger

Inherent Crossing (Sitzung vom 14.4.2014, im Bild: Angela Widmer und Blacky), Walter Zoo Gossau, 2014. Foto: Benjamin Egger

Ein/e Amateur/in bewegt sich auch immer in diesem Schwebebereich. Sie oder er kann vielleicht mehr oder weniger singen, tanzen oder malen, doch wenn sich das Umfeld unvorteilhaft verhält, ist das Potential weg. Doch das Gefühl bei der Tätigkeit treibt einen dazu, immer wieder zu kommen, es wieder zu erleben. Der Begriff Amateur kommt von Liebhaber. Für mich heißt dies in seiner idealen Form, dass sich jemand aus reiner Liebe einer Aktivität widmet, die sie oder er durch das Ausüben dieser Aktivität erlebt. Mit Hingabe und aus Selbstgenügsamkeit. Gerade in diesem Punkt ist das Tier noch einen Schritt radikaler als der Amateur. Tiere sind auf eine radikale Weise selbstgenügsam und agieren darin ebenso radikal hingebungsvoll. Blacky und auch die anderen vier Affen, die regelmäßig teilgenommen haben, haben nicht mitgemacht, um danach ihre Werke herumzuzeigen und damit attraktiver zu wirken. Es hat sie einfach fasziniert, was sie mit diesen Utensilien machen können. In dem Sinn ist ein Schimpanse ein Super-Amateur.

Marcel: Du implizierst, dass du bei Affen und Amateuren/innen etwas wiederfindest, was „uns“ respektive dem etablierten Kunstbetrieb abhandengekommen ist.

Benjamin: Es ist die Qualität der Hingabe in den Moment, das Ausbleiben des Repräsentationsdrucks. Wenn ich mich in der heutigen Kunstwelt umsehe, fehlt mir dies. Die Professionalisierung des Kunstbetriebs hat das Amateur-Moment bei den meisten Kunstschaffenden zerstört. Der spielerische Zugang, das nicht zielgerichtete Schaffen, das in einer Ernsthaftigkeit vollzogen wird, die aufmerksam ist auf das, was passiert, ohne aber auf ein Produkt hinzuarbeiten, ist uns abhandengekommen. In dieser Art von Hingabe sind die Schimpansen uns voraus. Als Künstler oder Künstlerin bist du vom Interesse anderer abhängig. Erfolg und Misserfolg werden von anderen entschieden, von Kuratoren/innen, Theoretiker/innen, Galeristen/innen und so weiter. Im professionalisierten Kunstbetrieb wird dies so angenommen und wenn du bestehen willst, dann musst du in diesem Gefüge agieren. Dieser Druck greift früh in das künstlerische Schaffen ein. Bevor du das Kunst-Machen lieben lernst, musst du dir bewusst sein, wie das professionalisierte System funktioniert. Ich denke, wenn wir den „affigen Zugang“ nicht wiedergewinnen, ist die Kunst schlicht verloren.

Marcel: Dann willst du eigentlich durch die Zusammenarbeit mit Amateuren/innen und Tieren dem Wertesystem des heutigen Kunstbetriebs gegensteuern?

Benjamin: Es geht mir um eine Rückbesinnung darauf, was Kunst denn kann und soll in unserer Gesellschaft und für mich persönlich. Mich interessiert die Frage, wie ich ästhetische Äußerungen produzieren kann, die in mein Selbst und in das der Rezipienten/innen eingreifen. Es geht um Transformation von einem selber, ohne einen Nutzen außerhalb von dieser zu erwarten.

Beim Projekt STOKES, das ich 2013 mit Danique Wiesli realisierte, haben wir mit einer Gruppe von Amateuren, Amateurinnen und professionellen Kunstschaffenden gearbeitet. STOKES ist eine Art Musical, das die Qualitäten des Amateurhaften und gleichzeitig seine Gnadenlosigkeit gegenüber dem Publikum thematisiert und zelebriert. In erster Linie ist es aber eine gemeinsame Handlung, die in einer Aufführung endet.

STOKES, Theater der Künste, Zürich, 2013. Foto: Sévérine Urwyler

STOKES, Theater der Künste, Zürich, 2013. Foto: Sévérine Urwyler

Zu dieser Handlung gehören alle Beteiligten, und sie steht und fällt mit der emotionalen Anteilnahme aller Involvierten. Mein Bruder Thomas hat zum Beispiel in STOKES einen Auftritt mit einer kleinen Brass-Band. Er selber hat die beiden Mitmusiker Emilie Heinimann und Jonti Warris angefragt, und Emilie hat das Stück für den Auftritt umgeschrieben. Die drei kennen sich von der Arbeit in einer Bank. Die Teilnahme an STOKES wurde Teil ihres Arbeitsalltags. Die Verantwortlichkeit für ihren Part haben sie selber wahrgenommen. So war es mit den meisten anderen auch. Insgesamt waren das fünfzehn Performer/innen. Unser Anspruch war, über das Amateurhafte selbst ein Stück zu machen und grundsätzliche Thematiken wie die Wiederholung, das Zitat, das Spielerische und das Gebrochene im Ausdruck zum Inhalt zu machen.

Das Faszinierende bei dieser Arbeitsweise ist, dass sich in der Gruppe der Beteiligten eine Vision generiert, die nicht hinterfragt werden kann, weil sonst das Ganze in sich zusammenfällt. Alle Beteiligten tragen und verändern die Vision mit. Man wird zu einer Gemeinschaft im wahrsten Sinn des Wortes. Nur wer dies in der Aufführung selber erkennt, kann das Werk verstehen. Es braucht Offenheit hierfür.

In der Zusammenarbeit mit Tieren, geht es ebenso um diese Aspekte. Es geht um das Eigentliche und seine Zeitlichkeit. Mit den Schimpansen der ästhetischen Äußerung nachzugehen, erfüllt mich deshalb auf mehreren Ebenen. Ich habe unglaublich viel über das Kunstmachen von ihnen gelernt.

Offene Begegnungen

Benjamin: Du arbeitest ja selber auch in einem Bereich, wo Kunst jenseits des etablierten Kunstbetriebs stattfindet. Mit der Stiftung artasfoundation realisierst du Workshops und Ausstellungen mit Menschen, die in Grenz- oder Konfliktregionen leben. Was erhofft ihr euch von diesen Projekten? Geht es nicht auch darum, dass über das gemeinsame Produzieren von Kunst etwas entstehen kann, dessen Wert in der individuellen Transformation liegt? Und wenn ja, was für eine Transformation strebst du hier an?

Marcel: Ich bin eher vorsichtig, wenn es darum geht, der Kunst eine transformierende Rolle zuzuschreiben. Ich glaube, dass Kunst für den Einzelnen einen großen Wert haben kann und dass künstlerische Produktionen für eine Gemeinschaft wichtig sind, gerade auch für Menschen, die in fragilen Kontexten leben. Ich merke aber, dass mich Ansätze, die Kunst als „Empowerment“ oder als „Relief Space“ beschreiben oder die den potentiellen Beitrag von Kunst zu Prozessen des „Social Change“ festzumachen suchen, oftmals abstoßen. Das wirkt sehr schnell zu allgemein und idealisiert. Wenn ich aber von meiner persönlichen Erfahrung ausgehe, dann kann ich sagen, dass das gemeinsame Realisieren von Kunstprojekten für mich einen transformativen Charakter hat. Ich habe bisher in drei Regionen im Südkaukasus an Workshops und Kunstprojekten teilgenommen, das heißt organisatorisch mitgearbeitet.

Bring your own chair (Film-Screening an der Administrativgrenze zu Abchasien), nahe von Zugdidi (GEO), 2013. Foto: Corina Caviezel

Bring your own chair (Film-Screening an der Administrativgrenze zu Abchasien), nahe von Zugdidi (GEO), 2013. Foto: Corina Caviezel

Die Verständigung, die nötig ist, wenn man, wie wir, von der Schweiz in ein anderes Land mit einer anderen Geschichte, anderen politischen, gesellschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen und einem meist völlig anderen Kunstbegriff kommt, setzt etwas in Gang. Man wird offen und sensibel dem Anderen und auch sich selbst gegenüber. Die Differenzen und oftmals auch die Sprachprobleme zwingen einen, vieles abzulegen, was man sich im gewohnten Umfeld antrainiert hat, und sich auf das Eigentliche zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang verstehe ich auch, was du mit dem ausbleibenden Repräsentationsdruck meinst und was das für eine Kraft auslösen kann. Meistens arbeiten wir mit Leuten zusammen, die einen amateurhaften oder stark traditionsorientierten Zugang zu Kunst haben. Wenn ich spüre, wie sich trotz aller Unterschiede eine Verbindung aufbauen lässt, wie man sich über Dinge austauscht, die viel mit Intuition und Vorstellungskraft zu tun haben, und wie man total Freude bekommen kann, an Dingen, die von außen betrachtet vielleicht wenig spektakulär wirken, dann kommt mir das sogar als mehr als nur eine individuelle Transformation vor.

Benjamin: Aber es muss ein ziemliches Gefälle geben zwischen den Menschen in einer Konfliktregion und euch, die aus einem sicheren westlichen Sozialstaat kommen. Ich stelle mir vor, dass es in euren Projekten auch um eine Art humanitäre Hilfe geht. Oder wie stellt ihr euch innerhalb eurer Projekte selber dar? Und wie gehst du mit dem Gefälle konkret um?

Marcel: Mit dem Versuch, möglichst selbstkritisch und sensitiv zu sein und trotzdem an der Zusammenarbeit gerade auch unter den ungleichen Vorzeichen festzuhalten. Ich würde meinen Beitrag zu den Projekten in Georgien nicht als humanitäre Hilfe bezeichnen, das weckt falsche Assoziationen. Die lokalen Beteiligten sind nicht in akuten Notsituationen. Sie verfügen zwar meist über wenig Mobilität und Ressourcen und leben in geopolitisch fragilen Situationen, aber sie haben zum Beispiel auch Smartphones und sind bestens über das Internet vernetzt. Mich stört auch der Begriff der Hilfe. Ich bin nicht in der Position, helfen zu können, außer vielleicht, dass wir für unsere Projekte Gelder beantragen und mitbringen können. Maja Leo, die auch für artasfoundation arbeitet, sagt immer, dass die Umverteilung von Geld wichtig sei. Das glaube ich auch, vor allem wenn man bedenkt, dass wir allein schon über die Nahrungs- und Textilindustrie global verkettet sind und Ungleichheit letztlich täglich ausnützen. Zugleich fühlt es sich nicht gut an, wenn man als „Geldbringer“ behandelt wird. Ich glaube aber, dass man mit dem eigenen Verhalten schon die Möglichkeit hat, das zumindest teilweise abzuwenden. Ich versuche, mich nicht als Repräsentant der westlichen Wohlstandsgesellschaft zu verhalten und ebenso wenig die lokalen Beteiligten als Repräsentanten, zum Beispiel als „Kriegsbetroffene“, zu adressieren. Wenn es um die Organisation und um Entscheidungen geht, dann macht sich das Gefälle, das du ansprichst, immer wieder bemerkbar. Aber sobald man anfängt, mit Leuten stundenlang auf einen Techniker zu warten, oder wenn man nach dem Essen plötzlich zusammen singt, oder wenn man sich gegenseitig beobachtet beim Fotografieren oder Zeichnen, dann kann eine Menschlichkeit jenseits der Differenz und des Gefälles zum Tragen kommen.

Skulptur-Workshop im Vorfeld des Tskaltubo Art Festival, Tskaltubo (GEO), 2015. Foto: Natela Grigalashvili

Skulptur-Workshop im Vorfeld des Tskaltubo Art Festival, Tskaltubo (GEO), 2015. Foto: Natela Grigalashvili

Benjamin: Ich denke, es hat mit Offenheit zu tun – wie man dem Anderen begegnet. Wenn eine Begegnung tatsächlich stattfindet, gibt es den Anderen als gesellschaftlich-kulturelles Konstrukt nicht mehr. In der offenen Begegnung, also „ich und du“, ohne zum Beispiel „ich als Mensch und du als Tier“, sondern „Ich-Körper und Du-Körper“, denke ich nicht an die Andersartigkeit, sondern verhalte mich einfach zu meinem Gegenüber. Wenn wir den Anderen auf eine Vergleichsebene stellen, bricht dies zusammen. Betrachten wir den Schimpansen als fast-so-klug wie den Menschen, können wir seine Schimpansen-Klugheit gar nie wahrnehmen. Diese Klugheit beinhaltet vielleicht ganz andere Lösungsansätze und bewegt sich in anderen Wertsystemen, die uns als Menschen schlicht nicht zugänglich sind.

Inherent Crossing (Sitzung vom 19.3.2015, im Bild: Mojo), Walter Zoo Gossau, 2015. Foto (Videostill): Benjamin Egger

Inherent Crossing (Sitzung vom 19.3.2015, im Bild: Mojo), Walter Zoo Gossau, 2015. Foto (Videostill): Benjamin Egger

Das ist ein defizitärer Zustand. Nur im Bewusstsein um dieses Defizit, nämlich, dass wir den Schimpansen nicht verstehen können, bleiben wir offen für ihn. Diese zugelassene Offenheit entsachlicht unser Urteil und unsere Reflexion. Ich spreche hier von einem Vorgang, der es zulässt, dass das Gegenüber zu einem Teil von einem selber wird. Es geht in dem Sinn nicht um einen rational gesteuerten Vorgang, sondern vielmehr um ein emotionales Wagnis, das man eingeht, indem man den anderen als Bestandteil des eigenen Ichs zu fühlen beginnt. Gerade im Naturwissenschaftskontext spricht man vom Affen als Beinahe-Mensch und stellt ihn dadurch in eine minderwertige Beziehung zum Menschen. Dabei geht der Affe als eigenständiges Gegenüber völlig abhanden. Einerseits beruhigt es mich, dass dies den Affen eigentlich einen Dreck schert, andererseits ist es aber so, dass sein Lebensraum, sei das die Naturschutzzone oder der Zoo, durch diese Fremddefinition bestimmt und auch eingeschränkt respektive gefährdet wird. Es gibt also eine existentielle Verantwortlichkeit, die diejenigen mit der Definitionsmacht gegenüber den Definierten haben.

Marcel: Das Ausschalten einer Vergleichsebene und das Wissen um die eigenen Defizite sind Aspekte, die mir auch in der Kollaboration mit Menschen in marginalisierten Regionen, die kaum eine internationale Aufmerksamkeit erhalten und von schwierigen Bedingungen geprägt sind, zentral erscheinen. Ich sehe aber auch die Gefahr, dass man die „Anderen“ zu idealisieren beginnt und sie auf einen Sockel stellt – vielleicht um die eigene Machtposition, in der man sich global-wirtschaftlich gesehen nun mal befindet, und das damit verbundene schlechte Gewissen abzuwenden. Natürlich funktioniert das dann aber nur auf einer sehr vordergründigen Ebene und eigentlich untermauert man damit genau ein Machtverhältnis. Ebenso problematisch finde ich es, wenn man so etwas wie einen Verbrüderungsdiskurs konstruiert, also wenn Kunstschaffende ihre internationalen Kollaborationen als veritable Vereinigung darstellen. Ich finde es besser, wenn Brüche und Differenzen spürbar bleiben. Das hat für mich nichts damit zu tun, den oder die „Andere“ nicht als vollständiges Gegenüber wahrzunehmen, sondern damit, Idealisierungen der Beziehung, in die man tritt, zu vermeiden. Es ist aber sehr schwierig, diese Beziehungen nach außen zu vermitteln, ohne dass dann gleich wieder eine Vergleichsebene und Wertung darauf projiziert wird.

Benjamin: Ich denke, dass sich das Machtverhältnis grundsätzlich stark im Blick auf die Involvierten äußert. Der Art und Weise, wie wir auf Involvierte schauen, liegt immer eine Machtstruktur zugrunde. In Bezug auf das Tier zum Beispiel ist es üblich, es als minderwertig wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Bei meiner Arbeit geht es darum, solche Strukturen in Bezug zu Tieren aufzubrechen. Mich interessiert die Konstruktion der Abgrenzung von Tieren und Menschen. Ich verstehe diese Trennung als gesellschaftlich-kulturelle Praxis, die eine Entzweiung der Lebewesen und damit eine hierarchische Ordnung bewirkt. Diese kulturelle Praxis zeigt sich vor allem auch in ihrer Performativität: Einem Hund darf ich mit der Hand ins Gesicht greifen, bei einem anderen Menschen wäre dies eine Grenzüberschreitung. Wie kann ich solche Strukturen aufbrechen? Und was bedeutet dies für meine Selbstdefinition als Menschen?

SDAAWTUD (Performance von Benjamin Egger), Teatr Powszechny, Warschau, 2014. Foto: Kostiantyn Strilets

SDAAWTUD (Performance von Benjamin Egger), Teatr Powszechny, Warschau, 2014. Foto: Kostiantyn Strilets

Das ist in erster Linie eine persönliche Arbeit an meinem Blick auf das Tier. Da ich hierfür konkret mit Tieren arbeite und Beziehungen aufbaue, begebe ich mich vor allem in die Schusslinie von all denen, die Tiere als minderwertig betrachten, und daraus eine Moral ableiten, die eigentlich auf Unkenntnis basiert. Personen, die selber persönliche Beziehungen mit Tieren haben, verstehen meinen Ansatz.

Lernen ohne Wissenstransfer

Benjamin: Empfindest du denn die tatsächliche Zusammenarbeit als Machtausübung?

Marcel: In der Zusammenarbeit mit Menschen in marginalisierten Regionen gibt es automatisch ein Machtdispositiv, weil wir aus dem „definitionsmächtigen Westen“ kommen. Und genauso wie man dir entgegnen kann, dass du Tiere ausbeutest, kann man uns den Vorwurf machen, dass wir so etwas wie Kultur-Kolonialismus betreiben. Obwohl wir, wie gesagt, sehr vorsichtig sind, lassen sich Vorwürfe, dass wir Menschen abhängig machen oder dass wir westliche Wertvorstellungen exportieren, nicht ohne weiteres zurückweisen. Das ist einerseits gut so, weil sie die Selbstreflexion dringender machen. Andererseits verlieren diese Vorwürfe in der Praxis auch sehr schnell ihre scharfen Konturen. Die lokalen Beteiligten an unseren Projekten machen überhaupt nicht alles mit, sondern sie sind sehr wohl auch selektiv. Ebenso produzieren sie ihre eigenen Bilder von den Kollaborationen, was zum Beispiel im Internet, auf Social Media, sichtbar wird. Die Vorstellung, dass wir ihnen einfach etwas überstülpen oder sie ausbeuten, spricht ihnen implizit eine Souveränität ab, die sie in meinen Augen haben. Aber eben: Das Gefälle besteht, und wir sind aus vieler Hinsicht in der mächtigeren Position. Das verunsichert mich immer wieder, da ich Ungleichheit nicht ausnützen will.

Benjamin: Ich frage mich, ob sich die etablierten Hierarchien auch genau deshalb aufrecht erhalten, weil man so schwer aus diesem Denken herauskommt. Es gibt ein strukturelles Paradox in solchen Situationen: Einerseits sind Beteiligte faktisch in einer schwächeren Position, und anderseits können sie sich nur aus ihrer Schwäche emanzipieren, wenn der Emanzipationswunsch gegenseitig ist, also auch von denjenigen in der mächtigeren Position kommt, was eine Anerkennung des vorherrschenden Machtverhältnisses bedingt. Diese Anerkennung reproduziert das Machtgefälle aber wieder. Gerade in der Co-Existenz mit Tieren zeigt sich dies stark: Tiere können sich nicht gegen die Aneignung ihrer Territorien und Lebensräume durch den Menschen wehren. Der Mensch müsste sich dazu entscheiden, dass es ethisch nicht vertretbar ist, anderen Lebewesen die Lebensgrundlage zu zerstören.

Marcel: Ja, vielleicht bleibt auch genau aufgrund von diesem Paradox ein Unbehagen bestehen. Und trotzdem haben das gemeinsame Arbeiten an Projekten, die Verständigung und der Austausch etwas Erfüllendes. Ich hinterfrage mich da aber durchaus auch kritisch: Erfüllt es mich einfach, aus meiner Routine und aus dem Umfeld eines übersättigten Kunstbetriebs herauszukommen und mich auf die Fremde einzulassen? Erlebe ich die Arbeit mit Kunst in fragilen Kontexten als so etwas wie Inspiration? – Darum darf es doch nicht gehen, zumindest nicht primär. Es ist mir ein Anliegen, Menschen zu begegnen, die einen anderen Erfahrungshintergrund haben als ich. Ich glaube, dass das einen Lernprozess in Gang setzt. Aber was lerne ich wirklich von diesen Begegnungen? Sobald ich das konkret festzumachen versuche, wird es flüchtig. Es hat wohl damit zu tun, dass ich in meinem gewohnten Umfeld typische Verhaltensweisen habe, die persönlich und institutionell bedingt sind, die ich zum Beispiel bei der Projektarbeit in Grenzregionen in Georgien ablegen oder zumindest zurückstellen muss. Ich muss viel flexibler, spontaner und zugleich geduldiger und eben offener sein. Das sind Prinzipien, die im kapitalistisch-kompetitiven Kunst- und Forschungsbetrieb nicht im Vordergrund stehen. In dieser Hinsicht sehe ich – um noch mal auf die Frage nach der Hilfe zurückzukommen – bei mir selbst ein Defizit respektive ein offenes Bedürfnis. Und die Arbeit in fragilen Kontexten bestärkt mich darin, einen „anderen“ Zugang zu Kunst und Forschung zu finden, den ich dann auch wieder zurück in mein gewohntes Umfeld trage. Aber eben: Ich ringe damit, dass diese Arbeit nicht einfach ein persönliches Bedürfnis erfüllen soll, sondern dass es um mehr gehen muss.

Benjamin: Ich sehe genau die Qualität dieser Form von Arbeit darin, dass du dich in erster Linie als Individuum darauf einlässt und dich von diesem „anderen“ Zugang vereinnahmen lässt. Ich denke, dass es Kunst außerhalb eines persönlichen Interesses und Bedürfnisses nicht gibt. Mein Verständnis von Kunst setzt bei der eigenen Subjektivität an. Ich verstehe die Produktion von Kunst als eine Manifestierung der eigenen Subjektivität in Reflexion mit der mich umgebenden Welt. Im Zusammentreffen mit Tieren habe ich schon als Kind eine Unverfälschtheit gefunden, die mich beruhigt. Mit Menschen zu arbeiten, die außerhalb des Repräsentationsdrucks des professionalisierten Kunstbetriebs stehen und einfach gerne ihre Leidenschaft mit einem Publikum teilen, fühlt sich ähnlich unverfälscht an. Ich spreche hier von der Produktivität einer Naivität, die ich in diesem Umgang empfinde, wobei mich die negative Konnotation, die dem Begriff anhaftet, stört. Für mich haben „Naivität“ und auch „Unverfälschtheit“ mit einer bestimmten Art von Wissen zu tun. Die Voraussetzungen, die es braucht, um deinem Gegenüber oder auch dem Kunstmachen naiv und unverfälscht zu begegnen, sind erheblich. Sie können aber nicht als verbal angeeignete oder linear aufgebaute Errungenschaft des Verstandes betrachtet werden, sondern haben viel mehr mit einem Handlungswissen zu tun, das Intuition und Empfänglichkeit einbezieht. Dieses Handlungswissen wird im Umgang mit Tieren oder Amateuren/innen geschärft. Offenheit und Naivität bedingen sich dabei gegenseitig. Das eigentliche Lernen vom Tier geschieht durch das gegenseitige Sich-Aufeinander-Einlassen, dadurch entwickelt sich die Beziehung. Um sich aufeinander einlassen zu können, braucht es eine Art Durchdringung. Ich muss die Welt des Tieres in mir spüren, seine Unsicherheiten in mir zulassen, seine Freude in mir aufkommen lassen. Dies passiert nicht, weil ich es bewusst will, sondern eher weil ich lerne, es mit mir geschehen zu lassen. Wenn ich diese körperlichen Impulse als Information annehme, kann ich wiederum darauf reagieren. Zum Beispiel der Unsicherheit des Tieres mit Gelassenheit begegnen. Dies spielt sich alles auf einer viszeralen Ebene ab. Es ist eine komplett andere Art der Kommunikation als die Sprachliche. Diese Aufmerksamkeit verändert meine Handlungen und dadurch das Gefüge, von dem ich ein Teil bin.

Teilnehmende eines Kunstworkshops an der Administrativgrenze zu Süd-Ossetien, Zemo Nikozi (GEO), 2015. Foto: Marcel Bleuler

Teilnehmende eines Kunstworkshops an der Administrativgrenze zu Süd-Ossetien, Zemo Nikozi (GEO), 2015. Foto: Marcel Bleuler

Marcel: Ich frage mich, ob das, was man lernen kann, genau in diesem Sich-Einlassen liegt. Dass wir also gar nicht so sehr voneinander lernen im Sinne eines Wissenstransfers, sondern dass das Lernen in dem liegt, was zwischen uns passiert.

Benjamin: Ja, aber das ist doch Lernen. Lernen ist immer ein Prozess des Sich-Einlassens. Das hat viel mit einer körperlich empfundenen Offenheit zu tun. Man muss sich durchdringen lassen und dies geschieht nur, wenn du ein persönliches Wagnis eingehst. Für mich ist dieser Prozess sehr grundsätzlich. Diese körperliche Intelligenz – in der die Tiere uns überlegen sind – ist für mich zum Beispiel auch in der künstlerischen Praxis entscheidend. Um mir diese Art von Wissen anzueignen, muss ich es zuerst persönlich erfahren.

Marcel: Aber reicht dir das denn? Liegt dann die Kunst für dich im Lernen dieser körperlichen Intelligenz, in der gegenseitigen Durchdringung? Oder muss dabei etwas herauskommen?

Benjamin: Es kommt ein anderes In-der-Welt-Sein dabei heraus. Ich denke, gerade in der heutigen Zeit ist es bitter nötig sich zu überlegen, wie wir dem Anderen begegnen und was wir als Menschen sein wollen. Und zwar als Überlegung in und aus der Praxis mit dem Anderen. Die Kunst liegt nicht im Lernen dieser körperlichen Intelligenz. Sie ist eine Anwendung davon.

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Schlingensief, Christoph  (2012): Ich weiss, ich war’s, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin: Suhrkamp.

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Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, North Carolina: Duke University Press.

Marcel Bleuler, Benjamin Egger ( 2016): Jenseits der Differenz. Ein Gespräch über Kollaboration. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/jenseits-der-differenz/