Mein Platz im Drumherum

Ein Workshop im Verein Viele

Wie bewegen sich Mädchen und junge Frauen im öffentlichen Raum? Welche Verhaltensnormen werden hierbei sichtbar und wie können diese dekonstruiert und verändert werden? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich der Workshop „Mein Platz im Drumherum“. Das Hinterfragen von Handlungskonventionen lag dem Workshop zugrunde, der sich besonders der Nutzung des öffentlichen Raums durch junge Mädchen widmete: In der Art und Weise, wie heranwachsende Frauen den ihnen zur Verfügung stehenden öffentlichen Raum nutzen, wie sie in diesem auftreten, spiegelt sich die von ihnen eingenommene Position im gesellschaftlichen Gefüge wider. Verhalten sie sich möglichst „platzsparend“ und richten sich stets nach anderen, oder nehmen sie den Raum ein, den sie brauchen? Solche normativen Handlungskonzeptionen waren es, dir wir mit den Mädchen des Vereins Viele*1 *(1) hinterfragen wollten.

Der Einstieg

Im Verein angekommen, wurden wir von der hohen Zahl der Anmeldungen ganz im positiven Sinne überrascht ‑ 18 Mädchen im Alter von acht bis 15 interessierten sich für unsere Idee und fanden sich an jenem Freitagnachmittag in unserem Arbeitsraum ein. Es war uns wichtig, von Beginn an transparent zu machen, worum es uns im Workshop ging: Wir erklärten ihnen, dass der Raum, in dem wir uns tagtäglich bewegen, von unausgesprochenen Regeln durchzogen ist, die vorschreiben, was frau zu tun und was sie zu lassen habe, dass diese jedoch nicht in Stein gemeißelt seien und wir im Workshop gemeinsam kleine „Regelbrüche“ erproben würden. Die notwendige Vorstellungsrunde wünschten wir uns möglichst frei von Kategorisierungen: So baten wir die Mädchen, lediglich ihren Vornamen zu nennen sowie eine Sache, die sie mögen, und eine, die sie nicht mögen. Alter und Herkunft sollten außen vor bleiben. Mit dieser Einstiegsübung sollte gleichzeitig vermittelt werden, dass es auch für Mädchen vollkommen in Ordnung ist, etwas nicht zu mögen und das auch zu äußern. Öffentliche Meinungsäußerung als Bestandteil des selbstbestimmten Einstehens für Bedürfnisse, Werte und Ziele stellte einen zentralen Aspekt des Workshops dar.
Auf die Vorstellungsrunde folgten zunächst zwei Übungen in den Räumlichkeiten des Vereins, bevor wir nach draußen aufbrachen und den öffentlichen Raum betraten.

Écriture automatique ‑ Fragen stellen

Wir wollten den Mädchen die Scheu davor nehmen, Fragen zu stellen, die sich auch in kritischer Weise auf Gegebenes beziehen. Um einen dahin gehenden gedanklichen Kanal zu öffnen, griffen wir auf eine Adaptation der Methode des automatischen Schreibens zurück. Wir baten die Mädchen, zu Fragewörtern, die wir in kurzen Abständen vorlasen, Fragen zu finden und auf die ausgeteilten Papiere zu schreiben. Die Blätter wurden umgeknickt, so dass das Geschriebene nicht mehr sichtbar war, und an die Sitznachbarin weitergegeben. Anschließend wurden die einzelnen Fragen auseinander geschnitten, eingesammelt und vermischt, um sie von den Mädchen zum Beantworten ziehen zu lassen.

Wenngleich das Spiel auch vereinzelt dadurch erschwert wurde, dass die Mädchen zu jung waren, um schnell schreiben zu können, oder es ihnen an Übung in der deutschen Sprache fehlte, stieß es auf großen Anklang. Neben Spaßfragen fanden sich unter anderem Fragen wie „Warum bist du dumm?“. Da wir Anfeindungen keinen Raum im Workshop geben wollten, thematisierten wir den verletzenden Charakter solcher Fragen und nahmen sie heraus. Fragen wie „Warum hast du Haare?“ waren interessanter. ‑ „Um schön auszusehen“, lautete prompt die Reaktion. Diese Antworten boten Anknüpfungspunkte, um in weiterer Folge Normalitäten zu hinterfragen.

Bildkarten

Die nächste Übung sollte die Verbindung zwischen dem Fragenstellen und dem kritischen Erkunden des öffentlichen Raums ermöglichen. Anhand von Bildkarten, die künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum abbilden, konnten die Mädchen sich im interpretierenden Umgang mit Bildmaterial üben. Hier trat die große Bereitschaft der Mädchen zur gegenseitigen Akzeptanz zutage. Über die Abbildung eines Baumes, der im Zuge einer Craftivism*2 *(2)-Intervention farbenfroh eingestrickt worden war, bemerkte ein Mädchen, es bedeute, dass es egal sei, wenn einer beispielsweise anders aussehe. Es ändere nichts daran, dass man dazugehöre. Auf einer weiteren Bildkarte war eine Bank zu sehen, auf der – im Verhältnis betrachtet – eine sehr kleine Person sitzt. Das Mädchen, das die Karte ausgewählt hatte, erklärte, dass auch sie sich manchmal sehr klein fühle, wenn sie sich zum Beispiel mit jemandem gestritten habe. Wir freuten uns, dass ‑ nicht zuletzt angesichts des jungen Alters mancher Teilnehmerinnen ‑ die Interpretationen wohl überlegt, tiefsinnig und teilweise mit persönlichen Erfahrungen verknüpft waren.

„Bildkarten zu künstlerischen Interventionen“: Annäherung an das Eingreifen und Agieren in öffentlichen Raum durch Vermittlungskarten

Raum einnehmen

Der zweite Teil des Workshops fand draußen statt. Auf dem Vorplatz einer Kirche*3 *(3) begannen wir, den öffentlichen Raum zu erkunden und zu erproben. Wir begannen damit, uns mithilfe von Straßenmalkreiden im Raum zu verorten. An einer intuitiv bevorzugten Stelle malten wir den eigenen, benötigten Bereich auf, die sogenannte comfort zone. Mit großer Freude malten die Mädchen Kreise und Vierecke ganz nah bei der Freundin oder für sich allein und mit noch größerer Freude verzierten sie diese. Im Rahmen der anschließenden Diskussion und Reflexion konnten wir feststellen, dass viele der Mädchen ihre „Wohlfühlzone“ in der Nähe einer Freundin platzierten. Daraus ergab sich die Möglichkeit, die Relevanz und Bedeutung von Themen wie Freundschaft, Nähe oder Geschwisterliebe zu thematisieren.

 „Wieviel Platz brauche ich?“

Anschließend versuchten wir uns zusammen mit den Mädchen an einer performativen Übung. Sie sollten in einer Reihe rennen und die sich abwechselnden Vorderfrauen imitieren, die verschiedene Laufarten vormachten. Hierbei durfte jede in die Rolle der Vorderfrau schlüpfen. Die Vermittlungssituation im eigentlichen Sinne ergab sich nicht zuletzt in persönlichen Gesprächen mit den Mädchen, die fortwährend entstanden. So fragte uns eines der Mädchen, nachdem wir die Übung erklärt hatten, ob so etwas denn erlaubt sei. „Ist es denn verboten?“, konnten wir kontern und somit innerhalb der gegebenen Situation auf den angestrebten Bruch ungeschriebener Regeln durch unkonventionelles Verhalten verweisen.

Ziel der Übung war es, sich in der spielerischen Freiheit nicht beirren zu lassen, auch wenn man sich in der Öffentlichkeit befindet. Entgegen der Befürchtungen, Mädchen in der frühen Pubertät würden dieses Verhalten womöglich als peinlich empfinden, sprang eine nach der anderen an die Spitze der Reihe: „Das ist ja eigentlich voll peinlich, aber in der Gruppe macht’s Spaß.“ Dieser Satz eines Mädchens lässt uns glauben, dass der Kern dessen, was wir ihnen vermitteln wollten, angekommen ist: Konventionen können durchaus ausgehebelt und Machtverhältnisse hinterfragt werden.

„Performative Raumaneignung“: Einfach aus der Reihe tanzen? Wir haben’s ausprobiert.

Nach dieser performativen Übung setzten wir uns mit der Thematik auseinander, wie man sich und den eigenen Bedürfnissen Gehör verschaffen kann. Wir hatten mit den Mädchen bereits geübt, Präferenzen und Standpunkte zu formulieren und wollten diesen Prozess mit einer weiteren Übung vertiefen. Diese orientierte sich am gegebenen Raum: Vor Ort ziert derzeit die Plastik eines großen gelben Ohres den Eingang der Kirche. Auf Post-Its konnten die Teilnehmerinnen all das schreiben, was sie in der Öffentlichkeit gehört wissen wollen, und diese anschließend auf das Ohr kleben. Das konnten Wünsche sein oder etwas, das sie schon lange einmal sagen wollten. Durch die Tatsache, dass die Zettel dort kleben blieben, die Botschaften somit auch andere erreichen und weitergetragen werden konnten, wurde diese Übung zu einer kleinen Intervention in den öffentlichen Raum, was den Mädchen sehr gefiel.

Nach kurzer Zeit klebten die unterschiedlichsten Proklamationen und Wünsche vor dem Eingang der Kirche. Bunte Kinderideen auf gelbem Grund: „Immer sagen, was man denkt“ stand da, und „Alles raus lassen“.. Doch auch persönliche Wünsche ‑ „Ich möchte Essen, Frieden, Geld und ein Haus.“ ‑ und Bekundungen eines Gemeinschaftsgefühls, der gegenseitigen Zuneigung und der Bedeutung des Füreinander-Einstehens fanden an dieser Stelle erneut Erwähnung.

„Post-it-Intervention“: Nur wer Bedürfnisse äußern kann, kann auf offene Ohren hoffen.

Alix: “Ich kenne mich in Salzburg nicht gut aus und wusste auch den Weg zurück zum Verein nicht so recht zu finden. Bald aber fand sich je eine kleine Hand in den meinen und die jüngsten der Mädchen, stolz um Kenntnis und Verantwortung, zeigten uns den Weg. Vertrauensvoll begannen sie, mir von sich zu erzählen. Wie es war, in die Schule zu kommen, und die dort gesprochene Sprache nicht zu beherrschen. Vom Zuhause und auch von Träumen: Lehrerin wollte die eine der beiden werden, wenn sie einmal groß wäre. Mit dem konkreten Programm hat das zwar erstmal wenig zu tun, doch solche Situationen geben nicht nur unheimlich viel zurück, sie öffnen auch Raum, Ideen zu kommunizieren, die hinter all dem stehen ‑ Selbstwertgefühl und Mut, den eigenen Weg zu gehen, sowie tiefergehend zu kommunizieren.“

Zurück bei Viele

Um das Erlebte zu sammeln, wählten wir eine Form visualisierter Reflexion. Wir baten die Mädchen, den zurückgelegten Weg, die besuchten Orte und das, was besonderen Eindruck hinterlassen habe, auf ein großes Papier zu zeichnen oder aufzumalen bzw. zu schreiben, was ihnen gefallen oder auch nicht gefallen habe. Hierbei skizzierten die Mädchen auch Orte, an denen wir zwar nur vorbeigegangen waren, die für sie aber wichtig sind, wie zum Beispiel die Schule oder auch ein Einkaufszentrum. Wenngleich sich nicht alle am Malen beteiligen wollten, fiel ihr Urteil überwiegend positiv aus: „Es war sooo coool!“ und „Schade, dass es schon vorbei ist“.

Zum Abschluss besprachen wir anhand des gemeinsam gestalteten Plakats die gesammelten Eindrücke. Außerdem bedankten wir uns bei den Mädchen für die Teilnahme und gestanden, dass das unser erster Workshop gewesen sei. Eines der Mädchen stellte daraufhin fest: „Darum haben Sie so leise gesprochen!“ An unserer Stimmkraft müssen wir also noch arbeiten. Zudem ist die Transparenz bezüglich des Zwecks einer jeden Übung ein Aspekt, den wir in Zukunft besser berücksichtigen wollen. Um sicher zu stellen, dass die Mädchen die intendierten Inhalte mitnehmen können, reicht es wohl nicht aus, das Programm zu Beginn zu erläutern. Eine Möglichkeit könnten regelmäßig eingestreute und an die einzelnen Übungen gekoppelte Informationen sein. Die Freude an der Sache jedoch – auf der Seite der Mädchen und auf unserer –hatte für uns den höchsten Stellenwert. Und wir freuen uns festhalten zu können, dass diese ganz gewiss vorhanden war.

Anne-Marie: „Für mich war es eine neue Erfahrung, mit so vielen jungen Mädchen zu arbeiten. Ich bin positiv überrascht, wie bedacht manche Mädchen bereits in ihren jungen Jahren sind. Das Thema öffentlicher Raum ist nicht einfach zu greifen, dennoch haben die Mädchen mit persönlichen Erfahrungen versucht, sich das Thema anzueignen.“

Der Verein Viele beschreibt sich als Verein für einen „interkulturellen Ansatz in Erziehung, Lernen und Entwicklung.” Er umfasst sowohl ein interkulturelles Frauenzentrum als auch eine Beratungsstelle in Familienangelegenheiten, durch welche Frauen mit Migrationshintergrund das Einleben in Österreich erleichtert werden soll. Sprachkurse werden unter dieser Agenda ebenso angeboten wie Aufklärung über Ernährungskunde oder juristische Angelegenheiten. Siehe: Viele. Frauen/Zentrum/Integration. in URL: http://www.verein-viele.at/wir-uber-uns/. [24.02.2016]

Bei dem Begriff Craftivism handelt es sich um eine Komposition der Begriffe craft (Handwerk) und activism (Aktivismus). Er bezeichnet kreative, in der Regel im öffentlichen Raum angelegte Interventionen, die kritisch auf soziale sowie politische Umstände Bezug nehmen. Mithilfe traditioneller handwerklicher Techniken wird auf Missstände hingewiesen, die mit den verwendeten Gegenständen oder Örtlichkeiten in Bezug stehen. Hinsichtlich der gegebenen Materialien und Mittel steht besonders feministisch oder produktionstechnisch orientierte Kritik im Zentrum des Craftivism. Vgl. Greer, Betsy: “Craftivism.” Encyclopedia of Activism and Social Justice. 2007. SAGE Publications.

Es war kein leichtes Unterfangen, einen Ort für den Workshop zu finden, der für die Übungen mit den Mädchen geeignet erschien. Er sollte genug Platz bieten und Objekte vorweisen, die wir für unsere Übungen nutzen könnten, wie zum Beispiel Säulen oder Stiegen. Wir entschieden uns schließlich für den Vorplatz einer Kirche, der unseren Vorstellungen entsprach. Die religiöse Konnotation des Ortes war für uns in Anbetracht der kulturellen und religiösen Vielfalt der Teilnehmerinnen zwar Thema, wurde jedoch von den Mädchen nicht als Problem angesehen. Unsere Erfahrung zeigte uns außerdem, dass für diese Übung ein großer Platz für viel Bewegungsfreiheit von Vorteil ist, der aufgrund von Schnee und Eis jedoch nicht gegeben war.

Alix Michell, Anne-Marie Zeif ( 2016): Mein Platz im Drumherum. Ein Workshop im Verein Viele. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/mein-platz-im-drumherum/