Are 100 Words Enough to Represent Artistic Research?

Ein Selbstinterview

Nachdem ich gefragt wurde, für dieses eJournal einen Beitrag im Rahmen des Themas Experimentierraum Wissenschaft und Kunst zu schreiben, das im Sommersemester 2017 Ausgangspunkt für eine durch das Interuniversitäre Doktoratskolleg Die Künste und ihre öffentliche Wirkung: Konzepte – Transfer – Resonanz organisierte Ringvorlesung war, entstand in meinen Konversationen mit der Kollegiatin Brigitte Kovacs schnell die Idee, die Form des Selbstinterviews zu erproben, um sich jenen künstlerischen Ansätzen anzunähern, die für sich reklamieren, ,forschend‘ zu sein, und zugleich meine eigene Position gegenüber den Debatten um Forschung in der Kunst zu befragen. Als Wegweiser für diesen Zugang dienten mir fünf Begriffe – Wissen, Experiment, Körper/Praxis, Spur, Dokumentation –, die im Doktoratskolleg immer wieder zu Diskussionen über die Relationen von Kunst und Wissenschaft geführt haben. Der Anspruch des folgenden Selbstinterviews ist es dabei nicht, die vorgeschlagenen Begriffe so umfassend wie möglich darzustellen, um so einen Überblick zum Stand der Diskussion zu geben. Es geht vielmehr darum, durch assoziativ angelegte und an Beispielen orientierte Zugänge eine Diskussion zu eröffnen. Der Titel dieses Selbstinterviews versteht sich dabei als paraphrasierende Anspielung auf den von Janine Schulze herausgegebenen Band mit dem Titel Are 100 Objects Enough to Represent the Dance? (2010)star (*13) – eine rhetorische Frage, die ihre Verneinung bereits vorwegnimmt. Mit ihr soll zum einen auf die Heterogenität von forschenden Praktiken in den Künsten verwiesen werden, die es unmöglich macht, von der künstlerischen Forschung zu sprechen, und zum anderen soll auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, dass sich ein Schreiben über künstlerische Forschungsprozesse – im Zeichen einer Proliferation der über sie interdisziplinär geführten und teils kontroversen Diskurse – im Exemplarischen und Offenen bewegen muss, um das Exemplarische und Offene dieser Praktiken selbst sichtbar werden zu lassen.

Was ist der Ausgangspunkt deines Interesses für Praktiken künstlerischer Forschung?

Ein erster Ausgangspunkt war meine Auseinandersetzung mit den Interferenzen zwischen Künsten und Wissenschaften, die ich, bezogen auf Bewegungsexperimente im 19. Jahrhundert, auch zum Thema meines Dissertationsprojektes gemacht habe. Mehr und mehr hat sich die hierin behandelte Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft mit Fokus auf Wissensproduktion in experimentellen Settings dann auf die Frage verlagert, wie in künstlerischen Praktiken, insbesondere im Tanz, Wissen generiert wird. Dies hing auch damit zusammen, dass einer meiner zentralen Forschungsschwerpunkte die Bewegung des Gehens war, die seit den 1960er Jahren Gegenstand und Verfahren zahlreicher performativer, insbesondere ortsbezogener Arbeiten geworden ist, sodass man heute sogar von einer Walking Art spricht. Diese Arbeiten zeichnet zumeist aus, dass sie das Gehen nicht nur als kulturelle und ästhetische Praxis, sondern auch als explorative Vorgehensweise verstehen. Dieser Spur bin ich seither gefolgt. Aber auch wenn in den letzten Jahren zunehmend Themen wie Wissensproduktion im Tanz, Tanz als Wissenskultur oder das Verhältnis von Körper, Bewegung und Archiv in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft verhandelt werden, ist es doch bemerkenswert, dass der Diskurs zu künstlerischer Forschung im Tanz immer noch viel stärker im englischsprachigen und skandinavischen Kontext vorangetrieben wird. Historisch lässt sich als Grund dafür zum einen eine spezifisch deutsche Trennungsgeschichte zwischen Kunst und Wissenschaft ausmachen. Zum anderen zeigt sich aber auch ein gewisser Widerstand von akademischer Seite und zugleich eine kritische Skepsis auf Seiten von KünstlerInnen, die darin eine Tendenz zur Akademisierung künstlerischer Praxis erkennen. Was hier erkennbar wird, ist eine Wissenspolitik, also die Auseinandersetzung über Wissensansprüche und Konflikte zwischen unterschiedlichen Wissensformen. Ich denke, dass eine Untersuchung der Verfahren künstlerischen Arbeitens, wie ich sie aktuell unternehme, dazu beitragen kann, diese Trennungen differenzierter zu betrachten, sie zu historisieren und zu kontextualisieren.

Von welchen Positionen und Fragen gehst du in dieser Untersuchung aus?

Ein Knackpunkt der Kontroversen um künstlerische Forschung scheint der Begriff der Forschung selbst zu sein, der unter anderem auf den Anspruch zielt, dass Wissensproduktion methodengeleitet vonstattengeht. Anders als Verfahren, die als Techniken in einem breiten Bereich von Phänomenen angewandt werden können und auf das konkrete Tun bezogen sind, sind Methoden methodologisch fundiert und in spezifischen Forschungszusammenhängen legitimiert und deshalb in bestimmten Fällen anwendbar oder eben nicht. Auch wenn man anerkennt, dass künstlerisch Forschende nicht einfach nur intuitiv vorgehen, ist einer der Hauptkritikpunkte an künstlerischer Forschung, dass sie gerade keine Methoden besäße und aus diesem Grund auch keine Forschung im engeren Sinne sein könne. Man kann das als konzeptuelle Frage abtun; es trifft im Kern aber auch ein Legitimations- und Relevanzproblem der (Geistes-)Wissenschaften selbst. Mir geht es jedoch darum, künstlerische Forschung nicht ex negativo, also im Vergleich zum ‚Vorbild‘ wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Methoden zu begreifen, sondern diese als eigenständige Praxis mit eigenen Verfahren und Methoden ernst zu nehmen, diese zu explizieren und dadurch auch unsere Methoden als WissenschaftlerInnen zu bereichern. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Writing Movement“, bestehend aus einer Gruppe von Tanz- und TheaterwissenschaftlerInnen und KünstlerInnen aus dem Bereich der darstellenden und visuellen Künste, geschieht dieser Austausch derzeit vor allem mit Blick auf Praktiken des Schreibens: also Fragen nach den Verfahren und Methodologien, Materialitäten und Medialitäten des Schreibens in künstlerischen wie wissenschaftlichen Praktiken. Wie lassen sich künstlerische und wissenschaftliche Schreibpraktiken durch eine Assemblage von Objekten darstellen? Wie würde diese Assemblage für meine eigene Schreibpraxis aussehen, wie für eine Choreographin im Bereich des zeitgenössischen Tanzes? Welche Materialitäten umgeben uns, während wir schreiben? In welcher Weise beeinflussen sie das Schreiben und wie verändern Verschiebungen in dieser Anordnung die jeweilige Schreibpraxis? Welche Formen der Aufzeichnung benutzen wir und warum? Kurz gesagt: Wie lässt sich Schreiben selbst beschreiben?

Arbeitsplatz, Foto: © Daniela Hahn

Die Frage nach den Materialitäten und Instrumentalitäten des Schreibens scheint dir dabei besonders wichtig. Inwiefern?

Wissen ist immer ein situiertes, verortetes. Es entsteht in unterschiedlichen historischen, kulturellen und diskursiven Kontexten, die den Denk- und Arbeitsstil eines oder mehrerer ForscherInnen prägen (und von ihnen zugleich ,verkörpert‘ werden) sowie ihre Interaktionen mit Objekten, Dingen, Materialien, Apparaturen, die, wie Bruno Latour gezeigt hat, selbst auch ein Eigenleben entfalten und zu Aktanten in Prozessen der Wissensproduktion werden können. Wissen ist darüber hinaus gebunden an spezifische Orte, sei dies ein Labor, Atelier, Studio, Seminarraum oder eine Bibliothek, wie auch an die Körperlichkeit des Forschenden und seine Bewegungen. Gebunden also an eine Situation, wie sie sich herstellt, wenn ich hier an meinem Schreibtisch – mit Computer, Büchern, Zetteln, Stiften vor mir – Platz genommen habe, vielleicht von Rückenschmerzen geplagt vom langen, unbequemen Sitzen, mit Blick auf Pflanzen und aus dem Fenster, unter dem der Berliner Feierabendverkehr vorbeirauscht und dessen monotones Brummen sich mal mehr, mal weniger in mein Aufmerksamkeitsfenster drängt. Dass wir diese Situiertheit von Wissen und dessen ,stumme‘ Aspekte, wie man mit Michael Polanyi sagen könnte, bemerken, dazu hat die Wissenschaftsgeschichte seit Beginn der 1980er Jahre beigetragen. Sie entlarvte bekanntlich das positivistische Ideal einer auf Fortschritt ausgerichteten, universellen, neutralen Objektivität, in dem unter anderem die Körperlichkeit und soziale Positionierung des Forschenden und die eigenwillige Materialität seiner Instrumente und Gegenstände keine Rolle spielen, als normatives Narrativ, das bis heute nachwirkt.

Und künstlerische Forschung knüpft dort an?

Ja, denn durch die Erforschung der „Unordnung“ (Mersch o.J.: 1)star (*10) der konkreten Forschungspraktiken, der vom Unvorhersehbaren durchzogenen und durch Kreativität geprägten Interaktionen des Forschenden mit seinen Gegenständen und Apparaturen sowie der Transformationsprozesse von epistemischen Objekten in Aufzeichnungen ging einerseits eine Revision überkommender Begriffe wie Wissen, Forschung, Archiv, Dokument einher. Andererseits rief sie die Frage auf, ob und auf welche Weisen Praktiken in Feldern jenseits einer angestammten Wissenschaftspraxis als Forschungstätigkeit und Erkenntnispraxis begriffen werden können. In gewissen Hinsichten scheint Kunst immer schon Forschung zu sein, indem sie erkundet, recherchiert, interveniert, untersucht, kritisiert, analysiert, experimentiert, Neues erzeugt, ausstellt, installiert. Seit den 1990er Jahren bezeichnet ‚künstlerische Forschung‘ aber ein, wie Dieter Mersch formuliert hat, „neues und eigenständiges künstlerisches Format im Kontext des Postavantgardismus“ (Mersch 2015: 27).star (*12) Dieses Format bringt damit jene Tendenzen in den Künsten auf den Begriff, die durch das Insistieren auf einem genuin künstlerischen Erkenntnispotenzial sowie in und durch performative Verfahren der Wissensgenerierung nicht etwas über gesellschaftliche, historische oder politische Zusammenhänge aussagen, sondern in diese als Wissensinstanz intervenieren.

Wäre dies eine Definition ‚künstlerischer Forschung‘?

Dies scheint zumindest der kleinste gemeinsame Nenner in einer Debatte, in der keine einheitliche Position zu erkennen ist, vor allem weil diese Diskussionen erstens medienspezifisch geführt werden, also die Spezifika der unterschiedlichen Künste in Rechnung stellen, und zweitens weil die Debatte um Kunst als Forschung eine hybride ist und sowohl epistemologische, ästhetische als auch bildungspolitische und institutionelle Fragen umfasst. Elke Bippus hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass in der ersten Phase künstlerischer Forschungen noch ein spielerisches Moment im Vordergrund stand, während die Reformierung der universitären Ausbildung im Zuge des Bologna-Prozesses einen zunehmenden Legitimierungsdruck künstlerisch Forschender erzeugte (Bippus 2009: 8f.).star (*2) Dieser Umstand führte in der anschließenden Reflexion über künstlerische Forschungen dazu, vor allem nach den Gemeinsamkeiten mit wissenschaftlichen Laborpraktiken zu suchen, um die Bezeichnung künstlerischer Produktionsprozesse als ,Forschung‘ zu legitimieren. Ein Beispiel für diese Nähe ist Xavier Le Roys Lecture-Performance Product of Circumstances von 1999, wohingegen – so meine Beobachtung – in jüngeren Auseinandersetzungen mit dem Phänomen eher das Bemühen überwiegt, die Differenzen zwischen Kunst und Naturwissenschaft und ihrem jeweiligen Vorgehen herauszuarbeiten, mit dem demokratisierenden Ziel, Kunst nicht dichotomisch auf Wissenschaft zu beziehen, sondern die Relationierung beider Felder – anstelle von Formulierungen wie Interferenz, Austausch, Durchdringung – als „gleichberechtigtes Spiel“ (Mersch 2009: 46)star (*11) zu konzeptualisieren.

Geht es also darum, die ‚Andersheit‘ künstlerischer Forschung vis-à-vis wissenschaftlicher Forschung zu betonen?

Ich denke, dass forschende künstlerische Praktiken durch den Hinweis, dass es sich um die Produktion eines ‚anderen‘, von wissenschaftlichem Wissen unterschiedenem Wissen handelt, nur unzureichend beschrieben sind. Das Gleiche trifft zu auf eine Beschreibung, die vor allem auf die Verschiebung von einer werkorientierten hin zu einer prozessorientierten Ästhetik abhebt. Die Problematik, die damit einhergeht, hat Giulia Palladini kürzlich in einem Vortrag auf den Punkt gebracht, nämlich dass die Verabschiedung des Produkts und ihres Gebrauchswerts in der Kunst auch dazu führt, künstlerische Produktion nicht mehr als Arbeit wahrzunehmen. Anstatt den Begriff des Produkts zugunsten des Prozesses aus der Kunstproduktion zu verbannen, sollte es also eher um die Frage gehen, im Rahmen welcher Logiken und unter welchen Bedingungen künstlerisch gearbeitet wird. Dazu gehören ökonomische Logiken ebenso wie eine Neuaufteilung des epistemischen Feldes, die auch zu einer Sichtbarkeit von Praktiken künstlerischen Forschens beigetragen hat. Diese Neuaufteilung kann als Teil eines programmatischen Übergangs der heutigen Wissensgesellschaften verstanden werden: von einer – gemäß Bruno Latour – „Kultur der Wissenschaft“ zu einer „Kultur der Forschung“. Latour porträtiert Wissenschaft als Gewissheit, Forschung als Ungewissheit. Wissenschaft werde als kühl, geradlinig und isoliert wahrgenommen; Forschung als warm, involvierend und riskant (Latour 1998: 208).star (*7) Man könnte argumentieren, dass es diese wissenschaftliche Gewissheit, von der Latour spricht, nie gegeben hat, und im Grunde ist diese Gegenüberstellung auch problematisch, weil sie wieder dichotomisch daherkommt. Für mich ist aber ein anderer Punkt von Interesse: Die Zuschreibung ,Forschung‘ als die Generierung von neuem Wissen wird hier zu einem Angelpunkt, um den sich die Wissensökonomie dreht. Anderes, also künstlerisches Wissen könnte in diesem Kontext einen strategischen Vorteil bedeuten oder aber auch zu Abwertung führen. Aber die eigentlich interessante Frage ist doch: anders – in welchem Sinne? Denn mit dem Prädikat ,anders‘ ist weder etwas gesagt über die konkreten Verfahrensweisen und Bedingungen der Wissensproduktion noch darüber, wodurch dieses ,andere Wissen‘ denn charakterisiert ist. Die Bestimmung ,anders‘ provoziert vielmehr die Frage ,anders als …?‘ und ruft damit wieder den Vergleich zur Wissenschaftspraxis als Bezugspunkt auf, der künstlerisch generiertes Wissen tendenziell ebenso essentialisiert wie wissenschaftliches Wissen und gerade verhindert, künstlerische Forschung in its own right wahrzunehmen.

Kannst du ein Beispiel dafür geben, was ‚künstlerische Forschung in its own right wahrnehmen‘ bedeutet?

Ich denke für den zeitgenössischen Tanz lässt sich festhalten, dass es vordergründig nicht um eine Intervention in oder gar die Durchkreuzung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung geht, wie Dieter Mersch argumentiert hat, sondern vielmehr darum – und dies hat Bojana Cvejic in ihrer Studie Choreographing Problems von 2014star (*3) gezeigt –, dass Choreografie durch ihre eigenen kompositorischen Mittel sich selbst zum Medium ihrer Selbstreflexion macht, und zwar in und durch eine Verflechtung von Denken und Tun. Choreografie als Praxis zwischen Philosophie und Tanz zu verstehen, wie Cvejic es tut, welche die moderne Koppelung von Bewegungen (als komponierbare Elemente) und Körper (als Instrument des Selbstausdrucks) unterläuft und theoretische Ansätze choreografisch weiterdenkt, weist jedoch in die Richtung eines anderen Vorschlags von Dieter Mersch, und zwar den, künstlerische Forschung gerade nicht mit Forschung in den Naturwissenschaften in Relation zu setzen (vgl. Mersch 2009),star (*11) sondern als eine Art des Philosophierens mit anderen Mitteln zu begreifen. Es bleibt aber die Frage: Welches Wissen entsteht in künstlerischen Forschungsprozessen, ohne auf die Oppositionen von singulär versus universell, subjektiv versus objektiv zurückzugreifen? Mein Vorschlag ist, dieses Wissen als ein ökologisches zu begreifen, in dem Sinne, dass es eine Sensibilisierung für die Verortetheit, für die ,embeddedness‘ und die Wechselbeziehungen zwischen Körper(n) und Umwelt(en), Menschlichem und Nicht-Menschlichem schafft und diese durch Wahrnehmungs- und Sprechakte erzeugt, erfahrbar macht und kommuniziert. Dies entspräche einer Ästhetik, wie sie Latour im Sinne eines ‚Sensibel-Werdens für etwas‘ verstanden hat. Tanzperformance in diesem Sinne würde zu einem Ort, an dem diese Wechselbeziehungen sowie die Historizität und Politizität der Interdependenz von menschlichen wie nicht-menschlichen Körpern zur Verhandlung stehen. Diese Ästhetik würde einerseits an Ansätze eines Wissens „from below“ (vgl. Haraway 1988)star (*6) anschließen – ohne jedoch einen primären Fokus auf eine feministische Version wissenschaftlicher Objektivität und auf ein Paradigma des Visuellen beizubehalten. Und andererseits würde sie anknüpfen an ein Denken „minoritärer Gesten“ im Sinne Erin Mannings, ihrer Mobilität und Rhythmizität, als neue Politik von Relationen und Relationierungen (vgl. Manning 2016).star (*9)

Wie erforscht Tanz diese Körper/Umwelt-Relationen?

Grundsätzlich begreife ich künstlerische Forschungspraktiken im Tanz als „Feld“ im Sinne von Elke Bippus, das sich selbst immer wieder neu zeichnet, indem es sich – in Bewegungsvollzügen – performativ be-zeichnet (vgl. Bippus 2005).star (*1) Aber auch als ein Feld im ganz buchstäblichen Sinne, als etwas, das beackert werden muss, wo man sich draußen dem Wetter aussetzt und in Kontakt mit Materialitäten kommt, die nicht-menschlich sind und von denen wir teilweise nicht viel wissen bzw. die wir nie ganz verstehen werden. Deshalb richtet sich mein Interesse vor allem auf outdoor dance practices. Der Begriff des Feldes führt mich dabei zu einem weiteren grundlegenden Begriff, dem der Spur.

Es ist in den letzten Jahren viel über Spuren geschrieben worden. Über ihre Materialität und Medialität, die Relation von Erinnerung und Gegenwart, Anwesenheit und Abwesenheit (mit Derrida), über Spuren als medientheoretisches Instrument (mit Krämer), Spuren als Fährten und Indizien (mit Ginzburg), Spuren als Symptome (mit Freud), Aufzeichnungen als Spuren (mit Rheinberger). Was interessiert dich am Begriff der Spur?

Der Eintrag zu ,Spur‘ im Grimm’schen Deutschen Wörterbuch star (*3)erinnert uns daran, dass ,Spur‘ und ,spüren‘ etymologisch zusammengehören. Interessant an dieser Definition erscheint mir, dass sie Spur in einer substantivischen Bedeutung als einen durch Geh-Akte erzeugten Eindruck bzw. Abdruck und zugleich als Verb versteht, als Handlung des Spürens, des Aufspürens. Eine Spur wird durch eine Bewegung und Wahrnehmungshandlung produziert, die auf dem Gespür als Verrechnungsstelle sinnlicher Aufmerksamkeit basiert. Diese Aufmerksamkeit ist erstmal nicht gerichtet; sie ist explorierend und weniger ein Lesen oder making sense denn vielmehr ein sensing – ein Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Materialitäten, insofern als das Aufspüren von Spuren uns, wie Sybille Krämer schreibt, mit der „Dinghaftigkeit, Körperlichkeit und Materialität der Welt“ (Krämer 2007: 13)star (*8) verbindet. Die Tänzerin und Theoretikerin Paula Kramer hat zu diesem Zusammenhang eine spannende künstlerische Dissertation vorgelegt, mit dem Titel Dancing Materiality. Ihre Arbeit, aber auch die Projekte von Baz Kershaw, Professor emeritus für Theaterwissenschaft an der University of Warwick (UK) und künstlerisch Forschender, der den Diskurs über ‚künstlerische Forschung‘ in Großbritannien mit ins Rollen gebracht hat, stellen für mich Ausgangspunkte für meine Forschung dar, auch weil beide über Arten und Weisen eines Schreibens über künstlerische Forschung reflektiert haben. Im Juli 2013 habe ich auf dem Tempelhofer Feld in Berlin den Workshop A Meadow Meander organisiert, den Baz geleitet und an dem auch Paula teilgenommen hat.

„A Meadow Meander“ mit Phil Smith, Foto: © Baz Kershaw, http://performancefootprint.co.uk/projects/earthrise-repair-shop/

Baz Kershaw ist Gründer des Earthrise Repair Shop, einer ortsbezogenen (oder ortssensiblen), nachhaltigen Performancepraxis. Am Beginn dieses Workshops stand die Suche nach einem geeigneten Ort in Berlin, an dem im Sommer das Gras hoch genug war, um darin – geleitet von Stäben – einen Pfad ,einzutreten‘. Über zwei Tage hinweg wurde dieser Pfad zum Raum eines sensorisch-bewegten Explorierens, wobei die Gestalt des Pfades nur von oben sichtbar war, aber nicht aus der Perspektive derjenigen, die sich in Nähe zum Boden auf ihm bewegten. Die Aufmerksamkeit galt dabei nicht nur der Wahrnehmung der nächsten Umgebung, ihren unterschiedlichen Oberflächen, Temperaturen, Organismen und Hindernissen, sondern auch den Qualitäten der Bewegung entlang des Pfads, der gehend, springend, kriechend, liegend, rollend erkundet wurde. Durch solcherart spürende Praktiken materialisierte sich eine Spur im Gras, aber zugleich auch Erinnerungsspuren im Körper, die in einem anschließenden Dialog verbalisiert wurden. Interessant dabei war, dass in diesem Gespräch die Erfahrungen von mehreren Beteiligten mit Metaphern des Fließens und Strömens verknüpft und mit Worten wie ‚Energien‘ und ‚Kräften‘ beschrieben wurden, die beim Ergehen des Pfades auf den Körper in Bewegung wirken und die umgekehrt vom Körper – als geologische Kraft – auf das Umfeld ausgehen. Auch wenn den Teilnehmenden erst am Ende des Workshops die von Baz als „offenes Geheimnis“ bezeichnete Information gegeben wurde, dass dieser materielle Pfad im kleinen, lokalen Maßstab globale maritime Meeresströme symbolisiere, zeigte sich auch hier, wie Erfahrungen während des Workshops mit bestimmten kulturell überlieferten Bildern und Metaphern kurzgeschlossen wurden. In der Übertragung von Bewegungen und Erfahrungen in Sprache gab der Pfad somit auch Anlass zu einer Suche nach Mustern und Bildern. Ein ,Forschen‘ in diesem Kontext müsste gleichsam nicht nur die Erfahrungen des Spürens und Erspürens und deren Verbalisierung (und damit Diskursivierung) ermöglichen, sondern zugleich auch die konkreten sprachlichen wie körperlichen Bedingungen der Evidenzproduktion in diesen Prozessen offenlegen.

Wie setzt du dies in Bezug zu deinem aktuellen Forschungsprojekt zum Schreiben in und von Bewegung?

Im künstlerisch-wissenschaftlichen Projekt Writing Movement beschäftigen uns ähnliche Fragen, die mit Aufmerksamkeit, Materialität und den Interaktionen mit Dingen zu tun haben. Wie lassen sich zum Beispiel die Bewegungen eines Baumes in Zeichnungen überführen, wenn die Mikrobewegungen der Blätter nicht als einzelne, abgrenzbare Bewegungen wahrnehmbar sind, sondern vielmehr als ein Vibrieren? In welchen Maßstab setzen wir unsere Zeichen- und Schreibbewegungen zu den beobachteten Phänomenen? Dass die Übertragung von Bewegung, eines Vollzugs in eine Aufzeichnung, in ein anderes Medium – des Spürens in eine Spur – selbst eine Bewegung ist, die das Beobachtete notwendigerweise transformiert, scheint klar; unser Forschen richtet sich eher auf die Frage, wie sich diese Transformationen wiederum bemerken und beschreiben lassen, etwa über die Erkundung des Kinetischen der Aufzeichnungen selbst. Oder zurück auf mein Beispiel des Meadow Meander gewendet: Wie schreiben sich die Bedingungen und Bewegungen der Materialitäten in die Zeichnungen ein? In welcher Weise müssen auch unsere Aufzeichnungspraktiken selbst nachhaltig werden, um dieser Interdependenz zwischen Körper und nicht-menschlicher Umwelt Rechnung tragen zu können? Der Begriff der Choreographie spielt dabei eine weit weniger tragende Rolle, als man erwarten würde, weil wir versuchen, unsere Zugänge nicht gleich durch einen so stark besetzten Begriff und den damit verbundenen Vorstellungen der Notation, Sequenzialisierung von Bewegung oder Autorschaft einzuengen.

Workshop “new work”, geleitet von Christina Ciupke, Foto: © Isa Wortelkamp

Wie geht ihr hinsichtlich dieser Fragen vor?

In einem längeren Prozess mussten wir uns zunächst über den Rahmen und die Bedingungen der Kollaboration verständigen. Mit welchen Vorstellungen, vielleicht Vorurteilen, Konzepten und Ansprüchen gehen wir in diese Zusammenarbeit zwischen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen? Wie wollen wir zusammenarbeiten? Welche Formate sind hier passend? Wir haben uns dann entschieden, Austausch wörtlich zu nehmen und uns jeweils die Schreibverfahren als Verfahren zu ‚übergeben‘ und diese gemeinsam in Workshops zu erproben. So haben wir etwa die Frage-Antwort-Struktur aus Christina Ciupkes kollaborativer Arbeit new work von 2015 (mit Mart Kangro und Nik Haffner) auf die Gruppe übertragen, um darüber unserer Frage näher zu kommen, wie eine Schreibpraxis zwischen Tanzwissenschaft und choreographischer Praxis aussehen könnte.

Spielt der Begriff des Experiments eine Rolle für euch?

Nein, und das ist auch gut so, obwohl mich der Experimentbegriff lange beschäftigt hat. Baz zum Beispiel beschreibt seine Praxis auf der Webseite des Earthrise Repair Shops als „experiment in performance conservation and regeneration founded on ecological principles“ (Kershaw o.J.: o.S.).star (*14) Baz’ Verwendung des Begriffs ,Experiment‘ erscheint mir im Kontext künstlerischer Forschung, aber auch der Relationen von Ökologie und Performance in einem buchstäblichen Sinne spannend, insofern die Geschichte der Experimentalsysteme seit der Frühen Neuzeit sich gerade als eine Geschichte der Dominanz des Menschen über die Natur darstellt. Dass die Künste dennoch den Begriff Experiment für sich in Anspruch nehmen, hat nicht zuletzt mit der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit den historischen Avantgardebewegungen, zu tun, die ihre Praktiken im Zwischen von Kunst und Wissenschaft verorteten und – man denke nur an die Manifeste der Futuristen – der Fortschrittsorientierung moderner Naturwissenschaften in nichts nachstanden. Auch mein Interesse am Begriff des Experiments speiste sich aus der Beschäftigung mit den historischen Avantgarden und ihren Bezügen zu frühneuzeitlichen Experimentalkulturen. Als Topoi sind jedoch beide – sowohl der Begriff des Experiments als auch der des Experimentellen – zu unscharfen Grauzonen geworden, in deren Nebel kaum noch etwas trennscharf wahrnehmbar wird, und doch scheint ein gewisser Konsens über ihre Verwendung zu herrschen, sodass jedeR irgendwie weiß, was damit gemeint sein soll. So schreibt Dieter Mersch an einer Stelle, dass die Tatsache, „[d]ass die Kunst und die Künste experimentell verfahren, ein Gemeinplatz“ sei (Mersch o.J.: 1).star (*10) An diesem Punkt befinden wir uns (noch), in lack of a better word.

Was steht dabei auf dem Spiel?

Die Publikationen zu künstlerischer Forschung zeigen, dass die Untersuchung künstlerischer Forschung in den bildenden Künsten deutlich weiter ist als in den darstellenden Künsten, zumindest in Deutschland. Hier gibt es einfach auch noch zu wenige Institutionen, die sich dem öffnen, wie etwa die Hafencity University mit dem künstlerisch-wissenschaftlichen Doktorandenkolleg Versammlung & Teilhabe, das aus der Kooperation zwischen HafenCity University, K3 und Fundus Theater hervorging und von 2012 bis 2014 lief. Dessen Arbeit wird seit 2015 mit dem Kolleg Performing Citizenship weitergeführt, für das die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg als neuer Kooperationspartner hinzugekommen ist. Für mich käme es darauf an, diesen Diskurs zu stärken und weiterzuführen. Es geht für mich nicht um die Frage, wer das größte Stück vom Kuchen der Forschung bekommt, sondern um die Anerkennung des Gewinns, den wir daraus ziehen, wenn wir den Kuchen gleichmäßig aufteilen.

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Bippus, Elke (2005): Landschaft – Karte – Feld. Modelle der Wissensbildung zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis. Bremen: thealit.

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Bippus, Elke (2009): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich u. Berlin: diaphanes, S. 7-23.

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Cvejic, Bojana (2015): Choreographing Problems. Expressive Concepts in European Contemporary Dance and Performance. Basingstoke: Palgrave MacMillan.

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Goehr, Lydia (2006): Explosive Experimente und die Fragilität des Experimentellen. Adorno, Bacon und Cage. In: Schramm, Helmar et al. (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin u. New York: Walter de Gruyter, 477-506.

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Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14.3, S. 575-599.

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Latour, Bruno (1998): From the World of Science to the World of Research? In: Science 280 (1998), S. 208-209.

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Krämer, Sybille (2007): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle. Eine Bestandsaufnahme. In: Dies./Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11-33.

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Manning, Erin (2016): The Minor Gesture. Durham u. London: Duke University Press 2016.

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Schulze, Janine (Hg.) (2010): Are 100 Objects Enough to represent the Dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz. München: e-prodium Verlag.

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Kershaw, Baz (o.J.): Earthrise Repair Shop. Online unter: http://performancefootprint.co.uk/projects/earthrise-repair-shop/

Daniela Hahn ( 2017): Are 100 Words Enough to Represent Artistic Research?. Ein Selbstinterview. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/are-100-words-enough-to-represent-artistic-research/