Are 100 Words Enough to Represent Artistic Research?

Ein Selbstinterview

Wie erforscht Tanz diese Körper/Umwelt-Relationen?

Grundsätzlich begreife ich künstlerische Forschungspraktiken im Tanz als „Feld“ im Sinne von Elke Bippus, das sich selbst immer wieder neu zeichnet, indem es sich – in Bewegungsvollzügen – performativ be-zeichnet (vgl. Bippus 2005).star (*1) Aber auch als ein Feld im ganz buchstäblichen Sinne, als etwas, das beackert werden muss, wo man sich draußen dem Wetter aussetzt und in Kontakt mit Materialitäten kommt, die nicht-menschlich sind und von denen wir teilweise nicht viel wissen bzw. die wir nie ganz verstehen werden. Deshalb richtet sich mein Interesse vor allem auf outdoor dance practices. Der Begriff des Feldes führt mich dabei zu einem weiteren grundlegenden Begriff, dem der Spur.

Es ist in den letzten Jahren viel über Spuren geschrieben worden. Über ihre Materialität und Medialität, die Relation von Erinnerung und Gegenwart, Anwesenheit und Abwesenheit (mit Derrida), über Spuren als medientheoretisches Instrument (mit Krämer), Spuren als Fährten und Indizien (mit Ginzburg), Spuren als Symptome (mit Freud), Aufzeichnungen als Spuren (mit Rheinberger). Was interessiert dich am Begriff der Spur?

Der Eintrag zu ,Spur‘ im Grimm’schen Deutschen Wörterbuch star (*3)erinnert uns daran, dass ,Spur‘ und ,spüren‘ etymologisch zusammengehören. Interessant an dieser Definition erscheint mir, dass sie Spur in einer substantivischen Bedeutung als einen durch Geh-Akte erzeugten Eindruck bzw. Abdruck und zugleich als Verb versteht, als Handlung des Spürens, des Aufspürens. Eine Spur wird durch eine Bewegung und Wahrnehmungshandlung produziert, die auf dem Gespür als Verrechnungsstelle sinnlicher Aufmerksamkeit basiert. Diese Aufmerksamkeit ist erstmal nicht gerichtet; sie ist explorierend und weniger ein Lesen oder making sense denn vielmehr ein sensing – ein Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Materialitäten, insofern als das Aufspüren von Spuren uns, wie Sybille Krämer schreibt, mit der „Dinghaftigkeit, Körperlichkeit und Materialität der Welt“ (Krämer 2007: 13)star (*8) verbindet. Die Tänzerin und Theoretikerin Paula Kramer hat zu diesem Zusammenhang eine spannende künstlerische Dissertation vorgelegt, mit dem Titel Dancing Materiality. Ihre Arbeit, aber auch die Projekte von Baz Kershaw, Professor emeritus für Theaterwissenschaft an der University of Warwick (UK) und künstlerisch Forschender, der den Diskurs über ‚künstlerische Forschung‘ in Großbritannien mit ins Rollen gebracht hat, stellen für mich Ausgangspunkte für meine Forschung dar, auch weil beide über Arten und Weisen eines Schreibens über künstlerische Forschung reflektiert haben. Im Juli 2013 habe ich auf dem Tempelhofer Feld in Berlin den Workshop A Meadow Meander organisiert, den Baz geleitet und an dem auch Paula teilgenommen hat.

„A Meadow Meander“ mit Phil Smith, Foto: © Baz Kershaw, http://performancefootprint.co.uk/projects/earthrise-repair-shop/

Baz Kershaw ist Gründer des Earthrise Repair Shop, einer ortsbezogenen (oder ortssensiblen), nachhaltigen Performancepraxis. Am Beginn dieses Workshops stand die Suche nach einem geeigneten Ort in Berlin, an dem im Sommer das Gras hoch genug war, um darin – geleitet von Stäben – einen Pfad ,einzutreten‘. Über zwei Tage hinweg wurde dieser Pfad zum Raum eines sensorisch-bewegten Explorierens, wobei die Gestalt des Pfades nur von oben sichtbar war, aber nicht aus der Perspektive derjenigen, die sich in Nähe zum Boden auf ihm bewegten. Die Aufmerksamkeit galt dabei nicht nur der Wahrnehmung der nächsten Umgebung, ihren unterschiedlichen Oberflächen, Temperaturen, Organismen und Hindernissen, sondern auch den Qualitäten der Bewegung entlang des Pfads, der gehend, springend, kriechend, liegend, rollend erkundet wurde. Durch solcherart spürende Praktiken materialisierte sich eine Spur im Gras, aber zugleich auch Erinnerungsspuren im Körper, die in einem anschließenden Dialog verbalisiert wurden. Interessant dabei war, dass in diesem Gespräch die Erfahrungen von mehreren Beteiligten mit Metaphern des Fließens und Strömens verknüpft und mit Worten wie ‚Energien‘ und ‚Kräften‘ beschrieben wurden, die beim Ergehen des Pfades auf den Körper in Bewegung wirken und die umgekehrt vom Körper – als geologische Kraft – auf das Umfeld ausgehen. Auch wenn den Teilnehmenden erst am Ende des Workshops die von Baz als „offenes Geheimnis“ bezeichnete Information gegeben wurde, dass dieser materielle Pfad im kleinen, lokalen Maßstab globale maritime Meeresströme symbolisiere, zeigte sich auch hier, wie Erfahrungen während des Workshops mit bestimmten kulturell überlieferten Bildern und Metaphern kurzgeschlossen wurden. In der Übertragung von Bewegungen und Erfahrungen in Sprache gab der Pfad somit auch Anlass zu einer Suche nach Mustern und Bildern. Ein ,Forschen‘ in diesem Kontext müsste gleichsam nicht nur die Erfahrungen des Spürens und Erspürens und deren Verbalisierung (und damit Diskursivierung) ermöglichen, sondern zugleich auch die konkreten sprachlichen wie körperlichen Bedingungen der Evidenzproduktion in diesen Prozessen offenlegen.

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Bippus, Elke (2005): Landschaft – Karte – Feld. Modelle der Wissensbildung zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis. Bremen: thealit.

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Bippus, Elke (2009): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich u. Berlin: diaphanes, S. 7-23.

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Cvejic, Bojana (2015): Choreographing Problems. Expressive Concepts in European Contemporary Dance and Performance. Basingstoke: Palgrave MacMillan.

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O.V. (o.J.): Der Digitale Grimm. Das Deutsche Wörterbuch, Bd. 17, Sp. 235-243. Online unter: woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS37828#XGS37828.

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Goehr, Lydia (2006): Explosive Experimente und die Fragilität des Experimentellen. Adorno, Bacon und Cage. In: Schramm, Helmar et al. (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin u. New York: Walter de Gruyter, 477-506.

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Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14.3, S. 575-599.

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Latour, Bruno (1998): From the World of Science to the World of Research? In: Science 280 (1998), S. 208-209.

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Krämer, Sybille (2007): Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle. Eine Bestandsaufnahme. In: Dies./Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11-33.

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Manning, Erin (2016): The Minor Gesture. Durham u. London: Duke University Press 2016.

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Mersch, Dieter (o.J.): Was heißt, im Ästhetischen forschen? Online unter: http://www.dietermersch.de/Texte/PDFs/ (9. Mai 2017).

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Mersch, Dieter (2009): Kunst als epistemische Praxis. In: Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich u. Berlin, S. 27-47.

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Mersch, Dieter (2015): Epistemologien des Ästhetischen. Zürich u. Berlin: diaphanes.

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Schulze, Janine (Hg.) (2010): Are 100 Objects Enough to represent the Dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz. München: e-prodium Verlag.

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Kershaw, Baz (o.J.): Earthrise Repair Shop. Online unter: http://performancefootprint.co.uk/projects/earthrise-repair-shop/

Daniela Hahn ( 2017): Are 100 Words Enough to Represent Artistic Research?. Ein Selbstinterview. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/are-100-words-enough-to-represent-artistic-research/