Das ‚Ganze‘ im Blick behalten

Wie das Quartier Zukunft – Labor Stadt globale Fragen mit dem lokalen Leben zusammenbringt.
Oliver Parodi im Gespräch mit Elke Zobl und Katharina Anzengruber

Laut Website des Quartier Zukunft ist eine Weiterentwicklung des Projektes geplant. Wie hat es sich bisher verändert und in welche Richtung soll es jetzt entwickelt werden?

Das erzähle ich gerne. Ich glaube, das ist spannend für alle, die Reallabore ernsthaft und über einen längeren Zeitraum betreiben wollen. Zunächst muss ich darauf hinweisen, dass ich der Meinung bin, dass Reallabore eigentlich tatsächliche Labore sein sollten. Also Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, die Experimente durchführen. Das widerspricht der momentanen Praxis vehement, da Reallabore als Projekte gefördert werden, die zwei, drei, vielleicht auch mal fünf Jahre dauern und dann wieder zu Ende sind. Das sind für mich keine Labore, sondern höchstens Experimentreihen. Das wirklich Spannende an Reallaboren kann sich innerhalb so kurzer Zeiträume gar nicht richtig entfalten. Wenn man Reallabore hingegen bildlich als Labore installieren und auf eine Lebensdauer von 50, vielleicht auch 100 Jahren anlegen würde, dann würde man wirklich etwas gänzlich Neues in der Wissenschaftslandschaft haben. In der Naturwissenschaft und in Ingenieurspraxen gibt es massenhaft Labore, die so lange stehen. Es wäre wichtig, aus dieser ‚Projektitis‘ und Kurzfristigkeit herauszukommen und Institutionen des Wandels zu schaffen, um Transformationsprozesse auch langfristig begleiten zu können. Man sollte nicht mehr sagen müssen: „Ich muss in drei Jahren das Vertrauen der Stadtgesellschaft gewinnen, Projekte durchführen und hinterher noch sagen, was sie gebracht haben.“ Wenn man es mit Transformation ernst meint, dann sind das Prozesse, die nicht in drei Jahren abgeschlossen sind. Eine Transformation eines Ortes wie der Karlsruher Oststadt wird Jahrzehnte dauern. Das ist jetzt ins Blaue hineingeredet, aber in drei Jahren wird das sicher nicht erledigt sein. Man braucht also Institutionen, die langfristig bestehen, um Transformationsprozesse beforschen, aber auch begleiten zu können. Auch um die Kompetenzen zur Durchführung der Transformationen aufzubauen. Das könnten Reallabore leisten. Noch ist davon aber wenig zu sehen. Es war aber schon bei der Einrichtung von Quartier Zukunft unser Wunsch, dass wir unser Reallabor auf Dauer anlegen und letztlich institutionalisieren möchten. Das gehen wir jetzt an.

Gleichzeitig möchten wir eine zweite Schieflage von Reallaboren ausgleichen. Wir bekommen momentan – abgesehen von punktuellen Förderungen durch die Stadt und andere – vorwiegend aus dem Wissenschaftssystem Geld. Das gilt für alle mir bekannten Reallabore in Deutschland. Der größte Teil der Grundfinanzierung stammt letztlich aus dem Wissenschaftssystem. Wir sind Wissenschaftler:innen und machen Reallaborarbeit, haben dabei aber zwei Aufträge: Der eine ist, Wissen über Transformation und nachhaltige Entwicklung zu generieren. Der andere Auftrag ist, Stadtgesellschaft zu gestalten oder Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung selbst zu leisten. Es ist zumindest unser Anspruch, gleichzeitig auch etwas verändern und anschieben zu wollen. Das wiederum ist keine Aufgabe der Wissenschaft. Zumindest war es das bislang nicht bzw. ist es das in der gängigen Wissenschaftsauffassung nicht. Das heißt, ein Stück weit ‚missbrauchen‘ wir Gelder des Wissenschaftssystems, indem wir aus der Wissenschaft kommend mit diesen Mitteln Gesellschaft direkt gestalten. Das Geld dafür sollte jedoch eigentlich aus anderen gesellschaftlichen Bereichen stammen, nicht nur aus der Wissenschaft. Diese Schieflage von Reallaboren äußert sich in diesem Zusammenhang aber auch noch auf andere Art und Weise. In Deutschland sind die Verwendungen von Geldern aus dem Wissenschaftssystem sehr restriktiv. Wir können Gelder nur für bestimmte Zwecke ausgeben. Andere Dinge, die wir gerne machen würden, wie Mikrofinanzierung von Ideen oder die punktuelle Ausbezahlung von Honoraren für ehrenamtlich mitarbeitende Bürger:innen können wir gar nicht aus dem KIT heraus machen. Es bestehen rechtliche Regularien, die dies unterbinden. Das heißt, wir haben auch hier ein Problem, wenn wir nur im Wissenschaftssystem bleiben. Deshalb soll das Quartier Zukunft künftig auf zwei Beinen stehen. Mit einem Bein möchten wir weiterhin klar in der Wissenschaft verankert sein. Mit dem anderen Bein haben wir nach einer Rechtsform gesucht, in der wir auch in der Gesellschaft operieren können. Wir haben den Verein WandelWirken e.V. gegründet. Dieser soll gemeinsam mit dem KIT die Weiterentwicklung des Quartier Zukunft tragen. Diese Weiterentwicklung trägt den Namen Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel. Hier soll gleichzeitig Wissenschaft betrieben und Gesellschaft gestaltet werden. Die beiden Standbeine – Verein und Wissenschaft – sollten unseres Erachtens den Aufgaben von Reallaboren viel besser gewachsen sein als die gegenwärtigen Konstrukte, die zumindest in Deutschland zu 95 Prozent aus der Wissenschaft stammen.

Diese Kombination von Verein und Forschungseinrichtung ist spannend. Ich bin neugierig, was Sie in fünf Jahren erzählen werden.

Das bin ich ehrlich gesagt auch. Wir starten gerade eben damit. Daher kann ich über keine Erfahrungen berichten. Wir haben vor, damit unser Reallabor Quartier Zukunft auch inhaltlich auszubauen. Wir hatten bislang als Reallabor vor allen Dingen Forschung, Nachhaltigkeitsbeiträge und das Experimentieren im Fokus, und auch die Bildung, ein bisschen nebenher. Bildung betreiben wir implizit und explizit, also in beiden Formen. Aber mit dem Karlsruher Transformationszentrum wollen wir auch weiter nach außen gehen und andere beraten: Kommunen, Projekte, wissenschaftliche Einrichtungen oder Unternehmen: dahingehend, wie man nachhaltige Entwicklungen managt, wie man Transformationsprozesse anstößt, insbesondere welche Kooperationen sich zwischen Wissenschaft und Praxis gelingend aufbauen lassen. Wir möchten uns auch wieder näher an die Grundlagenforschung herantasten, weil Reallaborarbeit sehr angewandt, kontextuell und praktisch ist. Es besteht die Gefahr, mit der Zeit den Anschluss an die Grundlagenforschung zu verlieren. Deshalb wollen hier zumindest einen Ast ausbilden, der sich wieder mit Grundlagenforschung, also Grundlagen der Gesellschaft und Transformationen beschäftigt. Wir haben noch ein anderes Anliegen, das wir ausbauen möchten: die Auseinandersetzung mit Themen wie Einkehr, Kontemplation, Reflexion und Entschleunigung. Dieser Bereich der „Personalen Nachhaltigkeit“ ist in unserer immer noch beschleunigenden Welt sehr wichtig und deshalb möchten wir ihn ausbauen.

Klimaschutz gemeinsam wagen ist ein Projekt, in dem Menschen dazu ermutigt werden, in ihrem Alltag klimafreundlicher zu werden. Entlang der Handlungsfelder Ernährung, Mobilität und Konsum schlägt das Projekt beispielsweise konkrete Selbstexperimente vor, die als Anstoß dienen, das eigene Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Mehr Informationen auf der Website: https://www.klimaschutzgemeinsamwagen.de/

Mehr Informationen auf der Website: https://www.dialog-energie.de/

Oliver Parodi, Katharina Anzengruber, Elke Zobl ( 2021): Das ‚Ganze‘ im Blick behalten. Wie das Quartier Zukunft – Labor Stadt globale Fragen mit dem lokalen Leben zusammenbringt.
Oliver Parodi im Gespräch mit Elke Zobl und Katharina Anzengruber . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/das-ganze-im-blick-behalten/