Das Handy als Moment der Erzeugung von Utopien

Potenziale des Gaming, Fragen zu Digital Citizenship und digitale Spiele als Kunst.
Dilara Akarçeşme und Timna Pachner im Gespräch mit Sonja Prlić.

Seht ihr einen Unterschied zwischen dem Erfahrungswissen, das man durch das Erleben im Spiel sammelt, und dem Bereich, wo man miteinander in Kommunikation tritt? Glaubst du, dass sich diese beiden Formen der Erfahrung beißen oder gehen sie Hand in Hand?

Da muss man unterscheiden, ob das ein Multiplayerspiel oder ein Singleplayerspiel ist. Wir haben beides gemacht. Beim Singleplayerspiel existiert kein Kommunikation, sondern nur die Erfahrung. In der Gestaltung des Multiplayerspiels war für uns schon interessant, wie die Brücke von der Spielerfahrung über die Kommunikation bis hin zum reflektierten Austausch geschlagen werden kann. Darum ist es wichtig, Brüche als künstlerisches Mittel einzubauen, sodass man nicht ausschließlich in der Immersion ist. Immersion ist der Zustand, in dem man zur Gänze in der Spielerfahrung und in der Spielewelt drinnen ist. Es braucht immer wieder Punkte, wo man aus dieser Welt herausgerissen wird.

Eines dieser Mittel, die wir eingesetzt haben, um bewusst zur Reflexion zu kommen, ist der Endraum im Spiel Frontiers, wo man nur noch auf Entdeckungsreise gehen und Details aus dem Spiel ansehen kann. Das ist ein seltsamer, fantastischer Containerraum, der von Wasser umgeben ist. Dort werden nochmals die Motive der Flucht aufgenommen. In jedem Container sind Informationen enthalten. Du kannst etwa Interviews, die wir geführt haben, ansehen. Personen, die im Spiel vorkamen, kommen noch einmal zu Wort, sodass eine Art von Reflexion über das Spiel stattfindet. Das Ganze dauert etwa fünf Minuten, was im Spiel eine lange Zeit ist. Es gibt auch verschiedenste Momente, in denen ein Unbehagen entsteht oder ein Bruch stattfindet.

gold extra: Frontiers

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Zum Beispiel ist es in diesen Spielen üblich, dass man sich gegenseitig abschießt und die Überlebenden gewinnen. Nachdem wir uns mit realen Fluchtorten und realen politischen Begebenheiten auseinandergesetzt hatten, haben wir einen Menschenrechtsindex eingefügt. Wenn im Spiel geschossen wurde, hat das ganze Team Punkte verloren. So wurden die Spieler dazu gezwungen, miteinander darüber zu diskutieren, wie das Spiel als Gruppe zu gewinnen ist: Nämlich indem die Menschenrechte eingehalten werden.

Was bedeutet es zum Beispiel, wenn Polizisten wirklich eine Waffe nehmen und jemanden erschießen? Wir hatten das ursprünglich sehr offen gelassen. Wir dachten, dass die Leute das selbst ausdiskutieren werden, wie sie mit Gewalt umgehen und ob sie Regeln brechen und schießen wollen, obwohl es zum Punkteabzug führt. In den ersten Spielsessions sagten die Leute aber: „Nein, wir brauchen mehr Regeln! Wenn wir eine Waffe sehen, dann wollen wir sie nehmen und schießen. Das ist ein Instinkt bei Shootern.“ Wir fragten sie daraufhin, wie es ihnen leichter fallen würde, die Menschenrechte einzuhalten. Dann wurde ein Strafraum für Polizisten diskutiert, den wir daraufhin eingeführt haben. Wenn du tatsächlich schießt, wirst du als Strafmaßnahme für zwei Minuten in den Innendienst versetzt. Das ist eine lange Zeit in solchen Spielen. Du sitzt nur vor einem Monitor und kannst dich nicht bewegen. Es gibt nur eine nervige Fliege, die du ertragen musst.

Abgesehen davon sind auch die realen Räume, Grenzen und Zäune zu sehen oder es kommen auch O-Töne vor. Das sind Dinge, die in solchen Spielen eigentlich nicht üblich sind. Du musst plötzlich zu diskutieren und zu denken beginnen. Das war eine der zentralen künstlerischen Strategien – quasi eine Art von Brecht’schem Verfremdungseffekt. Im Theater spricht man vom V-Effekt, der das Publikum immer wieder herausholt, um beide Ebenen zusammenzubringen.

 

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gold extra: Frontiers: Der Zaun in Ceuta

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Prensky, Marc. (2001): Digital Natives. Digital Immigrants Part 1. On the Horizon, 9 (5), S. 1-6.

Dilara Akarçeşme, Timna Pachner, Sonja Prlić ( 2019): Das Handy als Moment der Erzeugung von Utopien. Potenziale des Gaming, Fragen zu Digital Citizenship und digitale Spiele als Kunst. Dilara Akarçeşme und Timna Pachner im Gespräch mit Sonja Prlić.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/das-handy-als-moment-der-erzeugung-von-utopien-potenziale-des-gaming-fragen-zu-digital-citizenship-und-digitale-spiele-als-kunst/