Die Möglichkeit internationaler Partnerschaft

Das Tskaltubo Lab for Urgent Questions als künstlerische Beziehungsarbeit

Flüchtige Wissensproduktion

Betrachtet man die zur Reflexion des Projektverlaufs einberufenden Gesprächsrunden als „learning site“, dann bedeutet das, dass in diesen Gesprächsrunden etwas erlernt und ein Wissen produziert wurde. Dies wirft wiederum die Frage auf, wo dieses Wissen geblieben ist. Auf der Facebook-Seite findet sich weder eine Ankündigung noch ein Bericht zur Reflexion des Projektverlaufs. Stattdessen finden sich viele Fotos aus der Fahrrad-Werkstatt und dem verwaisten Shoppingzentrum, das wieder zu einem Treffpunkt und Hang-Out geworden war, in dem auch eine Filmvorführung und gemeinsames Kochen respektive Essen stattgefunden hatte. Zudem findet sich ein Video, das als „official film of the workshop“ bezeichnet wird.*21 *(21)

Dieses Video enthält aber keinen Einblick in die Gesprächsrunden. Ebenso wenig macht es die Schwierigkeiten, die den Eingriff der Kollektiv-Mitglieder bewirkten, nachvollziehbar. Stattdessen werden insbesondere junge Frauen gezeigt, die Fahrräder reparieren und mit ihnen auf der Terrasse vor der Werkstatt Runden ziehen. Der Film zeigt somit nicht die Auseinandersetzung und auch nicht das Wissen, das dabei produziert wurde. Wenn man davon sprechen kann, dass das Lab Züge einer „learning site“ annahm, dann lässt sich somit beobachten, dass das dabei Erlernte nicht nach außen vermittelt wird.

Diese Ausklammerung lässt sich als Konstruktion einer idealisierten Idylle kritisieren, die vorzumachen scheint, dass sich das Projekt reibungslos realisieren ließ. Ebenso lässt es sich auch als ein Versäumnis auffassen, dass der frustrierende Verhandlungsprozess nicht für Außenstehende vermittelt wird, im Sinne eines Erfahrungswissens, das sich vielleicht verallgemeinern und weiter verwenden ließe.

Zugleich lässt sich aber auch die Haltung einnehmen, dass die Ausklammerung konsequent ist. Nimmt man die von mir einleitend vorgeschlagene Sichtweise ein, wonach das Tskaltubo Lab ein Projekt der künstlerischen Beziehungsarbeit ist, dann resultiert das Projekt streng genommen als etwas Flüchtiges, das sich lediglich in der Erfahrung der Beteiligten niederschlägt. ‑ Eine Erfahrung, die insofern einer Wissensproduktion gleicht, als dass sie einen Erfahrungswert generiert und das „Sensorium“*22 *(22) der Beteiligten schärft, also die Fähigkeit, einander wahrzunehmen und miteinander zu agieren. Diese Schärfung mag den Involvierten und ihrer Zusammenarbeit in weiteren Projektphasen etwas bringen, sie widersetzt sich jedoch einem Verwertungszwang oder einer Nachprüfbarkeit.

Indem das Tskaltubo Lab for Urgent Questions als ein partizipatives Kunstprojekt verstanden wird, das sich nicht nur durch Beteiligung und Interaktion realisiert, sondern das in dieser Beteiligung und Interaktion besteht, zeichnet es sich durch eine ähnliche Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit aus, wie sie in Bezug auf Performancekunst beschrieben worden ist. Es handelt sich also um eine Kunstform, die sich nicht aus ihrem Stattfinden herauslösen lässt, sondern die lediglich Spuren und Fragmente (wie etwa die Facebook-Einträge) hinterlässt, respektive Weiterschreibungen (wie beispielsweise den vorliegenden Text) auslöst.

In diesem Sinne kann die Erfahrung der Beziehungsarbeit selbst nicht aus ihrem Kontext gelöst, verbalisiert oder sichtbar gemacht werden. Im erwähnten „official film“ über die Fahrrad-Werkstatt findet sich jedoch eine Spur von ihr: Das Video mündet nach verschiedenen Atmosphärenbildern in die Aufnahme der selbst einstudierten Choreografie einer Gruppe von Mädchen aus Tskaltubo, die mit sichtlicher Begeisterung, aber auch einer gewissen Nervosität vor der Videokamera einen Tanz aufführen. Ein Tanz, der überhaupt nicht synchron ablaufen will, und die Verletzlichkeit der sich exponierenden Mädchen spürbar macht, der aber gerade deshalb vom Vertrauensverhältnis zeugt, das im Tskaltubo Lab herrscht. Ein Vertrauensverhältnis, das vielleicht nur darum erreicht werden kann, weil das Projekt eine auf den Moment des Stattfindens bezogene Konstellation ist. Eine partnerschaftliche Konstellation, in der asymmetrische Machtverhältnisse bestehen, in der aber durch das Eingeständnis, dass dem so ist, eine Freiheit und kreative Energie entstehen können, die dem humanitären Anspruch internationaler Zusammenarbeit einen neuen Ausdruck geben.

Still aus dem „official film of the workshop“, Videostill: neue Dringlichkeit

Still aus dem „official film of the workshop“, Videostill: neue Dringlichkeit

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Bishop, Claire (2004): Antagonism and Relational Aesthetics. In: October, Herbst 2004.

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Bishop, (2006): The Social Turn: Collaboration and its Discontents. In: Artforum, Februar 2006.

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Bourriaud, Nicolas (1998): Esthetique Relationelle. Dijon: Les Presses du réel. Crossick, Geoffrey /Kaszynska, Patrycja (2016): Understanding the value of arts & culture. The AHRC Cultural Value Project, Swindon: Arts & Humanities Research Council.

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Hagoort, Erik (2005): Good Intentions. Judging the Art of Encounter. Amsterdam: Foundation for Visual Arts, Design and Architecture.

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Kester, Grant H. (2004):  Conversation Pieces. Community and Communication in Modern Art. Berkeley: University of California Press.

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Kester, Grant H. (2011): The One and The Many. Contemporary Collaborative Art in a Global Context. Durham: Duke University Press.

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Miessen, Markus (2011): The Nightmare of Participation. Berlin: Sternberg Press.

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Reich, Hannah (2006): „Local Ownership“ in Conflict Transformation Projects. Partners, Participation or Patronage?’, Berghof Occasional Paper, Nr. 27, September 2006.

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Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration. Berlin: Suhrkamp.

Das Kollektiv wurde 2010 gegründet, als die meisten Mitglieder Anfang 20 waren und studierten. Ihr Altersunterschied zu den jungen Leuten in Tskaltubo war bei der ersten Projektphase (2012) nur gering. Da das Lab vor allem von Schülern/Schülerinnen besucht wird, vergrößert sich der Altersunterschied in den folgenden Projektphasen.

Eine ähnliche Kritik, wie sie Bishop anhand des Begriffs „togetherness“ fomuliert, findet sich auch in: Miessen 2011.

Maja Leo in einer privaten E-Mail an den Autor (8. Februar 2016), E-Mail liegt dem Autor vor.

https://nd-blog.org/for-now-we-meet/ (Zugriff: 4. Juli 2016).

Tskaltubo Art Festival (jährlich seit 2013), siehe: https://www.facebook.com/Tskaltubo-Art-Festival-698901996792832/ (Zugriff: 4. Juli 2016) und http://www.artasfoundation.ch/de/tskaltuboartfestival(Zugriff: 4. Juli 2016).

artasfoundation trägt in ihrem Logo die Unterschrift „for peace“ und positioniert sich im weiten Feld des „civilian peace building“. Siehe: http://www.artasfoundation.ch/de/ziele (Zugriff: 22. Juli 2016).

Vgl. beispielsweise den Bericht Understanding the Value of Art and Culture des Arts & Humanities Research Council (Crossick/Kaszynska 2016).

Grant Kester liefert einen ausführlichen ideengeschichtlichen Rahmen für die Verbindung von Kunst mit humanitären Anliegen (vgl. Kester 2011: 19-65).

In der internationalen Zusammenarbeit wird mit einer etwas anderen Nuance auch von „patron-client relationship“ gesprochen. Vgl. Reich 2006: 4.

https://www.facebook.com/groups/its.not.that.far/ Eintrag vom 28. November 2013 (Zugriff: 15. Juli 2016).

Maja Leo in einer privaten E-Mail an den Autor (23. Februar 2016), die E-Mail liegt dem Autor vor.

Diese Aufnahmen finden sich teilweise auf der Facebook-Seite des Tskaltubo Labs (Einträge von 2013) oder auf dem Blog der neuen Dringlichkeit. Siehe: https://www.facebook.com/groups/its.not.that.far/ oder https://nd-blog.org/for-now-we-meet/ (Zugriff: 22. Juli 2016).

Maja Leo in einer privaten E-Mail an den Autor (23. Februar 2016), die E-Mail liegt dem Autor vor.

Das Video findet sich unter dem Titel For now we meet workshop auf dem Blog der neuen Dringlichkeit, siehe: https://nd-blog.org/for-now-we-meet/ (Zugriff am 15. Juli 2016).

Maja Leo in einer privaten E-Mail an den Autor (8. Februar 2016), E-Mail liegt dem Autor vor.

Thinking about Georgian Parents, Eintrag vom 24. September 2014, https://www.facebook.com/groups/its.not.that.far/ (Zugriff: 22. Juli 2016).

Das Thema der Selbstorganisation wurde aktiv eingebracht. So fand im Rahmen der zweiten Projektphase auch ein Workshop zum Thema statt, der von Wato Tsereteli, dem Leiter des Center for Contemporary Art in Tiflis, geleitet wurde.

Dieses Gespräch ist auf dem Video For now we meet workshop zu sehen (siehe Anmerkung 14).

Das Video findet sich auf der Facebook-Seite des Tskaltubo Labs und auf der Vimeo-Seite von neue Dringlichkeit: https://vimeo.com/album/1676946/video/103837792 (15. Juli 2016).

Eine Audioaufnahme des Gesprächs liegt dem Autor vor.

Eintrag vom 31. Oktober 2015, https://www.facebook.com/groups/its.not.that.far/ (15. Juli 2016).

Terkessidis bezeichnet die Schärfung eines „organischen Sensoriums“ als eine Form von Wissen, die bei Kollaborationen produziert wird (vgl. Terkessidis 2015: 171).

Marcel Bleuler ( 2016): Die Möglichkeit internationaler Partnerschaft. Das Tskaltubo Lab for Urgent Questions als künstlerische Beziehungsarbeit. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07 , https://www.p-art-icipate.net/die-moglichkeit-internationaler-partnerschaft/