Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis

Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)

Dabei kommen wir nicht umhin, am Kulturbegriff anzusetzen. Was bewirken Exklusivität und ein Exzellenz-Anspruch in kulturellen Institutionen (vgl. Maedler/Witt 2014)?star (*16)Welche Auswirkungen hat dies im Hinblick auf Diversität in Personal, Programm und Publikum?

Eine Ausrichtung, die geprägt ist von traditionellen Qualitätsmerkmalen, führt dazu, dass Fragen rund um kulturelle Teilhabe oftmals auf eine Projektebene ausgegliedert und in Outreach-Formate für die diverse Stadtgesellschaft übersetzt werden (vgl. Micossé-Aikins/Sengezer 2020).star (*17)Doch kulturelle Teilhabe lässt sich weder in Form von einmaligen Mitmach-Aktionen noch lediglich auf Projektebene denken. Eine ernsthafte, nachhaltige Auseinandersetzung mit der Frage nach Zugänglichkeit würde vielmehr bedeuten, eine strukturelle Veränderung der Kulturinstitutionen in ihrem Kern voranzutreiben (vgl. Liepsch/Warner 2018).star (*18)

In der gedanklichen Trennung von Exzellenz und Projekten für eine diverse Stadtgesellschaft zeigt sich, dass der gesellschaftliche Auftrag, kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, kulturpolitisch nicht ausreichend klar formuliert ist (vgl. Maedler/Witt 2014).star (*16)Der kulturpolitische Auftrag müsste dementsprechend lauten, Institutionen dabei zu unterstützen, die gleichen qualitativen und monetären Maßstäbe bei Offenheit und Zugänglichkeit anzulegen wie beim Thema Exzellenz (vgl. ebd.).star (*16)

In den letzten Jahren bekommt die Debatte um kulturelle Teilhabe durch das Thema Diversität in den Künsten neuen Aufwind. Kulturinstitutionen werden aufs Neue befragt, inwieweit sie sich als aktive Player in heterogenen Gesellschaften begreifen und inwiefern sie Verantwortung für die Gestaltung einer vielfältigen Gemeinschaft tragen (möchten). Dass der Kulturbetrieb im deutschsprachigen Raum die Heterogenität der Bevölkerung wenig wahrnimmt und berücksichtigt, ist vielfach analysiert (vgl. u. a. Bayer/Terkessidis (2017);star (*8)Moser 2019star (*19)). Marginalisierte Künstler:innen und Akteur:innen finden im hegemonialen Kunstkanon etablierter und finanziell großzügig ausgestatteter Kulturinstitutionen nach wie vor nur vereinzelt Zugang und sind meist in prekären Räumen und Institutionen tätig (vgl. Mörsch 2017).star (*20)

Österreichs Kulturinstitutionen sind in Sachen Diversitätskompetenz sehr unterschiedlich fortgeschritten. Während die meisten Kulturinstitutionen sich mit Fragen rund um Diversität noch nicht strukturell auseinandersetzen, werden an manchen Orten der Kunst sogar noch exotisierende oder multikulturalistische Darstellungen als Auseinandersetzung mit Vielfalt gefeiert (vgl. Bayer/Kazeem-Kamiński/Sternfeld 2017).star (*21)Vielfach besteht hier nach wie vor ein Kreislauf von Eigen- und Fremdzuschreibungen, welcher sich darin artikuliert, dass vonseiten privilegierter Positionen entschieden wird, welche Gruppen als unterprivilegiert oder benachteiligt definiert werden, einhergehend mit allen Imaginationen, die diesen Gruppen zugeschrieben werden (vgl. Sternfeld 2013).star (*22)Einige wenige Kunst- und Kultureinrichtungen widmen sich jedoch bereits mit erhöhter Sensibilität den verschiedenen Bedürfnissen ihrer Anspruchsgruppen oder durchlaufen bereits Diversifizierungsprozesse. Solche Prozesse sind hilfreich, um für die eigene institutionelle Praxis diversitätssensible Programminhalte zu entwickeln, in deren Konzeption auf die Einbindung von Menschen unterschiedlichster Hintergründe sowie auf diskriminierungskritische Herangehensweisen geachtet wird. Hier werden aktuell Erfahrungen gesammelt, wie Teilhabe in der diversen Stadtgesellschaft umsetzbar ist, was funktioniert und was im Sinne einer positiven Fehlerkultur zukünftig als Constructive Failures lieber vermieden werden sollte. Ein weiterer Schritt ist die systematische Evaluation, Dokumentation und Implementierung dieser Lernerfahrungen mit dem Ziel, dass diese eine nachhaltige Wirkung für die institutionelle Öffnung entfalten (vgl. Zuzana/Hecht/Pilić/Wiederhold-Daryanavard 2021).star (*23)

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Aikins, Joshua Kwesi/Gyamerah, Daniel (2016): Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors. Expertise. Projekt: Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hg.). Berlin, http://vielfaltentscheidet.de/handlungsoptionen-zur-diversifizierung-des-berliner-kultursektors/?back=101 (30.10.2021).

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Baumgartinger, Persson Perry/Frketić, Vlatka (2019): Kritisches Diversity und Kulturarbeit: Wenn Aktivismus und Erfahrungswissen in den Mittelpunkt gerückt werden. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Perrson Perry (Hg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion. Bielefeld: transcript. S. 47–60, https://doi.org/10.14361/978383944737.

Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

„The integration approach promotes the idea of a (still) homogeneous German society (all other are immigrants). The more culturally heterogeneous societies are becoming the more obsolete become integration approaches.“ (Tchakoura 2021) star (*13)

Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) star (*14)

Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/