Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis

Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)

Wie lässt sich der gesellschaftliche sowie kulturpolitische Auftrag, kulturelle Teilhabe für die diverse Stadtgesellschaft zu ermöglichen, nun einlösen?

Zunächst braucht es eine grundlegende Überarbeitung des Konzepts der kulturellen Teilhabe, die zum Kernauftrag der unterschiedlichen Akteur:innen wird (vgl. Maedler/Witt 2014).star (*16) Darüber hinaus bedarf es verschiedener Strategien, etwa institutionelle Transformationen und Projekte der kulturellen Teilhabe stärker zusammenzudenken. Interne Diversitätsentwicklung und Beratung konzipiert als Change-Prozesse können zu einer Transformation der Kulturinstitutionen beitragen. Die Suche nach Strategien der Öffnung in Richtung der diversen Stadtgesellschaft führt über Veränderung und Erweiterung in der Personalstruktur und im Programm (vgl. Aikins/Gyamerah 2016).star (*24) Im Sinne einer Nutzung positiver Synergien können die institutionellen Öffnungsbemühungen etablierter Häuser mit der Arbeit der zahlreichen Initiativen und Projekte, die aus der vielfältigen Stadtgesellschaft heraus bereits entstanden sind, verknüpft werden. Diese Räume funktionieren für migrantische Kulturvereine, People of Color, vielfältige Nachbar:innenschaften, Menschen mit Be_Hinderungen usw. seit Jahren und Jahrzehnten als Orte kultureller Teilhabe und Selbstartikulation. Auf der Suche nach neuen ästhetischen Praxen erscheint ein genauer Blick auf diese Orte der Selbstartikulation von besonderem Interesse (vgl. Baumgartinger/Frketić 2019star (*25)und auch Micossé-Aikins/Sharifi 2019star (*15)). Ebenso gilt es, die Arbeit der zahlreichen dezentralen Kunstorte und Kulturinstitutionen, die kulturelle Teilhabe zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht haben, miteinzubeziehen. Besonders interessant sind dabei jene, die sich die Auseinandersetzung mit der Nachbar:innenschaft sowie die Teilhabeorientierung zum konzeptionellen Bestandteil ihrer Arbeit gemacht haben. Solche Institutionen können als Kompetenzzentren gelesen werden und ihre Erfahrungen hinsichtlich etwa Multiperspektivität, der Abgabe von Definitionshoheiten, der Mehrsprachigkeit und neuer ästhetischer Erzähl- und Ausdrucksweisen als Impulse für Veränderungen genutzt werden (vgl. Ernst/Pilić 2021).star (*6)Als kulturelle Nahversorger haben sie oftmals direkteren Kontakt zu Publikumsschichten, die vom klassischen Kulturbetrieb nicht erreicht werden. In diesem Fall können dezentrale Kulturinstitutionen als Brückenbauer:innen verstanden werden – zwischen der vielfältigen Stadtgesellschaft und den etablierten Häusern. Für die Umsetzung der kulturellen Teilhabe der diversen Stadtgesellschaft scheint zunächst ein Anerkennen dieser diversen Akteur:innen relevant. Auf der Suche nach neuen Narrativen einer pluralistischen Gesellschaft gilt es die unterschiedlichen Akteur:innen zusammenzudenken.

Ein Beispiel für ein breiteres Zusammendenken verschiedener Strategien stellt die Strategische Partnerschaft des Wiener Musikvereins und der Brunnenpassage dar. Seit 2021 wird gemeinsam auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt und produziert – mit dem Ziel, der heterogenen Stadtgesellschaft gerecht zu werden. Auf diese besondere Form der Zusammenarbeit wird im Folgenden eingegangen, um aus der institutionellen Praxis konkrete Erfahrungen aufzuzeigen. Von der Auswahl der Künstler*innen über die Programmatik und Stoffauswahl bis hin zur Entwicklung von neuen künstlerischen Formaten widmen sich die beiden Partner:innen gemeinsam dem Thema Diversität. Darüber hinaus wird auch einem Nachdenken über das gemeinsame Arbeiten Raum geboten, indem in internen Reflexionen die Lernerfahrungen aus der Strategischen Partnerschaft bearbeitet werden.

Die Brunnenpassage ist ein dezentraler Kunstort am Wiener Brunnenmarkt, der 2007 gegründet wurde und mit über 400 Veranstaltungen jährlich mehr als 30.000 Besucher:innen erreicht – ein Raum, in dem mit der Unterschiedlichkeit von Menschen gearbeitet wird und diese Pluralität zum Ausgangspunkt für das künstlerische Schaffen wird. Im Rahmen ihrer künstlerischen und kuratorischen Arbeitspraxis entwickelt die Brunnenpassage diskriminierungskritische transkulturelle Partizipationsangebote sowie künstlerische Produktionen. Ziel dabei ist die Suche nach transkulturellen Ästhetiken, die den Fokus auf marginalisierte Akteur:innen legt und nachhaltig neue Programm-Formate schafft (vgl. Pilić/Wiederhold-Daryanavard 2021).star (*7)

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Baumgartinger, Persson Perry/Frketić, Vlatka (2019): Kritisches Diversity und Kulturarbeit: Wenn Aktivismus und Erfahrungswissen in den Mittelpunkt gerückt werden. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Perrson Perry (Hg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion. Bielefeld: transcript. S. 47–60, https://doi.org/10.14361/978383944737.

Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

„The integration approach promotes the idea of a (still) homogeneous German society (all other are immigrants). The more culturally heterogeneous societies are becoming the more obsolete become integration approaches.“ (Tchakoura 2021) star (*13)

Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) star (*14)

Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/