Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis

Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)

Seit 2021 befindet sich die Brunnenpassage in einer kulturpolitisch wegweisenden Partnerschaft mit dem Wiener Musikverein. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ist ein privatrechtlicher, 1812 gegründeter Verein, der in seinem Gebäude, dem Musikverein in Wien, jährlich über 800 Konzerte für ca. 700.000 Besucher:innen veranstaltet. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien stellt mit dem Musikverein eine der weltweit führenden Musikinstitutionen dar und verfügt über ein einzigartiges Musikarchiv.*4 *(4)Die Gesellschaft der Musikfreunde beabsichtigt, sich in ihrer zukünftigen Arbeit der Frage zu widmen, wie eine Diversifizierung der Institution und damit eine gesellschaftliche Öffnung gestaltet werden kann.

Im folgenden Interview erzählen Mag. Anne Wiederhold-Daryanavard, künstlerische Leiterin der Brunnenpassage, und Dr. Stephan Pauly, Intendant des Wiener Musikvereins, über ihre vielversprechende Partnerschaft und über ihre Positionen hinsichtlich diskriminierungskritischer Kunstpraxen und notwendiger kulturpolitischer Rahmenbedingungen. Das Gespräch wurde von Elisabeth Bernroitner geführt und von Dilan Sengül transkribiert.

Was verstehen Sie jeweils persönlich unter dem Begriff Diversität?

Anne Wiederhold-Daryanavard (AW): Der Diversitätsbegriff existiert nun seit einigen Jahren endlich in unserer Gesellschaft und auch im Kultursektor wird wahrgenommen, dass es dabei nicht nur um Migration geht, sondern dass dieser intersektional zu betrachten ist. Das heißt Sprache, Geschlecht, Religion, Klasse, Bildungshintergrund, aber natürlich auch persönliche Vorlieben, körperliche Verfassung, Alter – all diese Kriterien sind wichtig zu betrachten, wenn wir im Kulturbereich über Diversität sprechen. Und wir sprechen in der Brunnenpassage häufig auch über einen diversitätskritischen Ansatz, das heißt, wir versuchen sehr wachsam damit umzugehen.

Stephan Pauly (SP): In Bezug auf den Diversitätsbegriff empfinde ich mich und auch uns als Haus als Lernende. Und was ich über Diversität gelernt habe, ist, dass die verengte Sicht auf Fragen von Migration und Herkunft viel zu kurz greift und es multiple Gründe gibt, warum es dazu kommen kann, dass Menschen von Kulturangeboten aktiv ausgeschlossen sind – beispielsweise finanzielle Mittel, die jeweilige Bildungsbiografie, Sprachkenntnisse, der Wohnort und die Entfernung zum Musikverein oder natürlich Fragen der gesundheitlichen Konstitution. Dieser multiperspektivische Begriff von Diversität macht die Bemühungen um gesellschaftliche Öffnung, um mehr Diversität schön und schwierig zugleich. Schön, weil man dadurch als Mensch (und nicht nur als Kulturprofi) vertieft lernt, dass jeder Mensch Zugang zu Kultur haben muss, ungeachtet der persönlichen Prägung einer Person aus all diesen multiplen Facetten. Aber genau das macht Diversifizierung gleichzeitig schwieriger, weil natürlich die Möglichkeiten und auch die Aufgaben damit unendlich groß sind: An wen soll man sich wenden, für wen soll man was produzieren, oder besser: mit wem?

Wo sehen Sie im Kultursektor Handlungsbedarf und welche Akteur:innen braucht es? Wer fehlt auf den Bühnen und in den Konzerthäusern dieser Stadt?

SP: Ich würde die Antwort aufteilen: auf der Bühne, hinter der Bühne und vor der Bühne. Die Welt der klassischen Musik ist eine sehr kleine Welt und sie ist oft sehr kommerziell bestimmt. Es ist auch ein Markt, in dem man sich bewegt, und der Markt bestimmt sehr stark mit, wer auf den Bühnen auftritt. Da kommen natürlich Aspekte von Vielfalt zu kurz. Wir versuchen im Musikverein, verstärkt diesen Mechanismen gegenüber sensibel zu sein, wir versuchen sehr stark darauf zu achten, dass auch auf der Bühne eine erhöhte Diversität möglich ist. Hinter der Bühne, also in unserer Institution, haben wir ebenfalls mit einem Diversifizierungsprozess begonnen. In einem institutionellen Prozess haben wir überlegt, wo im Personal ein Mangel an Diversität oder möglicherweise auch eine sehr große Fülle an Diversität vorhanden ist. In der ersten institutionellen Selbstanalyse unter der Begleitung von Ivana Pilić haben wir realisiert, dass die Diversität, wenn man sich bewusst macht, wer im eigenen Haus arbeitet, viel höher ist, als wir eigentlich dachten. Im Publikum, also vor der Bühne, gibt es in den klassischen Konzerten immer noch einen deutlich spürbaren Mangel an Diversität, der von unserem Programm und von der Kommunikation beeinflusst wird. Deswegen ist ja so ein Projekt wie „Wiener Stimmen“, das von der Brunnenpassage kuratiert wird, so wichtig für uns, weil das eine Möglichkeit ist, durch diverse Künstler:innen auf der Bühne auch ein anderes Publikum anzusprechen. Dahingegen gibt es aber Programm-Bereiche im Musikverein, in denen die Diversität des Publikums sehr hoch ist, beispielsweise in den ungewöhnlichen Programmen, die wir in den 4 Neuen Sälen präsentieren, oder natürlich in unserem Education-Bereich, bei der Musikvermittlung. Damit hat der Musikverein bereits vor 30 Jahren begonnen, vor Corona hatten wir jede Saison ca. 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Kinder-, Jugend- und Familienprogramm. Das heißt, in diesem Bereich waren wir hinsichtlich Diversität im Publikum immer schon sehr gut aufgestellt und sind es auch weiterhin.

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Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

„The integration approach promotes the idea of a (still) homogeneous German society (all other are immigrants). The more culturally heterogeneous societies are becoming the more obsolete become integration approaches.“ (Tchakoura 2021) star (*13)

Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) star (*14)

Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/