Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis

Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)

AW: Ich könnte nun ganz vieles wiederholen, würde aber gerne noch weitere Aspekte erwähnen im Hinblick auf die Frage, wer in den Konzertsälen dieser Stadt fehlt. Also Aspekte, die über die Institution hinausgehen, wie zum Beispiel der Ausbildungssektor. Mir ist in den vergangenen Jahren immer bewusster geworden, dass allein die Hürden, Musik zu studieren, unglaublich groß sind. Schon hier findet ein großer Ausschluss statt. Die Frage ist, wer überhaupt in der Lage ist zu studieren, wer überhaupt in der Lage ist, ein Talent oder das eigene Können zu entwickeln, wer eine musikalische Früherziehung hat. Wird zu Hause gesungen? Gibt es ein Klavier? Das heißt, der soziale Aspekt, der Bildungshintergrund, die Unterstützung, aber auch die finanzielle Unterstützung sind zentral. Es gibt es ja ganz viele Angebote, wie Superar*2 *(2) oder eben auch kostenlose Musikinstrumente, die zur Verfügung gestellt werden. Und dennoch ist es so, dass viele davon gar nichts wissen oder aus anderen Gründen ausgeschlossen sind.

Ein weiterer Punkt ist die Fördervergabe an Kulturinstitutionen. Selbstverständlich ist das ganz unterschiedlich bei einer privaten Institution oder einer öffentlich geförderten Institution – im Musikbereich sind das ja häufig Mischformen oder oft ist die öffentliche Förderung nur ein ganz kleiner Anteil. Ich glaube, dass das aktuell eine kulturpolitisch wichtige Frage ist, wer in der öffentlichen Hand und in Jurys eigentlich entscheidet, an wen wie viel Subvention geht. Und natürlich müssen wir uns dessen bewusst sein, dass derzeit der hiesige Kultursektor – wahrscheinlich könnte man sagen: überhaupt in der westlichen Welt – sehr kommerziell beeinflusst ist und dass das natürlich auch zu einer bestimmten Form von Kunst oder in diesem Fall Musik führt. Wer schafft es denn überhaupt auf die Bühne, weil die eigene Arbeit sich als verkaufbar entwickelt hat? Wer hatte die Chance, sich da hinzuentwickeln, und in welcher Form wird produziert? Das sind jetzt schon viele neue Themen, die allerdings meiner Meinung nach auch sehr wichtig und mitzudenken sind.

Welche Maßnahmen braucht es, damit Kulturinstitutionen gerechter und diverser werden, und auf welchen Ebenen braucht es Veränderung?

AW: Dieser Gap in Österreich zwischen der sogenannten freien Szene und Angestellten wie zum Beispiel Orchestermusiker:innen, der jetzt endlich in Österreich mit der Fair-Pay-Debatte angesprochen wird, ist sehr wichtig – als Feld, in dem Veränderung ansteht. Die Frage der Arbeitsbedingungen ist ja kein neues Thema, Mozart war bettelarm und wenn es keine Mäzene gegeben hätte … Es ist eine Tatsache, dass manche Menschen in der Lage sind, freier ihrer Kunst nachzugehen als andere. Der Aspekt der Produktionsweisen ist, glaube ich, ein Feld, wo es spannend ist, hinzuschauen, dem noch mehr Raum zu widmen, weil da sicherlich auch ganz andere Kunstformen erwachsen könnten. Ich meine das als Fantasie, was es bedeuten würde, freier agieren zu können. Und da sind wir dann letztlich sogar vielleicht beim Grundeinkommen; wenn Künstler:innen diese parallelen Einkommenszwänge nicht hätten, was würde dann entstehen in der Kunst, das frage ich mich.

SP: Ich glaube, dass Diversifizierungsmaßnahmen, die nach außen sichtbar werden, zum Beispiel Projekte wie Wiener Stimmen, nicht getrennt werden dürfen von dem, was nach innen passiert, also von der Frage, wie wir uns institutionell verändern und diverser werden. Das ist aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Schlüssel, weil sich beide Dinge gegenseitig nähren und tragen. In der gemeinsamen Projektarbeit lernen wir zum Beispiel aus der Zusammenarbeit mit der Brunnenpassage sehr viel beim Projekt Wiener Stimmen. Denn wir programmieren nicht „allein“, sondern die Brunnenpassage tut dies bei diesem Projekt federführend, im Dialog mit uns. Diese Konstellation im Projekt, dass die Brunnenpassage kuratorisch das Projekt leitet, bringt uns im Programmieren in eine neue Situation. Diese Partnerschaft fordert uns heraus, wir lernen dabei neue Ansätze des Programmierens, des diversen Denkens aus dem Dialog mit den Kolleg:innen der Brunnenpassage. Und diese Zusammenarbeit im Projekt reflektieren wir intern: Sind wir institutionell für diverses Handeln richtig aufgestellt? Verstehen wir schon in ausreichendem Maße, was Diversität in diesem Projekt bedeutet, wie kommunizieren wir richtig? Diese Verbindung der diversen Projektarbeit mit einem institutionellen Öffnungsprozess ist aus meiner Sicht entscheidend für unser Verständnis von Diversität. Und ich glaube, man muss die konkreten Erfahrungen, die man in der Projektarbeit bei diversitätsorientierten Projekten macht, institutionell reflektieren und verankern. Daher haben wir diesen institutionellen Diversifizierungs-Prozess auch aufgesetzt, unter der Anleitung von erfahrenen Diversity-Profis – wir sind froh, Ivana Pilić für die Leitung dieses Prozesses gewonnen zu haben. Dieses Diversitäts-Lernen, in Projekten und als Team in der Institution, das finde ich neben der beruflichen bzw. professionellen Sphäre einfach auch als Mensch bereichernd, für das ganze Team und für mich. Wir lernen etwas über den Diskurs, wir lernen etwas über Diversitätstheorie und wir entwickeln ein verstärktes Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenleben, einfach als Menschen. Das empfinde ich als einen enormen Benefit, der sich bei diesem institutionellen Lernen hoffentlich auch ergeben wird.

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Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

„The integration approach promotes the idea of a (still) homogeneous German society (all other are immigrants). The more culturally heterogeneous societies are becoming the more obsolete become integration approaches.“ (Tchakoura 2021) star (*13)

Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) star (*14)

Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/