Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis
Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)
Wie verstehen Sie die Aufgabe der Kulturpolitik und wie würden Sie sich eine Kulturpolitik wünschen, die diversitätsorientiertes Agieren fördert und unterstützt?
AW: Meiner Meinung nach ist da ganz viel Luft nach oben hier in Österreich, vor allem wenn man das international vergleicht mit dem deutschsprachigen Raum. Ich weiß noch, Herr Pauly, wie wir bei unserem ersten Gespräch hier am Brunnenmarkt über das 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes gesprochen haben. Das ist ja beeindruckend, dass Sie hier in Österreich – ohne ein 360°-Programm – gesagt haben, Sie möchten das und bringen dafür budgetäre, aber auch zusätzlich personelle und zeitliche Ressourcen auf sowie die eigene Überzeugungsarbeit und den Mut zur Veränderung in der eigenen Institution, die manches davon sicher noch nicht in dieser Form an Arbeitsstrukturen gewohnt war. Viele andere Institutionen machen das einfach nicht, weil sie das Gefühl haben, sie kommen aus ihrem Hamsterrad nicht heraus, oder wissen gar nicht, wie sie diese Möglichkeit, irgendwas zu verändern, haben sollen. Sie wollen es, aber sie schaffen es alleine nicht. Ich glaube, dass das 360°-Programm auch nur eine Möglichkeit ist, dass es da zusätzlich ganz viele verschiedene Ebenen braucht. Allerdings wäre seitens der Kulturpolitik eine finanzielle Unterstützung und auch eine Erwartungshaltung, dass dieser Paradigmenwechsel stattfinden muss, sehr wichtig. Ich bin natürlich absolut dagegen, Intendanzen inhaltlich in irgendetwas dreinzureden, gleichzeitig glaube ich, dass die Kulturpolitik die Aufgabe hätte, diesen Ausschlussmechanismen aktiv entgegenzuwirken und dementsprechend auch die Häuser zu motivieren, Veränderungen vorzunehmen. In England sind die Entwicklungen diesbezüglich viel weiter.
SP: In dem Punkt würde ich gerne etwas ergänzen, was die personellen Ressourcen angeht. Das Team im Musikverein hat sich mit großem Feuereifer dem Thema Diversität gewidmet, aber man muss ganz nüchtern feststellen, dass man dieses Thema nicht einfach so „nebenbei“ machen kann. Man kann verstärkte kulturelle Teilhabe und Diversifizierung nicht professionell, stark und umfassend vorantreiben, ohne erhebliche Personal- und Zeitressourcen zu investieren. Diese Fragen und Vorhaben zu bewältigen, inhaltlich wie organisatorisch, das ist bis zu einem bestimmten Grad mit dem angestammten Team möglich, aber wir haben in der Arbeit sehr schnell gemerkt, dass wir an Kapazitätsgrenzen stoßen. Diese Erfahrung bringt mich zurück zur Frage, was eine unterstützende Aufgabe der Kulturpolitik sein könnte. Zum einen ist dazu zu sagen, dass die Kulturpolitik ja jetzt bereits Diversifizierung fördert, allein dadurch, dass sie Aspekte von Diversität in konkreten Projekten, für die man um finanzielle Förderung ansucht, einfordert. Zum anderen finde ich, die Kulturpolitik könnte einen Schritt weitergehen und nicht nur Diversität in konkreten Projekten fördern, sondern darüber hinaus auch die dringend benötigte personelle Diversitäts-Infrastruktur in den Kulturinstitutionen. Konkret: Es könnten Personalstellen gefördert werden, die in den Kulturbetrieben selbst den Wandel von innen heraus strukturell möglich machen, denn das ist meines Erachtens die entscheidende Herausforderung.
Zur Strategischen Partnerschaft der Brunnenpassage mit dem Musikverein: Warum gibt es sie? Und wieso ist diese Partnerschaft kulturpolitisch relevant?
AW: Ich kann nur noch einmal betonen, wie sehr wir uns seitens der Brunnenpassage darüber freuen und dass diese Partnerschaft momentan eine Exklusivität hat, nach den ersten Partnerschaften, die wir 2017 bis 2020 hatten. Natürlich, zwei ungleichere Kulturinstitutionen als den Musikverein und die Brunnenpassage kann man sich kaum vorstellen. Das macht es unendlich spannend und ich glaube, das ist auch kulturpolitisch so interessant, weil wir in diesem Bereich jetzt schon so viele Erfahrungen gesammelt haben. Wir sind an einem ganz anderen Punkt als 2017, als wir mit unseren Strategischen Partnerschaften begonnen haben, weil wir diese eben auch ein Jahr lang evaluiert haben, weil wir selbst auch sehr viel gelernt haben. Ich kann auch nur noch einmal betonen, dass das Ganze ein gemeinsamer Lernprozess ist, wo wir natürlich unsere Fachexpertise und die Kontakte und Formate und so weiter mitbringen wie auch den nichtkommerziellen Raum. Wie das dann aber zusammengefügt werden kann, da gibt es keine Patentrezepte, es ist von Institution zu Institution immer ganz verschieden, was es da genau braucht, weil die Menschen, die Anforderungen oder die Finanzierungsstruktur verschieden sind.
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Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) (*14)
Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/