Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis

Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien*1 *(1)

SP: Der erste Schritt in Richtung einer Strategischen Partnerschaft zwischen Brunnenpassage und Musikverein bestand darin, dass ich Kontakt zur Brunnenpassage aufgenommen habe, weil ich der Überzeugung bin, dass Diversifizierung von Kulturinstitutionen bestmöglich gelingen kann, wenn sie von Diversity-Profis begleitet wird. Oder anders gesagt: Ich glaube, dass man als Kulturinstitution enorm viel lernen kann, wenn man sich empfänglich macht für das, was einem konzeptionell, fachlich und praktisch erfahrene Diversity-Profis vermitteln können im gemeinsamen Dialog. Und daher habe ich die Brunnenpassage angesprochen, ob sie sich eine Zusammenarbeit, eine Partnerschaft mit dem Musikverein vorstellen kann, da die Brunnenpassage ja wirklich ein hervorragend ausgewiesenes Zentrum dafür ist, mit jahrelanger Expertise in so vielen Konstellationen. Wir konnten uns das Aufbrechen auf diesen Weg der verstärkten Diversifizierung ohne eine Partnerschaft mit Diversity-Expert:innen nicht vorstellen – und daher bin ich für diese Partnerschaft mit der Brunnenpassage sehr dankbar

Bitte um einen Blick in die Zukunft: Wo sehen Sie die Zusammenarbeit in 2 bis 3 Jahren? Gibt es Dinge, die Sie an dieser Stelle noch sagen möchten?

AW: Ich kann sagen, dass ich mich total freue auf die nächsten Jahre, weil ich ein richtig gutes Gefühl habe. Und das sage ich jetzt nicht einfach so. Ich würde das auf gar keinen Fall immer sagen in Zusammenarbeiten, weil ich schon viel anderes erlebt habe, aber hier kann ich ganz ehrlich sagen: Ich habe ein richtig gutes Gefühl mit dem, was wir uns vorgenommen haben, wie wir miteinander agieren, was für tolle Produktionen wir uns kreiert haben. Ich hatte am Anfang auch eine ziemliche Ehrfurcht davor, aber jetzt sind wir schon mittendrin. Zwar sind wir noch am Beginn der Zusammenarbeit, aber ich habe das Gefühl, wir gehen richtig große und gute Schritte für diese Stadt.

SP: Alles, was Sie zur Freude auf die Zukunft gesagt haben, kann ich nur herzlich unterstreichen und zurückgeben! Wo würde ich uns gerne sehen nach drei Jahren dieser Partnerschaft? Ich würde mir wünschen, dass aus dieser Partnerschaft erwächst, dass diverses Handeln bei uns im Haus strukturell und in den Köpfen und Herzen aller Beteiligten, im Publikum, bei den Künstler:innen und im Team des Musikvereins verankert ist. Dass Diversität einfach selbstverständlich gelebt wird, so wie alles andere auch, auf allen Ebenen und in allen Bereichen unseres Tuns. Realistisch gesehen, sind für die Erreichung dieses Ziels drei Jahre natürlich zu wenig Zeit. Aber das macht nichts: Der Weg als solcher, die Erfahrungen, die alle genannten Beteiligten miteinander in diesem Prozess machen, sind schon in sich wertvoll und wichtig. In drei Jahren werden wir nicht angekommen sein, aber wir werden einen sehr großen Schritt weiter sein. Schauen wir einmal, wo wir in zehn Jahren sind. Diversität muss sich strukturell verankern. Das wäre mein Wunsch.

 

  • Als Impulse und Anregungen für eine diversitätsorientierte Kulturpolitik ergeben sich für die Autorinnen folgende Ansätze und Maßnahmen:
  • Anerkennung der heterogen zusammengesetzten Gesellschaft als Grundlage des kulturpolitischen Agierens
  • Breiter Diskurs über Diversität und kulturelle Teilhabe in Kulturpolitik und -verwaltung
  • Systematische Steuerung und entschiedenes Vorantreiben der Diversifizierung des Kultursektors
  • Weiterentwicklung diversitätsorientierter Förderkriterien, die diskriminierungskritische Haltungen zur Fördervoraussetzung machen
  • Erhebung diversitätsorientierter statistischer Daten über den Kultursektor
  • Diversitätssensible Besetzung von Jurys und Beiräten sowie von Leitungspositionen
  • Formulierung eines klaren kulturpolitischen Auftrags an öffentliche Kulturinstitutionen, der die Erwartungshaltung eines Paradigmenwechsels widerspiegelt
  • Entwicklung von Konzepten zur Öffnung von Kunst- und Kulturinstitutionen sowie Stärkung von deren Selbstwahrnehmung als Mitgestalter:innen einer pluralistischen Gesellschaft
  • Finanzielle Förderung nachhaltiger interner Diversifizierungsprozesse von Kunst- und Kulturinstitutionen auf allen Ebenen (anstelle von Förderung auf Projektbasis)
  • Begleitung, Dokumentation und Evaluation dieser Prozesse auf der Metaebene
  • Entwicklung eines Aus- und Fortbildungsprogramms für Diversitätskompetenz von Akteur:innen im Kultursektor
  • Monetäre Stärkung von Räumen und Institutionen, die Diversität und kulturelle Teilhabe zum Ziel haben
  • Finanzielle Förderung marginalisierter Künstler:innen und Kulturakteur:innen
  • Verstärktes Augenmerk auf Diversitätsstrategien im künstlerischen Ausbildungssektor

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Der Beitrag samt Interview wurde erstmals veröffentlicht in: Wimmer, Michael (Hg.) (2022): Für eine neue Agenda der Kulturpolitik. Berlin/Boston: De Gryuter, S. 350-363. https://doi.org/10.1515/9783110791723.

„The integration approach promotes the idea of a (still) homogeneous German society (all other are immigrants). The more culturally heterogeneous societies are becoming the more obsolete become integration approaches.“ (Tchakoura 2021) star (*13)

Claudia Unterweger über den durch die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff des Strategischen Essenzialismus: „Strategisch angewendet kann Essenzialismus (strategic essentialism) dazu dienen, Strukturen sichtbar zu machen, die auf einer vermeintlichen Wesenhaftigkeit gründen. Da Essenzialismus aber ein sehr wirkmächtiges Instrument ist, ist es wichtig, dass seine Anwendung nicht unkritisch erfolgt.“ (Unterweger 2016) star (*14)

Elisabeth Bernroitner, Ivana Pilić ( 2022): Diskriminierungskritische Kulturpolitik und ihre Praxis. Am Beispiel der Strategischen Partnerschaft des Wiener Musikvereins mit der Brunnenpassage Wien[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 13 , https://www.p-art-icipate.net/diskriminierungskritische-kulturpolitik-und-ihre-praxis/