diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule

Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme

Solche Vermittlungsprojekte bergen ja auch die Gefahr von Defizitzuschreibungen. Die Wahrnehmung, dass man von oben herab einer defizitären Gruppe etwas geben muss, überwiegt oft. Wie gehst du damit um?

Diesen defizitären Gedanken beschreibt der Begriff Integration. Das ist eine in den 1970er Jahren entstandene Geschichte, die auf der Wahrnehmung basiert, dass es eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die eine Norm bildet. Wenn dann neue Personen dazukommen, sind sie in Bezug auf diese Norm quasi defizitär und diese Defizite müssen abgelegt werden. Zu Beginn dieser Zeit gab es keine Maßnahmen dazu, wie diese Dinge, die als defizitär gesehen werden, geändert werden konnten. Es musste beiläufig, nebenbei und unbewusst passieren. Auch heute noch gehen wir davon aus, dass Neugekommene Defizite haben, die sie ablegen müssen, damit sie sich in diese Gesellschaft integrieren und wir sie als Personen wahrnehmen können. Davor teilen wir sie in Gruppen auf, wie etwa „die Türken“ oder „die Araber“ und gehen davon aus, dass diese Gruppen sehr homogen sind. Ich persönlich gehe damit nicht um, weil ich dieses Wort aus meinen Konzepten und aus meinem Leben entfernt habe. Es geht nämlich nicht um eine Integration, sondern um ein gemeinsames “Wir”. Wir müssen uns fragen, wie wir dieses “Wir” definieren. Wir müssen den Ist-Zustand ermitteln und Zukunftswünsche formulieren, um dann Perspektiven dafür schaffen zu können.

Zum Beispiel heißt unser diesjähriges Kulturvermittlungsprojekt Medeas Töchter. Wir kollaborieren dabei mit Magdalena Chowaniec und dem Dschungel Wien. Wir arbeiten mit über 40 Frauen im Alter zwischen 14 und 50 und zeichnen eine gemeinsame, neue, weibliche, feministische Zukunft. Kürzlich hatten wir unser Casting. Wir haben es übrigens deshalb Casting genannt, weil meine Kolleg*innen gesagt haben, die Leute würden nicht kommen, wenn ich es Workshop nenne. Für mich war das so neokapitalistisch. Dann habe ich aber verstanden, dass es diese Wordings braucht, um die neue Generation zu animieren. Als wir nämlich Casting geschrieben haben, waren auf einmal 30 Personen da. Wir haben sie dann alle zum Recall am nächsten Tag eingeladen, woraufhin sie gestaunt haben: „Wie? Heißt das, wir sind alle gewählt worden?“ Ja, das war der Trick. Wir haben dann gesagt, dass wir mit ihnen zwei Tage lang inhaltlich und körperlich arbeiten werden und sie dann alle mitmachen können, wenn sie das wünschten. Niemand ist ausgeschlossen. Um aber niemanden auszuschließen, mussten wir sie zuerst holen und haben deshalb in die Trickkiste gegriffen und den Begriff Casting verwendet.

 

Was denkst du in Bezug auf die Förderpolitik auf Basis deiner Erfahrungen mit diverCITYLAB oder anderen Projekten?

Es ist unterschiedlich, da wir in den letzten sechs Jahren die Vierjahresförderung bekommen haben und deshalb nicht von einzelnen Töpfen abhängig waren. 2004 waren zum Beispiel ca. 500.000 Euro für die Ecke „Interkulturelles“ eingeplant, das Geld wurde aber nie ganz ausgegeben. Jetzt gibt es viele Neuerungen. In Wien hat sich die Situation ganz klar und explizit geändert, nachdem die Grünen in der Wiener Gemeindepolitik das Kulturressort übernommen und forciert haben. Damals entstanden SHIFT, kültüř gemma! oder diverCITYLAB. Jetzt gibt es KulturKatapult. Das ist eine neue Initiative, die vor allem Kunstvermittlungsprojekte für junge Leute unterstützt. Wir waren aber jahrelang in einer Bittsteller-Position. Die Politik hat nicht verstanden, dass die aufgeblasene Integration, die sie unbedingt von allen wollte, in der umgesetzten Form keinen Sinn macht. Auch war lange nicht klar, dass das Leben nicht nur aus Arbeit und einem Zuhause besteht, sondern der Mensch ein soziales Wesen ist. Und um soziale Wesen in der Gesellschaft ankommen zu lassen, braucht es eben auch andere Maßnahmen, als ihnen nur Arbeit, mit der sie Geld verdienen können, zu geben. Der Mensch existierte lange nur, wenn er arbeitete. Dann war er auch ein guter Ausländer. Das ist ein so unglaublich reduzierter, kapitalistischer Gedanke. Was den Menschen ausmacht, sein soziales Gefüge, die Kunst und Kultur wurden immer vergessen oder nur minimal wahrgenommen. Die Türken sollten Folklore machen, ihre Musik spielen oder kochen, und wir sollten sie ab und zu besuchen und bewundern, wie schön sie kochen oder bauchtanzen können. Man hat die Leute auch immer auf ein traditionelles Bild reduziert. Wir sind niemals von einem gemeinsamen Wir ausgegangen und deshalb kam es zu Nischen und Ghettoisierungen im Kunst- und Kulturbereich. Es hat lange gedauert, bis es in den Köpfen angekommen ist, dass die Leute nun hier sind und nicht mehr gehen. Das ist das neue Volk, die neue Klientel und das sind die neuen Wähler*innen. Sie sind die Masse, mit der die Politik zu arbeiten hat, die sie zu befriedigen hat und mit der sie eine gemeinsame Zukunft mit Perspektiven zu schaffen hat.

 

Zuletzt noch eine kurze Frage: Hast du Erfahrungen mit Salzburg?

Zu Salzburg habe ich eine interessante Geschichte. Anfang der 2000er Jahre gab es in Wien eine großartige Breakdancer Szene, mit der wir oft gearbeitet haben. Sie wollte sich entwickeln und wir haben – Theater, Tanz und Urban Dance zusammenbringend – öfter um Projekte angesucht, die aber nie Gehör gefunden haben. Daraufhin hat ein Mäzen die Gruppe nach Salzburg eingeladen und ein bisschen Infrastruktur geschaffen. So sind die guten Urban Dancer alle von Wien nach Salzburg gegangen. Dort haben sie großartige Projekte entwickelt. So ist Hip Hop goes Theatre im Salzburger Landestheater entstanden. Diese Projekte, die hier nie Gehör gefunden haben, wurden in großen Festivals von London bis Los Angeles, Australien, überall gespielt. Salzburg war plötzlich so fruchtbar. Urban Dance hat sich theatralisch und konzeptuell entwickelt, und das sind jetzt großartige Künstler*innen, die in ganz Österreich ihre Statements abgeben und Zeichen setzen. Das erste Mal, als diese Gruppe aus Salzburg zurück nach Wien kam, gab es eine großartige Produktion. Das Volkstheater hatte, glaube ich, bis dahin nie so ein tobendes und lebendiges Publikum gesehen. Da dachte ich: „Das ist jetzt wirklich Volkstheater. Da tobt das Volk darin, hat Spaß und die Leute gehen saugerne ins Theater.“ Es wurde nämlich für sie, in ihrer Sprache und ihrem Verständnis gerecht werdend angeboten. Man muss aber aufpassen, denn gleichzeitig dürfen solche Produktionen keine Anbiederung sein. Das ist immer der schmale Grat, wenn ich für jemanden etwas mache. Es geht nicht darum, Sehgewohnheiten zu reproduzieren, sondern mit diesen in Kommunikation zu treten. Das ist dort passiert. Genau das versuchen wir auch in unseren Stücken.

Gemeint sind Personen, die nicht den klassischen weißen und bürgerlichen Vorstellungen von Theaterschaffenden entsprechen.

Dilara Akarçeşme, Aslı Kışlal ( 2020): diverCITYLAB: Ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Aslı Kışlal im Interview mit Dilara Akarçeşme. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/divercitylab/