„Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“

Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.

Eine weitere Frage bei kultureller Teilhabe ist die nach dem „Wer“ und nach dem „Alle“: „Wer ist ‚alle‘?“ Wer spricht für wen, wenn er*sie_ sagt: „für alle“? Wie seht ihr das?

Marissa Lôbo: Die Repräsentationsfrage ist immer sehr schwierig und je mehr Erfahrung man hat, desto mehr versteht man, wie schwierig es ist, zu repräsentieren. Darüber hinaus gibt es auch immer die Schwierigkeit der Überrepräsentation. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir strategisch denken und nicht nur aus einzelnen Positionen heraus. Wir müssen uns mehr kollektiv bewegen. Ich weiß, dass das nicht leicht ist, aber das müssen wir in diesem Spiel mit dem Staat beachten. Was verdienen wir bzw. wem übergeben oder verkaufen wir unsere Arbeit? Was bekommen wir zurück? Wir müssen wirklich kalkulieren, ob etwas im Sinne der Veränderung dieser Struktur ist. Denn oft ist nur eine individualisierte Position möglich. Dieser Tausch muss fairer sein.

kültüř gemma! könnte dafür ein Beispiel sein: Es gab 2012 eine Ausschreibung von der Stadt Wien und wir haben mit unserem Konzept versucht, diese Ausschreibung zu transformieren. Sicher gibt es immer noch Ausschlüsse. Ist kültüř gemma! für alle? Die Antwort wird sicher nein sein, aber es ist ein Versuch. Wir geben diesem Projekt unser Gesicht und ich finde es schwierig, in der Mitte zu sein. Die Personen bewerben sich, es werden acht Personen von einer Jury ausgesucht und am Ende sind die Kriterien der Juryentscheidung auch nicht immer klar. Wir haben mit kültüř gemma! ein Förderprogramm in Wien für Künstler_innen auf die Beine gestellt, die davor vielleicht nie Zugang zu solchen Förderungen hatten. Sie brachten Beiträge, die wirklich wichtig sind. Catrin, wie siehst du diesen Widerspruch von kültüř gemma!?

Catrin Seefranz: Ich glaube, dass wir weit davon entfernt sind, alle zu adressieren. Ich glaube auch, dass wir weit davon entfernt sind, alle zu akzeptieren. Wir akzeptieren zwar jede Einreichung und versuchen wirklich, diese so genannte Schwelle so niedrig wie möglich zu halten. Wir haben zum Beispiel ganz wenige formale Kriterien für die Einreichung. Es haben schon Konzepte überzeugt und gewonnen, die in keiner Weise irgendwelchen klassischen Vorstellungen entsprochen haben. Mir fällt aber auf, dass es doch eine Tendenz gibt, dass ein bestimmter Diskurs und Habitus gefördert wird. Wir arbeiten strikt mit einer Jury. Das sind sieben Leute, die autonom entscheiden. Auch wenn wir das im Vorfeld beim Briefing der Jury problematisieren, habe ich den Eindruck, dass sich dieser bestimmte Diskurs durchsetzt. Wir haben beispielsweise unverhältnismäßig viele Kandidat_innen aus dem Umfeld der Akademie der Bildenden Künste. Sie haben dieses Konzeptschreiben unglaublich gut drauf. Dieser Souveränität, die in diesen Konzepten und der Präsentation dieser Konzepte steckt, kann sich die Jury oft nicht entziehen. Es sind natürlich alle herzlich willkommen und ich freue mich über jed_en Kandidat_in der Akademie. Aber ich finde eine Selbstreflexion produktiv, die wahrnimmt, welche Subjektivitäten anerkannt und gefördert werden, und die sich kritisch zur Normativität verhält, die hier hergestellt wird. Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um die Positionen einer Mehrheit, sondern um minoritäre, die innerhalb eines bestimmten Sektors des kulturellen Feldes aber selbst hegemonial werden können.

Wie setzt sich die Jury bei kültüř gemma! zusammen? Was sind eure Kriterien und wie sehen Briefings aus?

Marissa Lôbo: Wir suchen jedes Jahr sieben Personen aus, von denen wir glauben, dass sie eine politische Sensibilität haben und die aus verschiedenen Bereichen kommen. Uns ist wichtig, dass diese Kommission kein Tribunal ist. Daran und am Format der Interviews haben wir lange gearbeitet. Bewerber_innen müssen ihre Projekte in den 20 Minuten, die ihnen zur Verfügung stehen, erklären. Wir versuchen es immer sehr locker zu halten. Im Briefing machen wir der Jury klar, dass kültüř gemma! ein politisches Projekt ist. Das sagen wir ihnen direkt. Es geht bei der Auswahl nicht nur um das eingereichte Konzept, sondern auch um die Person, um die Biographie und die Praxis.

Catrin Seefranz: Ich würde auch ganz klar sagen, dass kültüř gemma! ein politisches Projekt ist. Wir versuchen, etwas, das sich einem neoliberalen Diversitätsimperativ verdanken mag, politisch zu machen. Galia Baeva, Marissa Lôbo und ich haben dieses Projekt begonnen und setzen es fort. Wo wir ein politisches Statement setzen, ist die Auswahl der Jury. Wir wählen Leute aus, denen wir einen kritischen Blick auf die Verhältnisse und Machtverhältnisse zutrauen. Mit der Jurybesetzung, die jedes Jahr wechselt, ist unser Beitrag dann auch wieder zu Ende. Der setzt erst dann wieder ein, wenn die Stipendiat_innen arbeiten, und wir sie in ihrer Arbeit begleiten. Die Besetzung der Jury ist ein Moment, wo sich aus meiner Sicht etwas von den Utopien und Visionen von kültüř gemma! materialisiert.

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Ahmed, Sara. 2012. On being included: Racism and Diversity in Institutional Life. Durham: Duke University Press.

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Akarçeşme, Dilara. 2017. Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017. Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #08. Online unter https://www.p-art-icipate.net/die-night-school-bei-den-wiener-festwochen-2017/ 

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maiz. o.J. maiz ist… Abgerufen von https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist am 08.03.2019

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kültüř gemma! o.J. Projekt. Abgerufen von http://www.kueltuergemma.at/de/startpage/ am 08.03.2019

maiz ist ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern, ihre politische und kulturelle Partizipation zu fördern sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken. (vgl. https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist )

Die damals neue ÖVP-FPÖ-Regierung ist mittlerweile bereits nicht mehr im Amt.

Persson Perry Baumgartinger, Dilara Akarçeşme, Marissa Lôbo, Catrin Seefranz ( 2019): „Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“. Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/es-ist-an-der-zeit-zu-schauen-was-unabhaengig-von-der-macht-des-staates-oder-von-institutionen-moeglich-ist/