„Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“

Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.

Marissa Lôbo: Ich finde, der Bedarf von Interventionen ist immer groß, da sehr viel Ausschluss und Diskriminierung passieren. Es ist unerträglich, in solchen Institutionen zu sein, aber nichts unternehmen zu können. Es müssen Maßnahmen gesetzt werden, die mehr Klarheit bringen, als nur hier und da post- oder dekoloniale Beiträge zu holen. Diese Praxis ist sogar sehr gefährlich. Das Wissen wird nämlich geholt, aber die Frage ist, was danach passiert. Genau jene, die dieses Wissen liefern, werden dann nicht mehr gebraucht. Die Vereinnahmung dieser Institutionen ist so groß und wir, die dafür kämpfen, dass dieses Wissen dort hinkommt, sind nicht mehr Teil davon. Wir stellen unser Wissen zwar gerne zur Verfügung, aber strukturell wollen wir auch etwas verändern. Es muss strategisch und mit vielen gemeinsam angegangen werden, damit es funktioniert. Es muss etwas wie eine Kommission an solchen Orten eingerichtet werden, um etwas zu bewegen. Ich erkenne mittlerweile sehr viel Frustration. Letztendlich geht es aber leider auch immer um den eigenen Arbeitsplatz, den viele nicht riskieren können.

Wie würdet ihr die kulturelle Teilhabe bzw. Ein- und Ausschlussmechanismen am Land beschreiben?

Catrin Seefranz: Spontan gesagt habe ich die Vorstellung, dass es am Land theoretisch einfacher sein könnte, ein Projekt für alle oder zumindest mehr zustande zu bringen, weil alles nicht so groß ist und sich nicht schon so unglaublich viele abgegrenzte Szenen gebildet haben. Ich sehe es schon so, dass das in Wien ganz stark der Fall ist. Es ist irrsinnig ausdifferenziert. Das sehe ich in ländlichen Kontexten vielleicht weniger, in der Stadt Salzburg sicher auch. Es würde mich wirklich interessieren, eine intensive Arbeit am Land zu machen, weil ich glaube, dass dort politische Bildung irrsinnig wichtig ist, vor allem wenn ich mir die Wahlergebnisse anschaue. Ich finde, dass kulturpolitisch ein zu starker Fokus auf die Städte gelegt worden ist und sehe das problematisch. Vielleicht ist es nur meine Wahrnehmung, aber interessante Initiativen beschränken sich meist erst recht wieder auf die Landeshauptstädte.

Marissa Lôbo: Unsere Arbeit in Linz im Rahmen von maiz war sehr diversifiziert. Wir haben gute Arbeit im Migrant_innenbereich gemacht. Sicher hatten wir auch mehr Aufmerksamkeit, als wenn wir das in Wien gemacht hätten. Neben Kulturarbeit war für die aktionistische Arbeit von maiz Sichtbarkeit sehr wichtig. Vielleicht waren es auch nur andere Zeiten, wo Sichtbarkeit das Motto war. Es ist jetzt sicher eine zentrale Frage, ob wir sichtbar sein müssen, um politische Arbeit zu machen. Vielleicht ist es an der Zeit, mehr zu schweigen und unsichtbar zu sein.

Catrin Seefranz: Linz als Industriestadt ist natürlich nicht mit Salzburg zu vergleichen, das ein Eldorado klassischer Hochkultur ist.

Wie sehen eure Visionen in Bezug auf kulturelle Teilhabe aus?

Marissa Lôbo: Ich finde, dass es selbstorganisierte Orte braucht. Ich hoffe, dass wir, die utopisch gedacht haben, überleben können. Dass Kunst- und Kulturarbeit wirklich als politisches Kollektiv und nicht getrennt von vielen Aspekten unseres Lebens gesehen wird. Auch ist es wichtig, mehr solidarische Aktionen zu machen. Nicht nur im Sinne von selbstorganisierten Orten, wo Künstlerisches und Kulturelles stattfinden kann, sondern auch visionäre Orte. Orte, an denen wir uns finden. Ich habe einen Traum, dass mehr BIPoC-Orte in Wien existieren. Politisch zu sein heißt nicht nur, dass wir gut schreiben und Diskurse führen können, sondern dass wir vielmehr eine affektive Politik von Solidarität leben. Ich glaube, viele von uns, die auch so denken, sind sehr isoliert und allein. Es ist sehr wichtig, diese Isolationen durch mehrere Initiativen zu brechen. Das wird ein Resultat von einem Prozess sein. Mir fehlen affektive politische Leute, die sagen: „Was brauchst du?“ Oder Personen, die fragen: „Kann ich dir eine Suppe kochen?“, wenn man krank ist.

Catrin Seefranz: Ich möchte dem eigentlich nichts anfügen, weil ich finde, dass Marissa schon sehr visionäre Sachen gesagt hat. Ich möchte nur hinzufügen, dass man um solche Visionen sehr stark wird kämpfen müssen, so wie ich die jetzige Situation einschätze. Diese autoritäre Wende wird diese Spielräume nicht so leicht bereitstellen. Diese Visionen mögen also schwer zu erreichen sein, aber ich finde, dass sie es wert sind, dafür zu kämpfen.

Danke für das Gespräch!

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Ahmed, Sara. 2012. On being included: Racism and Diversity in Institutional Life. Durham: Duke University Press.

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Akarçeşme, Dilara. 2017. Die ‚Night School‘ bei den Wiener Festwochen 2017. Raum für Verhandlung und Produktion dekolonialisierten Wissens und Denkens in ‚weißen‘ Kontexten. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #08. Online unter https://www.p-art-icipate.net/die-night-school-bei-den-wiener-festwochen-2017/ 

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maiz. o.J. maiz ist… Abgerufen von https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist am 08.03.2019

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kültüř gemma! o.J. Projekt. Abgerufen von http://www.kueltuergemma.at/de/startpage/ am 08.03.2019

maiz ist ein unabhängiger Verein von und für Migrantinnen mit dem Ziel, die Lebens- und Arbeitssituation von Migrantinnen in Österreich zu verbessern, ihre politische und kulturelle Partizipation zu fördern sowie eine Veränderung der bestehenden, ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewirken. (vgl. https://www.maiz.at/maiz/maiz-ist )

Die damals neue ÖVP-FPÖ-Regierung ist mittlerweile bereits nicht mehr im Amt.

Persson Perry Baumgartinger, Dilara Akarçeşme, Marissa Lôbo, Catrin Seefranz ( 2019): „Es ist an der Zeit, zu schauen, was unabhängig von Staat oder Institutionen möglich ist.“. Marissa Lôbo und Catrin Seefranz im Interview mit Persson Perry Baumgartinger und Dilara Akarçeşme.. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 10 , https://www.p-art-icipate.net/es-ist-an-der-zeit-zu-schauen-was-unabhaengig-von-der-macht-des-staates-oder-von-institutionen-moeglich-ist/