Exzess der Vermittlung – und wie viel davon vertragen welche BesucherInnen?
Artikel von Maximiliane Buchner, Glossarbeiträge von Marlies Berger, Maximiliane Buchner, Andrea Kurz und Manuela Seethaler – Studierende der praxisorientierten Lehrveranstaltung „Exzess der Vermittlung“ – Lehrende Luise Reitstätter
Fotografische Wahrnehmungsprozesse im Museum
Manuela Seethaler
Die heutige Medialisierung und Digitalisierung haben nicht nur das Alltagsverhalten verändert, sondern auch den Wahrnehmungsprozess im musealen Bereich. Die Vermittlung hat sich zum Teil an Medien angepasst bzw. mediale Gegenstände beeinflussen den Blick auf das Kunstwerk. Das Auge wird oft mit einer Kamera verglichen, doch sind Wahrnehmungsprozesse ungleich komplexer als die physikalischen Vorgänge bei der Fotografie. Ein Modell für diesen Wahrnehmungsprozesses stellt der Wahrnehmungszyklus von Ulric Neisser dar, dessen Funktionsweise Manfred Ritter (1986: 13) (*11) wie folgt zusammenfasst: „Visuelles Erkunden, Umweltinformationen und die Schemata im Gedächtnis sind in einem Kreisprozess zusammengeschlossen.“ Wahrnehmung ohne Gedächtnis ist nicht möglich und die Erinnerung ist ein essentielles Element des Wahrnehmungsprozesses. Im Gegensatz zur Wahrnehmung wird die Fotografie als Abbild der Umgebung beschrieben. Die Fotografie stützt das Gedächtnis in Form der Verbildlichung und es entsteht eine Beeinflussung des direkten Wahrnehmungsprozesses. Auch Irene Albers (2001: 39) (*12) verweist darauf, dass das Problem des Mediums im Zentrum der Recherche steht. Die Vergegenwärtigung von Vergangenem oder Abwesendem sei abhängig von Medien der Darstellung, Erinnerung und Imagination. MuseumsbesucherInnen sind nicht nur auf Medien der Darstellung angewiesen, sondern werden zugleich von ihnen beeinflusst und geformt. Instinktiv wird das fotografische Abbild als Gedankenstütze genutzt und der perspektivische Raum der Fotografie wird zum Exzess, welcher laut Bernd Busch (1995: 106) (*13) seinen Ursprung in der Sehkunst der Renaissance hat und stets Teil der verbildlichten Inszenierung ist. Der künstlich gestärkte Blick ist der Versuch, dem Bewusstsein einen gesicherten Ausweg aus dem Ort zu gewähren. Der Raum wird zum Schauplatz, zur Inszenierungsfläche, an dem das Begehren in den Raum eingreift. Bezogen auf den musealen Kontext erschließt erst der Blick des/der Betrachters/in den Ausstellungsraum als visuelle Handlungsform, eignet sie an und konstruiert sie.
Aktuelle kulturwissenschaftliche Theorien gehen von einer Dichte des Sehens sowie von einer Reihe von Filtern, sozialen Normen und kulturellen Faktoren aus, die zwischen Sehendem und Gesehenem wirksam werden (Kravagna 1997: 8, zit. n. Wonisch 2002: 1). (*14) So sieht kein/e BesucherIn die gleiche Ausstellung. Dies spiegelt sich in den unterschiedlichen BesucherInnentypen wider, die Regina Wonisch (2002: 5) (*15) unterscheidet. Es gibt den „Kunstliebhaber“, der sich im Anblick eines Bildes oder Objektes versenkt. Im Gegensatz dazu steht der „Flaneur“, der nur den Bruchteil eines Augenblicks vor einem Objekt verharrt und der sich durch die Museumsräume wie beim Window-Shopping treiben lässt. Im letzten Jahrzehnt hat sich aufgrund technologischer und soziokultureller Entwicklungen der/die Smartphone-UserIn als neuer BesucherInnentyp etabliert. Die Fotografie ist mittels der vielfach verbreiteten Smartphones zu einem beliebten Medium geworden, welches immer mehr MuseumsbesucherInnen begleitet. Dabei spielt die Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung, Blick durch die Kamera, Bild und BetrachterIn eine zentrale Rolle. Verschiedenste Formen der Selbstdarstellung wie Selfies dokumentieren nach dem Motto „Ich und das Kunstwerk“ die Ausstellung via Smartphone. Ein sozial-mediales Motiv steht dabei im Vordergrund: „Wenn Menschen heutzutage motivierter sind Ausstellungen zu besuchen, weil sie dies aus sozialen Gründen tun oder Ausstellungen als ,Spektakel’ empfinden und wenn sie diese Motivation mittels sozialer Medien ausdrücken und bestätigen, dann haben technologische Bedingungen offensichtlich einen Einfluss darauf, wie Kunst wahrgenommen wird. Dies ist zum Teil deshalb so, weil durch die Smartphonefotografie der Raum ,verflacht’ wird (…).“ (Palmer 2014: o.S., Übersetzung durch die Verfasserin). (*16) Ersichtlich wird, dass zeitgeistliche Veränderungen wie neue (soziale) Medien auch den Museumsbetrieb und die Kunst-und Kulturvermittlung im letzten Jahrzehnt stark verändern. Der Kunstvermittler Eric Gibson plädiert im Kontext dieser medialen Umbrüche etwa für eine verfeinerte „Kunsterfahrung“ und stimmt gegen Smartphones im Museum (Palmer 2014). Das zum Teil generelle klassische Verbot, im Museum zu fotografieren, kommt dem ungetrübten Wahrnehmungsprozess zugute. Inwiefern im Gegenzug eine bewusste Ermöglichung fotografischer Wahrnehmungsprozesse im Museum neue Welten eröffnet, bleibt im Detail noch zu untersuchen.
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