Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity
AM: Wenn wir Diversity auf Kultureinrichtungen beziehen, geht es darum, das Konzept auf mindestens drei Ebenen zu verfolgen: Personal, Programm und Publikum.*3 *(3) Kritische Kulturvermittlung kann ein Ansatz sein, um beispielsweise die Programmebene von Kulturinstitutionen diskriminierungssensibel anzuschauen und damit zusammenhängende Machtfragen zu diskutieren. Also etwa die Tatsache, dass Einrichtungen primär ausgehend von einem weißen Kulturbegriff und westlichen Ästhetiken programmieren, was wiederum die Ausblendung oder Exotisierung des „Anderen“ voraussetzt und eng mit der Frage zusammenhängt, wer in einer Institution Definitions- und Entscheidungsmacht hat.
PPB: Beim Kritischen Diversity würden wir in deinem Beispiel vor allem auf die Struktur schauen. Denn – mit Rückbezug auf Erkenntnisse der Trans- und Queer Studies – schlagen wir vor, den Blick zu verändern: weg von fixen Identitäten und (Fremd-)Zuschreibungen hin zu den Werten, Normen und Mächten, die eine Situation, eine Institution, eine Gesellschaft formen. Sie setzen den Rahmen für strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierung, einer weiteren wichtigen Kategorie des Kritischen Diversity. Also: Wie kann es möglich sein, dass bestimmte Menschen sichtbare Tätigkeiten haben und andere unsichtbare? Dass also z.B. Weiße in Organisationen sichtbarer und weiter oben in der Hierarchie sind und Schwarze oder trans Personen oder Menschen, die als behindert bezeichnet werden, weiter unten in der Hierarchie arbeiten und meistens nicht mit direktem Kontakt zu Kund_innen. Damit sind wir aber auch bei einem Dilemma, mit dem Diversity und Kulturarbeit zu tun haben: Wie umgehen mit Selbstbestimmung und Fremdzuschreibungen …
AM: Da es ohne Identitäten auch wieder nicht geht …
PPB: Ja, besonders, weil wir ja meistens fremdbestimmen, also andere Leute in Kategorien einordnen. Dieses Einordnen hat Konsequenzen, weil wir in einem historisch gewachsenen, hierarchischen Gesellschaftssystem leben. Ich denke, dass sich dieses Dilemma nicht lösen lässt. Sogenannte „Merkmale“ wie Hautfarbe, Kleidungsstil, Sprachverwendung etc. sind ja nicht per se gut oder schlecht, aber sie führen zu Diskriminierungen oder Privilegierungen, weil der gesellschaftliche Rahmen das möglich macht. Und das wäre dann quasi der Blick des Kritischen Diversity. Wenn ich eine Tour durch ein Museum mache, als Beispiel einer klassischen Kulturvermittlung, dann schätze ich die Leute vom ersten Moment an ein – das verändert mein ganzes Verhalten. Im Grunde könnte man da das Modell der verschiedenen Ebenen als Reflexionstool verwenden und eine Tour oder Performance reflektieren. Also wie ich Stereotypen auflade und wie diese mein Verhalten verändern: Erwähne ich die Person oder nicht, lasse ich das Bild aus und gehe zu einem anderen oder nicht, welche Ausstellungsstücke muss ich in jeder Tour ansprechen, weil die Institution sie als Kanon definiert etc.?
AM: In der kritischen Kulturvermittlung geht es genau darum, solche Mechanismen sichtbar zu machen und anzusprechen. Mir fällt da als Beispiel ein Vermittlungsprojekt von Hansel Sato auf der documenta 12 ein (vgl. Sato 2009). (*17) Er machte Führungen, wobei er sich mit jeweils unterschiedlichen Identitäten vorstellte, die Exponate aber immer mit gleichbleibenden Informationen erklärte. Anhand der Reaktionen und Fragen des Publikums wurde sichtbar, welche Erwartungshaltungen an ihn und an die Kunst und deren Produzent_innen durch seine jeweilige „Identität“ generiert wurden und welche Vorannahmen und Stereotypen dabei wirksam waren. Im Anschluss an die Führungen diskutierte Hansel Sato sein Vorgehen und seine Beobachtungen dann auch immer mit dem teilnehmenden Publikum. Mit diesem Projekt dekonstruierte er auch das Vermittlungsformat Publikumsführung.
Carmen Mörsch (2009) (*15) unterscheidet bei der Kunstvermittlung in Institutionen vier zentrale Diskurse: den affirmativen Diskurs, bei dem zum Beispiel in „klassischen“ Führungen Experten/Expertinnen von oben herab Wissen weitergeben, und den reproduktiven Diskurs, bei dem u.a. in speziellen Workshops bestimmte Zielgruppen (Schulklassen, Lehrpersonen, Familien etc.) als Publikum von morgen herangebildet wird. Beide Diskurse kritisieren das System nicht, sondern wiederholen und stabilisieren es. Weiters nennt sie den dekonstruktiven und den transformativen Diskurs, die beide institutionskritisch und im Kontext einer kritischen Kulturvermittlung zentral sind. Im dekonstruktiven Diskurs werden gemeinsam mit dem Publikum Kanonisierungsprozesse sowie Ein- und Ausschlüsse hinterfragt, die in und durch Institutionen wirksam sind. Beim transformativen Diskurs übernimmt Kunstvermittlung die Aufgabe, die Funktionen von Ausstellungshäusern zu erweitern und als Orte gesellschaftlicher Veränderung zu begreifen. Hier gibt es auch Anknüpfungspunkte an eine kritische und politische Kulturarbeit, die sich als Einmischung in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten versteht und auch konkrete Schritte setzen möchte, die in die Strukturen hineinwirken (vgl. Moser/Gülcü 2018 (*11)).
Persson Perry Baumgartinger, Anita Moser ( 2018): Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/frictions-and-fractions-kritische-perspektiven-auf-kulturarbeit-kulturvermittlung-und-diversity/