Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity

AM: Die Selbstreflexion der eigenen Institution müsste also im Kontext einer kritischen Kulturarbeit ganz oben stehen. Auf Basis dieser wären dann in einer Art freiwilliger Selbstverpflichtung konkrete weitere Schritte zu setzen. Terkessidis plädiert in Bezug auf Institutionen allgemein für ein der jeweiligen Organisation angemessenes, internes „Benchmarking“, das die Setzung strategischer Ziele mit der Entwicklung geeigneter Evaluationsmethoden verbindet (vgl. 2017: 51).star (*21) Wichtig wäre meiner Meinung nach, dass es für (selbst-)kritische Nachdenk- und Neuausrichtungsprozesse von Kultureinrichtungen auch entsprechende kulturpolitische Rahmenbedingungen gibt, etwa spezifische Förderungen oder anderweitige Unterstützung.

Ich überlege gerade in Bezug auf die vier oben erwähnten Diskurse der Kulturvermittlung, woran sich Transformationen festmachen lassen. Dabei fällt mir ein: Im Schloss Ambras in Innsbruck ist „Das Bildnis eines behinderten Mannes“ aus dem 16. Jahrhundert zu sehen. Lange war darüber nichts bekannt. Bis Volker Schönwiese dazu ein interdisziplinäres Forschungsprojekt durchgeführt und damit auch die verdrängte Geschichte publik gemacht hat. Das Bild hat in der offiziellen Sammlung einen Platz bekommen und kann nun besichtigt werden, zwar im Rahmen der „Kunst- und Wunderkammer“, aber zumindest kontextualisiert. Das Bild ist also Teil der offiziellen Geschichte geworden, also jener Geschichte, die in den Führungen erzählt wird, das heißt, es ist mittlerweile ein Teil des reproduktiven Diskurses.

PPB: Für mich wäre das reproduzierend auf der individuellen und der interaktionalen Ebene, aber nicht auf der gesellschaftlichen, weil BeHinderung nicht in der hohen Kunst ausgestellt wird, außer als etwas Negatives (vgl. auch den Beitrag von Egermann in diesem eJournal).

AM: Stimmt. Es wäre spannend, die verschiedenen Ebenen von Diversity mit den unterschiedlichen Diskursen der Kulturvermittlung in Verbindung zu bringen, also diese Diskurse in Hinblick auf die dabei tangierten Diversity-Ebenen zu analysieren. Das ermöglicht eine differenziertere Auseinandersetzung.

PPB: Ja, und um der Differenziertheit besser gerecht zu werden, haben wir beim Kritischen Diversity zusätzlich verschiedene Dimensionen: etwa die sprachliche, die historische, die affektiv-emotionale und achten insbesondere auf deren Verwobenheiten. Weiters beachten wir die Diskriminierungsfelder, wie etwa Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Transfeindlichkeit, Homophobie, und normative Strukturen wie etwa Gesundheitsnormen, Heteronormativität, christliche Hegemonie. In der Reflexion würde man sich alle Ebenen, Dimensionen und Felder anschauen.*4 *(4) Vielleicht funktioniert dann – mit diesem multidimensionalen Blick – auch das Dilemma der Anerkennung anders. Weil ja nicht alles gleich ist, wir sind ja wirklich unterschiedlich verortet in verschiedenen Situationen.

Damit beschäftigen sich die Trans Studies auch stark: Einerseits verstehen viele Menschen Trans als Identität; gleichzeitig werden die Diskriminierungsstrukturen rund um das, was als Trans gilt, dekonstruiert. Du hast einerseits die Materialität des Körpers, dem Identität zugeschrieben wird. Aber es gibt eben auch die Selbstidentität und im Grunde ist das vielleicht auch gar kein Dilemma, es ist einfach nur eine Gleichzeitigkeit. Es ist eine Gleichzeitigkeit von Selbstdefinition und gesellschaftlichen Normen bzw. Strukturen wie z.B. Gesetze, wo wir im Kritischen Diversity unseren Diskriminierungsbegriff hauptsächlich festmachen. Bei den Trans Studies hast du diese Gleichzeitigkeit von Anerkennung von selbstbestimmten Identitäten, z.B. transsexuell, transgender, trans*, trans_, nonbinary …, und gleichzeitig hast du die Dekonstruktion von Geschlechterbinarität, das Herausarbeiten der Verbindungen von Geschlecht und Posthumanismus (dass der Mensch sich historisch über die anderen Wesen erhöht hat), Dekolonisierung etc. Es geht darum, Geschlecht aufzufächern in die verschiedenen Aspekte, in denen es verortet ist und durch das es auch existiert. Und trotzdem ist es gleichzeitig möglich, Identitäten zuzulassen, weil es eine Selbstbestimmung von den jeweiligen Personen ist und keine Gruppenzuordnung von außen.

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Verein ][diskursiv – Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge; vgl. www.diskursiv.diebin.at.

Diese drei Ebenen nannte auch Ulli Mayer, die im Kontext der o.g. Lehrveranstaltungen am 16. Mai 2018 zu einem Gastgespräch eingeladen war.

Dazu haben die Studierenden meiner Lehrveranstaltung „Diversity in Kunst und Kultur“ ein Modell erstellt, das alle diese Dimensionen mitdenkt und von Kunst- und Kultureinrichtungen angewendet werden kann (s. Beitrag von Bründl et al. in diesem eJournal).

Am 20. November jeden Jahres wird in weltweiten Aktionen der ermordeten TransPersonen und Verbündeten gedacht (s. https://tdor.info), der Verein ][diskursiv organisierte diesen Gedenktag ab 2006 für einige Jahre in Wien.

Wie beispielsweise auf dem Berliner Kongress „Zivilgesellschaft 4.0 – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation“, wo Expert*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen gemeinsam Handlungsempfehlungen entwickelten: https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2016/civil_society_4_0/deklaration_civil_society/zivilgesellschaft_11_handlungsempfehlungen.php (letzter Zugriff 14.9.2018)

Persson Perry Baumgartinger, Anita Moser ( 2018): Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/frictions-and-fractions-kritische-perspektiven-auf-kulturarbeit-kulturvermittlung-und-diversity/