Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity

AM: Kapitalistische Interessen und Logiken sind auch in Kultureinrichtungen ein kritischer Punkt. Gerade bei Kultur- und Kunstvermittlungsangeboten stehen oft kapitalistische Interessen dahinter. Viele Museen sehen, dass ihr Publikum durchschnittlich 60+ ist und dass sie, wenn sie sich nichts Grundlegendes überlegen, in den nächsten Jahren zusperren müssen. Es geht also um Existenzsicherung und die Legitimation der eigenen Einrichtungen. Viele Audience-Development-Konzepte sind aus einem kapitalistischen Interesse heraus entstanden, also – verkürzt gesagt – aus der Frage „Wie kann ich zum Beispiel Migrant_innen als zahlendes Publikum gewinnen?“ und nicht daraus „Wie kann eine breite kulturelle Teilhabe gewährleistet werden?“

Ein gutes Beispiel für die Veränderung von Institutionen ist das Berliner Gorki-Theater. Dort spiegelt sich gesellschaftliche Vielheit auf unterschiedlichen Ebenen wider, ebenso Aspekte einer kritischen und politischen Kulturarbeit. Etwa sind auf der Personalebene unterschiedlichste Menschen anzutreffen, was Auswirkungen auf alle anderen Ebenen hat und umgekehrt. Die Aufführungen und Projekte sind mehrsprachig, das Publikum ist „gemischter“, das Programm beinhaltet Stücke aus unterschiedlichen Kulturen und Zusammenhängen, nicht-kanonisierte und kanonisierte Texte, wobei zum Beispiel der deutsche Kanon kontinuierlich dekonstruiert und aus neuen Perspektiven angeeignet wird. Das Gorki-Theater ist eine Art Vorzeigeprojekt, auf das oft verwiesen wird. Es gibt auch noch andere Einrichtungen und Projekte, in Wien zum Beispiel die Brunnenpassage.

PPB: Ja, die Brunnenpassage ist auf alle Fälle ein offener Raum. Zum Beispiel wollten wir uns vor einigen Jahren für den International Transgender Day of Remembrance*5 *(5) einmieten. Die Brunnenpassage war begeistert, sie hatten leider keinen Platz an dem Tag, aber dass sie so offen reagiert haben, war damals etwas Besonderes.

AM: Im Gegensatz zu vielen Theaterstücken und Projekten mit Geflüchteten oder Migrant_innen merkt man beim Gorki-Theater, wie wichtig dort der Anspruch an Professionalität ist, das heißt, Schauspieler_innen treten als solche auf die Bühne, sie verkörpern Rollen und nicht „eigene Schicksale“. Es gibt im Kunst- und Kulturbereich viele paternalistische Projekte, wo gemeinsam etwas gemacht wird, um die Zeit zu überbrücken, wodurch Menschen letztlich aber auch in einem prekären Status gehalten werden. Gerade im Zusammenhang von Kulturvermittlungsprojekten mit Geflohenen ist Politisierungsarbeit enorm wichtig, um die Handlungsmacht, Expertise und rechtliche Situation Geflüchteter zu stärken, aber auch um bei der so genannten Mehrheitsgesellschaft kritische Reflexionen – u.a. dahingehend, wer von welcher „Hilfe“ wie profitiert – in Gang zu setzen und gemeinsam Perspektiven zu entwickeln.*6 *(6)

Häufig finden in Museumskontexten Vermittlungsprojekte – zum Beispiel im Kontext von Flucht – statt, deren Ergebnisse wie Ausstellungen etc. ja interessant sind. Wenn man sich dann aber den Entstehungsprozess genauer ansieht, stellt man fest, dass mit sehr traditionellen Kulturbegriffen gearbeitet wurde, die Zusammenarbeiten hierarchisch waren, den Mitwirkenden keine Honorare bezahlt wurden und die Menschen wieder nur auf ihre Fluchtgeschichte oder Identität aufgrund ihrer Herkunft reduziert wurden, also asymmetrische Verhältnisse reproduziert wurden. Wichtig ist daher, dass das Wissen, das gerade in diskriminierungskritischen Projekten wie der Brunnenpassage oder auch der WIENWOCHE generiert wird, in Institutionen einfließt. Eine ernst gemeinte Diversitätspolitik hieße, „dass alle diese Menschen in anderen Institutionen landen, weil man sie da händeringend sucht“, wie Can Gülcü sagt (vgl. Moser/Gülcü 2018star (*11)).

PPB: Das erinnert mich an die Forderung der Enthinderungsbewegung aus den 1990er-Jahren: „Nothing about us without us!“ Sie ist eine aktivistische Reaktion auf Pathologisierung, Fremdbestimmung und auch solche Ausnutzungssysteme im Kunst- und Kulturbereich sowie in der Wissenschaft. Der Slogan wird zurückgeführt auf die beiden südafrikanischen Enthinderungsaktivist_innen Michael Masutha und William Rowland, die sich ihrerseits auf ein* unbekannt* osteuropäische Enthinderungsaktivist_in bezogen (vgl. Charlton 1998: 3).star (*6)

AM: Diese Forderung ist auch bei der australischen Selbstorganisation Geflohener, Asylsuchender und Ex-Inhaftierter Rise zentral. 2015 formulierte sie 10 Punkte, die in der künstlerischen Zusammenarbeit Nicht-Geflohener/Nicht-Asylsuchender mit Geflohenen und Asylsuchenden zu beachten seien (vgl. Canas 2015).star (*5) Diese wurden im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Projekten, die im Kontext des „Sommers der Migration“ 2015 entstanden sind, oft zitiert und waren auch in meiner Lehrveranstaltung „Kulturarbeit und künstlerische Praktiken in der Migrationsgesellschaft“ eine wichtige Grundlage. Es wird gefordert, dass Künstler_innen die eigene Intention kritisch hinterfragen, die eigenen Privilegien realisieren, im Vorfeld über die Community und bereits realisierte Projekte recherchieren, sich bewusst sind, dass Kunst nie neutral ist, dass in der Arbeit der Fokus auf den Prozess gelegt wird etc.

PPB: Für kritische Kulturarbeit ist es vor allem wichtig, einen Schritt zur Seite zu gehen und zu erkennen, dass es bereits sehr viel selbstbestimmtes Wissen, Strategien und Forderungen zu sogenannten „Minderheitenthemen“ gibt. Sie sind schon lange da, bevor die Wissenschafts-, Kunst- und Kulturbereiche auf sie aufmerksam werden. Denn marginalisierte Gruppen müssen viel und hart arbeiten, bevor sie überhaupt vom Mainstream gehört werden. Und Wissenschaft, Kunst und Kultur sind sehr elitäre Bereiche, die lange brauchen, bis sie aufmerksam werden. Es gibt sehr viel Forschung und Kulturproduktion zu Trans, Inter, Queer, Migrant_innen, Geflüchteten, sogenannten Behinderten, Roma und Sinti etc., die von kritischen Diversity- und Kulturarbeitsansätzen, aber auch machtvollen Institutionen wie Universitäten und (Staats-)Museen ernst genommen werden müssten, es existieren sogar konkrete Handlungsanleitungen – es hält sich nur selten jemand dran.

 

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Verein ][diskursiv – Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge; vgl. www.diskursiv.diebin.at.

Diese drei Ebenen nannte auch Ulli Mayer, die im Kontext der o.g. Lehrveranstaltungen am 16. Mai 2018 zu einem Gastgespräch eingeladen war.

Dazu haben die Studierenden meiner Lehrveranstaltung „Diversity in Kunst und Kultur“ ein Modell erstellt, das alle diese Dimensionen mitdenkt und von Kunst- und Kultureinrichtungen angewendet werden kann (s. Beitrag von Bründl et al. in diesem eJournal).

Am 20. November jeden Jahres wird in weltweiten Aktionen der ermordeten TransPersonen und Verbündeten gedacht (s. https://tdor.info), der Verein ][diskursiv organisierte diesen Gedenktag ab 2006 für einige Jahre in Wien.

Wie beispielsweise auf dem Berliner Kongress „Zivilgesellschaft 4.0 – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation“, wo Expert*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen gemeinsam Handlungsempfehlungen entwickelten: https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2016/civil_society_4_0/deklaration_civil_society/zivilgesellschaft_11_handlungsempfehlungen.php (letzter Zugriff 14.9.2018)

Persson Perry Baumgartinger, Anita Moser ( 2018): Frictions and Fractions?! Kritische Perspektiven auf Kulturarbeit, Kulturvermittlung und Diversity. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/frictions-and-fractions-kritische-perspektiven-auf-kulturarbeit-kulturvermittlung-und-diversity/