Geschichten ‚mit Zukunft‘

Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit

Gegenwärtig befinden wir uns in der zweiten Projektphase, in der Umsetzung verschiedener künstlerischer Experimentierräume, insbesondere der Pop-Up-Erzähllabore. Diese sind an der Idee von Realexperimenten*5 *(5) – ein weiteres Charakteristikum von Reallaboren – angelehnt. Das heißt, wir, das Forschungsteam, sind aktiv involviert in die Gestaltung und Umsetzung der Experimente, die Transformationsprozesse anstoßen sollen. Gleichzeitig nehmen wir die stattfindenden Prozesse aber auch auf einer Metaebene, im Rahmen einer Begleitforschung, in den Blick. Ziel von Realexperimenten ist im Sinne eines Modellcharakters auch eine Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse und Problemlösungen auf andere Kontexte. Inwiefern wir dies im Rahmen künstlerischer, prozessorientierter und ergebnisoffener Experimentierräume leisten können (und ob wir dahingehend überhaupt von ‚Realexperimenten‘ sprechen können), ist eine offene Frage, die uns fortlaufend beschäftigt und im letzten Teil dieses Textes auch diskutiert wird.

Besondere Bedeutung kommt in unserem Projekt den Bildungszielen – die in Reallaboren neben den Forschungs- und Praxiszielen verfolgt werden (vgl. dazu Fußnote 2) – zu: Wir verstehen Räume kultureller Demokratie als Projekt, in dem Bildung und Vermittlung auf zwei Ebenen stattfinden: einerseits im Rahmen des kollaborativen und co-kreativen Miteinander-Tuns und Voneinander-Lernens, wie es bereits im Zuge der Ideenentwicklung stattgefunden hat und gegenwärtig in der Umsetzung dieser Ideen unter Einbezug vieler weiterer Menschen Fortsetzung findet. Andererseits möchten wir in einer dritten Projektphase aus dem Umsetzungsprozess hervorgehendes Wissen und Erfahrungen dokumentieren, bündeln – und im Sinne von Übertragbarkeit – aufbereiten. Ziel ist es, vielfältige Materialien und Ideen, die in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt und weiterentwickelt werden können, zur Verfügung stellen zu können.

Ein wesentlicher Aspekt, der unser Projekt prägt und uns von den meisten der bisher existierenden Reallabore*6 *(6) unterscheidet, liegt im bereits angesprochenen Einbezug von künstlerischen Praktiken und Strategien in unsere Experimentierräume. Dabei gehen wir davon aus, dass künstlerisch-experimentelle, prozesshafte Zugänge sich für das ‚Erfahren‘ von Nachhaltigkeit als produktiv erweisen. Denn sie ermöglichen es, an verschiedene Lebenswelten anzuknüpfen und Wahrnehmungs-, Handlungs- und Begegnungsräume als zunächst ergebnisoffene ‚Zwischenräume‘ – ohne ‚Setzungen‘ und vordefinierte Ziele – zu eröffnen. Gerade auch das gemeinschaftliche, künstlerisch-experimentelle Tun birgt das Potenzial, alternative Blickwinkel und Perspektiven sichtbar zu machen, Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen in Frage zu stellen und zu durchbrechen. Dort, wo eingeschliffene Wahrnehmungsbahnen verlassen werden, indem beispielsweise die Perspektive auf bisher Unhinterfragtes gelenkt wird, wo sich im Austausch Reibungsflächen ergeben oder sich Handlungsalternativen auftun, können unseres Erachtens Transformationsprozesse angestoßen werden. Neue Räume können sich erschließen, die dazu inspirieren und motivieren, sich Visionen und Szenarien für eine Zukunft ‚mit Zukunft‘ zu ‚ermitteln‘. Gleichzeitig ergeben sich allerdings gerade auch in diesem Findungsprozess künstlerischer Experimentierräume als ‚Erfahrungsräume‘ viele Herausforderungen und offene Fragen, die wir im abschließenden Teil dieses Textes noch diskutieren werden.

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Anzengruber, Katharina/Zobl, Elke (erscheint im November 2021): Zukunft mit Zukunft. Künstlerische Experimentierräume und kulturelle Nachhaltigkeit. In: Rauscher, Erwin/Sippl, Carmen (Hrsg.), Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Innsbruck, Wien: Studienverlag.

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Di Giulio, Antonietta/Defila, Rico (Hrsg.) (2018): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer VS.

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Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/Selm, Hanna/Storksdieck, Martin/Sundermann, Anna (2021): SusTelling: Storytelling für Nachhaltigkeit. In: Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/ Selm, Hanna/Sundermann, Anna (Hrsg.); Nachhaltigkeit erzählen. Durch Storytelling besser kommunizieren? S. 21–36. München: oekom.

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Gaztambide-Fernández, Rubén (2014): Warum die Künste nichts tun. Auf dem Weg zu einer neuen Vision für die kulturelle Produktion in der Bildung. In: Hamer, Gunhild  (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kulturvermittlung und ihre Effekte, S. 51–86. München: Kopaed.

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Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript.

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Klaus, Elisabeth/Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita /Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 19–31. Bielefeld: transcript.

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Krämer, Georg (2018): Transformative Bildung: Zwischen Katastrophen-Pädagogik und Subjektorientierung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 12–15. Berlin: VENRO.

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Mörsch, Carmen (2016): Urteilen Sie selbst: Vom Öffnen und Schließen von Welten. In Kultur öffnet Welten. Online unter https://www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_2944.html, abgerufen am 12.10.2021.

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Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner.

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Seitz, Klaus (2018): Globales Lernen als Transformative Bildung für eine zukunftsfähige Entwicklung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 7–11. Berlin: VENRO.

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Quartier Zukunft (Hrsg.) (2020): Dein Quartier und Du. Nachhaltigkeitsexperimente im Reallabor zu Nachbarschaften, Bienen, Naschbeeten, Kreativität und Konsum. Karlsruhe: Scientific Publishing.

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Welzer, Harald (2013): Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer.

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Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Teilhabe. Theoretische Ansätze und aktuelle Fragen. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 47–60. Bielefeld: transcript.

Mörsch weist darauf hin, dass verschiedene Bewegungen an der Erweiterung des Kulturbegriffs beteiligt waren, wie „die europäischen Bewegungen der Arbeiterbildung, […], die sich gegen die ‚musische Bildung’ abgrenzende ‚kulturelle Bildung’ in der BRD, die lateinamerikanische Befreiungspädagogik oder die Widerstandsbewegungen der Dekolonisierung und der Indigenen“ (Mörsch 2016: o.S.).

Wir beziehen uns hier auf das aus dem angloamerikanischen Raum stammende Konzept der Cultural Citizenship, das zivilgesellschaftliche Ansprüche auf eine Mitgestaltung kultureller Bedeutungsproduktion betont (Klaus/Zobl 2019).

Reallabore bezeichnen „ein Forschungsformat, in dem transdisziplinär geforscht wird und gleichzeitig ein expliziter transformativer Anspruch verfolgt wird“ (Defila/Giulio 2018: 9). Es handelt sich dabei um hybride Gebilde (Projekte, Unternehmungen) an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft. Dementsprechend sind sie partizipativ auf die Beteiligung von Wissenschafter:innen und Akteur:innen aus der Praxis und Zivilgesellschaft angelegt und verfolgen eine dreifache Zielsetzung: die Produktion von Erkenntnissen und Wissen (Forschungsziele), das Anstoßen von Transformationsprozessen (Praxisziele) sowie ein Voneinander-Lernen und Vermitteln (Bildungsziele) (vgl. Defila/Giulio 2018: 11).

Im weiteren Textverlauf verwenden wir auch die Abkürzung Räume-Projekt zur Bezeichnung des Projektes Räume kultureller Demokratie.

Realexperimente sind der Kern von Reallaboren. In ihnen werden Innovationen erprobt und in Bezug auf ihre Übertragbarkeit auf andere Kontexte überprüft. Sie sind demnach stark selbstreflexiven Charakters und können temporär und/oder langfristig angelegt sein. Zentral ist es, in diese Realexperimente verschiedene Beteiligungsformate mit je unterschiedlicher Beteiligungsintensität zu integrieren.

Um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie Reallabore umgesetzt werden können, empfehlen wir die Website der Plattform Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit: https://www.reallabor-netzwerk.de.

Dem Geschichtenerzählen wird in Nachhaltigkeitskontexten – dann vielfach unter dem Begriff ‚Storytelling‘ gefasst – große Bedeutung beigemessen. Storytelling wird zum einen dazu herangezogen, „um ganz konkrete Lösungsansätze für komplexe und verzwickte (wicked) Nachhaltigkeitsherausforderungen zu entwickeln, [ist] zum anderen jedoch daran geknüpft, Menschen in eine Auseinandersetzung mit diesen komplexen Problemstellungen zu bringen und sie an der Ko-Produktion möglicher Lösungen zu beteiligen“ (Fischer et al. 2021: 22). Die Ziele, die damit einhergehen, sind demnach „bildend auf Rezipierende zu wirken (Bildungswirkung) und den Wandel im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern (Nachhaltigkeitswirkung)“ (Fischer et al. 2021: 27). Wenngleich dem Storytelling im hier beschriebenen (und den Diskurs um Storytelling und Nachhaltigkeit im Allgemeinen prägenden) Sinne also auch eine ‚aktivierende‘ Funktion zukommt, so steht doch die Wirkungsorientierung im Vordergrund – und damit einhergehend der Moment der ‚Übermittlung‘ im Sinne von: „Mit welchen erzählerischen Strategien kann der:die Erzähler:in bei den Rezipient:innen einen möglichst starken Effekt erzielen und sie dazu motivieren zu handeln?“. Wir versuchen im Räume-Projekt ein Stück weit den ‚umgekehrten‘ Weg zu gehen, also nicht Erzählstrategien zu nutzen, um komplexe Probleme verständlich aufzubereiten und die Menschen dazu zu bewegen, sich an deren Lösung zu beteiligen, sondern unmittelbar bei ihnen anzusetzen. Da dieser Zugang also nicht den – wenngleich auch sehr breit gefächerten – Konzepten von Storytelling entspricht, verwenden wir das deutsche Pendant „Geschichtenerzählen“.

Katharina Anzengruber, Elke Zobl ( 2021): Geschichten ‚mit Zukunft‘. Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/geschichten-mit-zukunft/