Geschichten ‚mit Zukunft‘

Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit

III. Zukunft mit Zukunft: Einblicke in die Praxis

Wie künstlerische Experimentierräume im Rahmen des Räume-Projektes konkret aussehen können, das werden wir im Folgenden am Beispiel der Pop-Up-Erzähllabore, wie wir sie in Mattsee im Rahmen des Supergau Festivals unter dem Motto Zukunft mit Zukunft umgesetzt und erprobt haben, skizzieren.

Pop-Up-Erzähllabore als Experimentierräume zum Sammeln und Erzählen von Geschichten ‚mit Zukunft‘

Das Sammeln und Erzählen von Geschichten, die in eine wünschenswerte Zukunft weisen bzw. Menschen dazu inspirieren können, von- und miteinander zu lernen, über verschiedene Zukünfte ‚mit Zukunft‘ nachzudenken, selbst ins Tun zu kommen und ihre eigenen Geschichten ‚mit Zukunft‘ zu ‚schreiben‘ und zu erzählen, erwies sich – wie bereits angesprochen – als ein zentraler Gedanke der ersten Projektphase. Er zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen und tauchte sowohl an verschiedenen Stellen im Prozess als auch in unterschiedlichsten Zusammenhängen immer wieder auf. Daraus entstand die Idee für Experimentierräume, in denen ein Geschichtenerzählen,*7 *(7) das unmittelbar von den Dringlichkeiten, den Erfahrungen und dem Wissen der Menschen ausgeht, ermöglicht wird. In kollaborativen und co-kreativen, fortlaufenden Prozessen und im Rahmen verschiedener künstlerisch-experimenteller Settings sollten Geschichten ‚mit Zukunft‘ gesammelt und geteilt werden: in einer ersten Ausgabe im Rahmen der Pop-Up-Erzähllabore in Mattsee.

Fahrrad-Erzähl-Werkstatt

Ein solches Pop-Up-Erzähllabor in Mattsee stellte die Fahrrad-Erzähl-Werkstatt, konzipiert vom Künstler Jan-Phillip Ley, dar. Es handelte sich dabei um eine temporäre Fahrradwerkstatt im öffentlichen Raum, die zum einen tatsächlich Anlaufstelle für das Reparieren von Rädern war. Zum anderen wurden im Vorfeld, in Zusammenarbeit mit Studierenden, Geschichten ‚mit Zukunft‘ als kurze Audiobeiträge produziert. Diese in ihrer Machart sehr unterschiedlichen Beiträge reichten von Gesprächen mit Menschen, die in und um Mattsee zukunftsweisende Projekte umsetzen, über sehr strukturierte Interviews, etwa zum Thema Bio-Zertifikate, bis hin zu eher experimentellen Tracks, in denen man beispielsweise einen Waschbären auf seiner Suche nach Nahrung begleitet. Sie konnten einerseits über an Rädern montierte, eigens angefertigte Audiogeräte angehört werden, andererseits bestand auch die Möglichkeit, sich durch diese Geschichten zum Erzählen und Aufnehmen eigener Geschichten ‚mit Zukunft‘ inspirieren zu lassen – die Geräte konnten auch als Aufnahmegeräte eingesetzt werden. Neben der Option, sich eines der mit den Geräten versehenen Fahrräder auszuleihen und eigene Touren zu unternehmen, wurden auch geführte Radtouren angeboten, die physische Begegnungen mit je einer:einem der Protagonist:innen der Geschichten beinhalteten.

Transformierte Bushaltestelle Mattsee-Ortsmitte

Das Künstler:innen-Duo Stephanie Müller und Klaus Erika Dietl verwandelte die Bushaltestelle Mattsee Ortsmitte in ein temporäres Erzähllabor, das auch sehr spontan transformiert und umfunktioniert wurde: Beispielsweise als Näh-Werkstätte oder Teestube eingerichtet, fanden dort zufällige, teils sehr intensive Begegnungen und Gespräche mit bzw. zwischen unterschiedlichsten Menschen statt. Im Vordergrund stand hier nicht eine komplett fertige Inszenierung im Sinne einer Theater-Bühne, sondern vielmehr das Flüchtige, das Unfertige, das offene Anknüpfen an die Bedürfnisse der Passant:innen. Dabei verharrten die beiden Künstler:innen nicht als Wartende auf potenzielle Besucher:innen. Stattdessen zeigten sie sich im Arbeitsprozess und ließen sich dabei gerne ‚stören‘. Den Menschen mit großer Offenheit zu begegnen, keine thematischen Setzungen vorzunehmen, sondern ihnen „zunächst einfach zuzuhören“ (Stephanie Müller) stand für sie im Fokus – ein Zugang, der sich für unsere Pop-Up-Erzähllabore als der zentrale Aspekt herausgestellt hat.

Dieser Aspekt dient uns als Ausgangspunkt für den nun folgenden abschließenden Teil. Unter Rückgriff auf konkrete Zitate, in denen sich unseren Beobachtungen und Erfahrungen in Mattsee widerspiegeln, thematisieren wir weitere Aspekte, die unseres Erachtens einerseits für die Eröffnung von Erzähllaboren im Speziellen zentral sind. Andererseits kommt ihnen aber für künstlerische Experimentierräume, wie wir sie verstehen und hier skizzieren, im Allgemeinen, sowohl in konzeptioneller als auch in inhaltlicher Hinsicht, wesentliche Bedeutung zu.

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Anzengruber, Katharina/Zobl, Elke (erscheint im November 2021): Zukunft mit Zukunft. Künstlerische Experimentierräume und kulturelle Nachhaltigkeit. In: Rauscher, Erwin/Sippl, Carmen (Hrsg.), Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Innsbruck, Wien: Studienverlag.

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Di Giulio, Antonietta/Defila, Rico (Hrsg.) (2018): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer VS.

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Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/Selm, Hanna/Storksdieck, Martin/Sundermann, Anna (2021): SusTelling: Storytelling für Nachhaltigkeit. In: Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/ Selm, Hanna/Sundermann, Anna (Hrsg.); Nachhaltigkeit erzählen. Durch Storytelling besser kommunizieren? S. 21–36. München: oekom.

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Gaztambide-Fernández, Rubén (2014): Warum die Künste nichts tun. Auf dem Weg zu einer neuen Vision für die kulturelle Produktion in der Bildung. In: Hamer, Gunhild  (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kulturvermittlung und ihre Effekte, S. 51–86. München: Kopaed.

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Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript.

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Klaus, Elisabeth/Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita /Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 19–31. Bielefeld: transcript.

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Krämer, Georg (2018): Transformative Bildung: Zwischen Katastrophen-Pädagogik und Subjektorientierung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 12–15. Berlin: VENRO.

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Mörsch, Carmen (2016): Urteilen Sie selbst: Vom Öffnen und Schließen von Welten. In Kultur öffnet Welten. Online unter https://www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_2944.html, abgerufen am 12.10.2021.

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Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner.

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Seitz, Klaus (2018): Globales Lernen als Transformative Bildung für eine zukunftsfähige Entwicklung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 7–11. Berlin: VENRO.

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Quartier Zukunft (Hrsg.) (2020): Dein Quartier und Du. Nachhaltigkeitsexperimente im Reallabor zu Nachbarschaften, Bienen, Naschbeeten, Kreativität und Konsum. Karlsruhe: Scientific Publishing.

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Welzer, Harald (2013): Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer.

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Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Teilhabe. Theoretische Ansätze und aktuelle Fragen. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 47–60. Bielefeld: transcript.

Mörsch weist darauf hin, dass verschiedene Bewegungen an der Erweiterung des Kulturbegriffs beteiligt waren, wie „die europäischen Bewegungen der Arbeiterbildung, […], die sich gegen die ‚musische Bildung’ abgrenzende ‚kulturelle Bildung’ in der BRD, die lateinamerikanische Befreiungspädagogik oder die Widerstandsbewegungen der Dekolonisierung und der Indigenen“ (Mörsch 2016: o.S.).

Wir beziehen uns hier auf das aus dem angloamerikanischen Raum stammende Konzept der Cultural Citizenship, das zivilgesellschaftliche Ansprüche auf eine Mitgestaltung kultureller Bedeutungsproduktion betont (Klaus/Zobl 2019).

Reallabore bezeichnen „ein Forschungsformat, in dem transdisziplinär geforscht wird und gleichzeitig ein expliziter transformativer Anspruch verfolgt wird“ (Defila/Giulio 2018: 9). Es handelt sich dabei um hybride Gebilde (Projekte, Unternehmungen) an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft. Dementsprechend sind sie partizipativ auf die Beteiligung von Wissenschafter:innen und Akteur:innen aus der Praxis und Zivilgesellschaft angelegt und verfolgen eine dreifache Zielsetzung: die Produktion von Erkenntnissen und Wissen (Forschungsziele), das Anstoßen von Transformationsprozessen (Praxisziele) sowie ein Voneinander-Lernen und Vermitteln (Bildungsziele) (vgl. Defila/Giulio 2018: 11).

Im weiteren Textverlauf verwenden wir auch die Abkürzung Räume-Projekt zur Bezeichnung des Projektes Räume kultureller Demokratie.

Realexperimente sind der Kern von Reallaboren. In ihnen werden Innovationen erprobt und in Bezug auf ihre Übertragbarkeit auf andere Kontexte überprüft. Sie sind demnach stark selbstreflexiven Charakters und können temporär und/oder langfristig angelegt sein. Zentral ist es, in diese Realexperimente verschiedene Beteiligungsformate mit je unterschiedlicher Beteiligungsintensität zu integrieren.

Um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie Reallabore umgesetzt werden können, empfehlen wir die Website der Plattform Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit: https://www.reallabor-netzwerk.de.

Dem Geschichtenerzählen wird in Nachhaltigkeitskontexten – dann vielfach unter dem Begriff ‚Storytelling‘ gefasst – große Bedeutung beigemessen. Storytelling wird zum einen dazu herangezogen, „um ganz konkrete Lösungsansätze für komplexe und verzwickte (wicked) Nachhaltigkeitsherausforderungen zu entwickeln, [ist] zum anderen jedoch daran geknüpft, Menschen in eine Auseinandersetzung mit diesen komplexen Problemstellungen zu bringen und sie an der Ko-Produktion möglicher Lösungen zu beteiligen“ (Fischer et al. 2021: 22). Die Ziele, die damit einhergehen, sind demnach „bildend auf Rezipierende zu wirken (Bildungswirkung) und den Wandel im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern (Nachhaltigkeitswirkung)“ (Fischer et al. 2021: 27). Wenngleich dem Storytelling im hier beschriebenen (und den Diskurs um Storytelling und Nachhaltigkeit im Allgemeinen prägenden) Sinne also auch eine ‚aktivierende‘ Funktion zukommt, so steht doch die Wirkungsorientierung im Vordergrund – und damit einhergehend der Moment der ‚Übermittlung‘ im Sinne von: „Mit welchen erzählerischen Strategien kann der:die Erzähler:in bei den Rezipient:innen einen möglichst starken Effekt erzielen und sie dazu motivieren zu handeln?“. Wir versuchen im Räume-Projekt ein Stück weit den ‚umgekehrten‘ Weg zu gehen, also nicht Erzählstrategien zu nutzen, um komplexe Probleme verständlich aufzubereiten und die Menschen dazu zu bewegen, sich an deren Lösung zu beteiligen, sondern unmittelbar bei ihnen anzusetzen. Da dieser Zugang also nicht den – wenngleich auch sehr breit gefächerten – Konzepten von Storytelling entspricht, verwenden wir das deutsche Pendant „Geschichtenerzählen“.

Katharina Anzengruber, Elke Zobl ( 2021): Geschichten ‚mit Zukunft‘. Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/geschichten-mit-zukunft/