Geschichten ‚mit Zukunft‘

Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit

„Es hat immer am besten funktioniert, wenn man am Anfang nicht über Nachhaltigkeit geredet hat.“

„Und dann sieht man: ‚Nicht nur ich trage selbstgenähte Kleidung, sondern die andere Person auch.‘ Darüber kommt man dann zum Beispiel ins Gespräch. Und dabei merkt man, dass eigentlich so vieles Bezüge zum Thema Nachhaltigkeit aufweist. Das ist cool.“ (Jan-Phillip Ley)

Eine wesentliche Erfahrung im Hinblick auf unsere Erzähllabore in Mattsee besteht darin, dass es – abgesehen von an der Oberfläche verbleibenden Kurz-Konversationen – hemmend und eher abschreckend wirkt, Gesprächssituationen ausgehend vom Thema „Nachhaltigkeit“ selbst zu initiieren. Diese Erfahrung spiegelt sich nicht nur in den Reflexionen der Künstler:innen an verschiedenen Stellen wider, sondern deckt sich auch mit den Beobachtungen des gesamten Projektteams. Es braucht offene und demokratische Orte der Begegnung auf Augenhöhe, in denen von den Dringlichkeiten der Menschen ausgegangen wird und in denen spezifische Erwartungshaltungen oder gar ein erhobener Zeigefinger keine Rolle spielen. Müller und Dietl beschreiben ihre Vorgehensweise in Mattsee wie folgt: „Wir arbeiten uns immer mehr dazu hin, dass wir als großes Fragezeichen in der Stadt stehen, also als Menschen, die zunächst einfach wissbegierig sind“ (Klaus Erika Dietl), „die erstmal nachforschen: Welche Themen schwimmen da unter der Oberfläche? Wir haben dabei nicht diese Fragen parat, wie: ‚Was machen Sie denn zum Thema Nachhaltigkeit?‘ ‚Haben Sie sich da schon auseinandergesetzt?‘. […] Da ergibt sich dann aber so viel.“ (Stephanie Müller)

„Es geht […] darum, eine Art Reizstück oder einen Katalysator zu schaffen, …“

„… der die Menschen vor Ort reizt, sich mit uns zu unterhalten. Und ja, interessanterweise könnte man fast sagen, dass wenn man irgendwas da liegen hat, dann kommt man mit Menschen ins Gespräch.“ (Klaus Erika Dietl)

Als besonders wichtig für unsere Pop-up-Erzähllabore stellten sich kleine Interventionen spielerischen Charakters heraus, die zunächst einmal irritierten und auf diese Weise mit Konventionen zu brechen vermochten. Die tönenden Audiogeräte an den Fahrrädern, herumliegendes Werkzeug, um an seinem Fahrrad zu schrauben, oder eine alte, mechanische Nähmaschine im Wartehäuschen der Bushaltestelle veranlassten Passant:innen dazu, anzuhalten und – vielfach durchaus auch kritisch – im Sinne von „Was ist das denn?“ nachzufragen. Vor allem aber fungierten sie als eine Art „Eisbrecher“ (Stephanie Müller) und inspirierten die Menschen dazu, sich auszutauschen und selbst aktiv zu werden.

Die Audiogeräte wurden unter die Lupe genommen, auf ihre Funktion hin untersucht und dabei Geschichten angehört, um sie anschließend zu kommentieren, selbst etwas zu erzählen oder eine Tour zu unternehmen. Das Werkzeug wurde benutzt, um gemeinsam mit anderen Menschen sein:ihr Rad zu reparieren und im Tun voneinander zu lernen. Die Nähmaschine setzte Erinnerungen frei – an Omas Nähzimmer aus Kindheitstagen und den Geruch und die Haptik der alten Stoffe etwa, die sie in einer Truhe aufbewahrt und aus denen sie die schönsten Verkleidungen genäht hatte. Bald fanden sich auch anfängliche Skeptiker:innen im Wartehäuschen wieder – auf einer der dortigen Sitzgelegenheiten sitzend oder direkt an der Nähmaschine werkend.

Die Brücke hin zu Themen rund um Nachhaltigkeit ließ sich nicht immer schlagen, aber doch sehr oft. – Spätestens dann, wenn zum Beispiel eine ältere Frau einer Mutter, die über Überlastung klagte, anbot, gelegentlich auf ihre Kinder aufzupassen, wenn plötzlich Rezepte ausgetauscht wurden, in den örtlichen Kräutergarten eingeladen wurde, oder im Laufe der Zeit, die die Künstler:innen in Mattsee verweilten, vegetarisches Essen, Stoffreste oder getrocknete Kräuter vorbeigebracht wurden – die übrigens sogleich als Anlass genommen wurden, die Näh- in eine Teestube umzufunktionieren.

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Anzengruber, Katharina/Zobl, Elke (erscheint im November 2021): Zukunft mit Zukunft. Künstlerische Experimentierräume und kulturelle Nachhaltigkeit. In: Rauscher, Erwin/Sippl, Carmen (Hrsg.), Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Innsbruck, Wien: Studienverlag.

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Di Giulio, Antonietta/Defila, Rico (Hrsg.) (2018): Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer VS.

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Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/Selm, Hanna/Storksdieck, Martin/Sundermann, Anna (2021): SusTelling: Storytelling für Nachhaltigkeit. In: Fischer, Daniel/Fücker, Sonja/ Selm, Hanna/Sundermann, Anna (Hrsg.); Nachhaltigkeit erzählen. Durch Storytelling besser kommunizieren? S. 21–36. München: oekom.

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Gaztambide-Fernández, Rubén (2014): Warum die Künste nichts tun. Auf dem Weg zu einer neuen Vision für die kulturelle Produktion in der Bildung. In: Hamer, Gunhild  (Hrsg.): Wechselwirkungen. Kulturvermittlung und ihre Effekte, S. 51–86. München: Kopaed.

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Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript.

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Klaus, Elisabeth/Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita /Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 19–31. Bielefeld: transcript.

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Krämer, Georg (2018): Transformative Bildung: Zwischen Katastrophen-Pädagogik und Subjektorientierung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 12–15. Berlin: VENRO.

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Mörsch, Carmen (2016): Urteilen Sie selbst: Vom Öffnen und Schließen von Welten. In Kultur öffnet Welten. Online unter https://www.kiwit.org/kultur-oeffnet-welten/positionen/position_2944.html, abgerufen am 12.10.2021.

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Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.) (2010): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Meiner.

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Seitz, Klaus (2018): Globales Lernen als Transformative Bildung für eine zukunftsfähige Entwicklung. In: VENRO (Hrsg.): Globales Lernen: Wie transformativ ist es?. Impulse, Reflexionen, Beispiele, S. 7–11. Berlin: VENRO.

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Quartier Zukunft (Hrsg.) (2020): Dein Quartier und Du. Nachhaltigkeitsexperimente im Reallabor zu Nachbarschaften, Bienen, Naschbeeten, Kreativität und Konsum. Karlsruhe: Scientific Publishing.

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Welzer, Harald (2013): Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer.

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Zobl, Elke (2019): Kritische kulturelle Teilhabe. Theoretische Ansätze und aktuelle Fragen. In: Zobl, Elke/Klaus, Elisabeth/Moser, Anita/Baumgartinger, Persson Perry (Hrsg.): Kultur produzieren. Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, S. 47–60. Bielefeld: transcript.

Mörsch weist darauf hin, dass verschiedene Bewegungen an der Erweiterung des Kulturbegriffs beteiligt waren, wie „die europäischen Bewegungen der Arbeiterbildung, […], die sich gegen die ‚musische Bildung’ abgrenzende ‚kulturelle Bildung’ in der BRD, die lateinamerikanische Befreiungspädagogik oder die Widerstandsbewegungen der Dekolonisierung und der Indigenen“ (Mörsch 2016: o.S.).

Wir beziehen uns hier auf das aus dem angloamerikanischen Raum stammende Konzept der Cultural Citizenship, das zivilgesellschaftliche Ansprüche auf eine Mitgestaltung kultureller Bedeutungsproduktion betont (Klaus/Zobl 2019).

Reallabore bezeichnen „ein Forschungsformat, in dem transdisziplinär geforscht wird und gleichzeitig ein expliziter transformativer Anspruch verfolgt wird“ (Defila/Giulio 2018: 9). Es handelt sich dabei um hybride Gebilde (Projekte, Unternehmungen) an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft. Dementsprechend sind sie partizipativ auf die Beteiligung von Wissenschafter:innen und Akteur:innen aus der Praxis und Zivilgesellschaft angelegt und verfolgen eine dreifache Zielsetzung: die Produktion von Erkenntnissen und Wissen (Forschungsziele), das Anstoßen von Transformationsprozessen (Praxisziele) sowie ein Voneinander-Lernen und Vermitteln (Bildungsziele) (vgl. Defila/Giulio 2018: 11).

Im weiteren Textverlauf verwenden wir auch die Abkürzung Räume-Projekt zur Bezeichnung des Projektes Räume kultureller Demokratie.

Realexperimente sind der Kern von Reallaboren. In ihnen werden Innovationen erprobt und in Bezug auf ihre Übertragbarkeit auf andere Kontexte überprüft. Sie sind demnach stark selbstreflexiven Charakters und können temporär und/oder langfristig angelegt sein. Zentral ist es, in diese Realexperimente verschiedene Beteiligungsformate mit je unterschiedlicher Beteiligungsintensität zu integrieren.

Um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie Reallabore umgesetzt werden können, empfehlen wir die Website der Plattform Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit: https://www.reallabor-netzwerk.de.

Dem Geschichtenerzählen wird in Nachhaltigkeitskontexten – dann vielfach unter dem Begriff ‚Storytelling‘ gefasst – große Bedeutung beigemessen. Storytelling wird zum einen dazu herangezogen, „um ganz konkrete Lösungsansätze für komplexe und verzwickte (wicked) Nachhaltigkeitsherausforderungen zu entwickeln, [ist] zum anderen jedoch daran geknüpft, Menschen in eine Auseinandersetzung mit diesen komplexen Problemstellungen zu bringen und sie an der Ko-Produktion möglicher Lösungen zu beteiligen“ (Fischer et al. 2021: 22). Die Ziele, die damit einhergehen, sind demnach „bildend auf Rezipierende zu wirken (Bildungswirkung) und den Wandel im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern (Nachhaltigkeitswirkung)“ (Fischer et al. 2021: 27). Wenngleich dem Storytelling im hier beschriebenen (und den Diskurs um Storytelling und Nachhaltigkeit im Allgemeinen prägenden) Sinne also auch eine ‚aktivierende‘ Funktion zukommt, so steht doch die Wirkungsorientierung im Vordergrund – und damit einhergehend der Moment der ‚Übermittlung‘ im Sinne von: „Mit welchen erzählerischen Strategien kann der:die Erzähler:in bei den Rezipient:innen einen möglichst starken Effekt erzielen und sie dazu motivieren zu handeln?“. Wir versuchen im Räume-Projekt ein Stück weit den ‚umgekehrten‘ Weg zu gehen, also nicht Erzählstrategien zu nutzen, um komplexe Probleme verständlich aufzubereiten und die Menschen dazu zu bewegen, sich an deren Lösung zu beteiligen, sondern unmittelbar bei ihnen anzusetzen. Da dieser Zugang also nicht den – wenngleich auch sehr breit gefächerten – Konzepten von Storytelling entspricht, verwenden wir das deutsche Pendant „Geschichtenerzählen“.

Katharina Anzengruber, Elke Zobl ( 2021): Geschichten ‚mit Zukunft‘. Pop-Up-Erzähllabore als künstlerische Experimentierräume im Kontext von Klimawandel und Nachhaltigkeit . In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 12 , https://www.p-art-icipate.net/geschichten-mit-zukunft/