1998 greift Benoît Peeters auf Eisners Konzept zurück und entwickelt das Modell des „kompletten Autors“ (Peeters 1998: 110): (*17) Es hebt Comics, die von einem_r Autor_in verfasst worden sind, von jenen ab, welche unter anderem die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Szenarist_in und Zeichner_in charakterisiert. Die Vorstellung eines ‚kompletten Autors‘ bzw. einer ‚kompletten Autorin‘ untermauert ein holistisches Verständnis von Bild und Text im Comic, ein Verständnis also, in dem nicht ein vorrangiger Text ‚bebildert‘ wird oder vorrangige Bilder verbal ‚erklärt‘ werden. Peeters Verständnis eines_er ‚kompletten Autor_in‘ bedeutet, dass diese_r an seinen/ihren Comics in einem ganzheitlichen Prozess arbeitet; darin bedient er/sie sich verschiedener Ausdrucksmittel, die ineinander verschmelzen – Arbeit am Bild und Arbeit am Text ergänzen einander also kontinuierlich.
Mit der Figur des_r ‚kompletten Autors_in‘ wurde die Autor_innenfunktion im Feld der Comicproduktion merklich gestärkt. Folgt man Bart Beaty, bot dies den Künstler_innen einer ‚illegitimen‘ Kunstform durch den Rekurs auf ein ‚bourgeoises‘ auteur-Verständnis die Möglichkeit, ihre Position zu verbessern (vgl. Beaty 2007: 143). (*2) Auch Thierry Smolderen argumentiert, dass dieses neue Bild des ‚graphic novelist‘ versuche, das Konzept der respektablen ‚Aura‘ literarischer Autor_innen auch der Graphic Novel überzustülpen. Es sei folglich dem Klischee des Nerd-Comicautors entgegenzustellen, der, wie der typische (meist männliche) Comic-Leser, „asozial und schüchtern“ sei: Er habe die „Sexualität eines Akne-befallenen Jugendlichen“, lebe „in einem unreifen Verhältnis mit einer künstlichen Welt“ und führe dieses Leben in der Welt „der (oft künstlerisch minderwertigen) comic books“ weiter (Smolderen 2006: o.S.). (*18) Eisner favorisiert als Produktionsmodell von Graphic Novels eine Personalunion von Szenarist_in und Zeichner_in, die ihrerseits Smolderens Beschreibung von einer klischierten Vorstellung vom ‚typischen‘ Comicleser sowie -autor gegenübersteht. Diese Gegenüberstellung impliziert eine Aufwertung der Graphic Novel auch als wertbeständiges Kulturgut, schließlich distanziert der Begriff die Graphic Novel damit von Comics als ‚Wegwerfprodukt‘ und erhebt damit Anspruch auf einen Status als dauerhaftes Kulturgut.
Das neue gestärkte Autor_innenbewusstsein führte dazu, dass Autor_innen von Comics stärker mit ihrer künstlerischen Produktion in Verbindung gebracht werden. Damit findet Ähnliches statt wie im Bereich der Literaturproduktion: Wir identifizieren künstlerische Produkte stärker als traditionellerweise im Feld der Comics üblich mit ihren Urheber_innen. Diese Entwicklung ist ein weiterer Schritt (die Zuschreibung ‚Autorencomics‘ ist ja bereits eine Form der Distinktion) hin zu einer Differenzierung zwischen ‚high‘ und ‚low‘ insofern, als damit ein modernes Autor_innenbild gestärkt wird, das aus der Literaturproduktion bekannt ist.
Bettina Egger, Johanna Öttl ( 2017): Graphic Novel. Zur Popularisierung eines neuen Begriffs. Ein Wissenschaftslogbuch. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 08 , https://www.p-art-icipate.net/graphic-novel-zur-popularisierung-eines-neuen-begriffs/